man hat die >Arthurgeschichten< »Seins-Philosophie ins Narrative übersetzt« oder »virtuelle Legenden« genannt und eine nähe zum taoismus oder existentialismus darin entdeckt. manches erinnert auch an die paradoxen argumentationen der sophisten. ulrich bergmann selbst nennt seine texte ironisch »gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs«. kritische stimmen mißtrauten abwechselnd der leichtigkeit und dem geistvollen dieser prosaminiaturen. beides, symbiosen inbegriffen, gehört freilich zur eigenart der bergmannschen geschichten, in denen der autor seine erfahrungswelt gleichermaßen emotional freisetzt und intellektuell lenkt und auf die zutrifft, was friedrich rückert, gestorben 1866, über den persischen dichter hafis, gestorben 1390, schrieb: »Hafis, wo er scheinet Übersinnliches / Nur zu reden, redet über Sinnliches; / Oder redet er, wo über Sinnliches / Er zu reden scheint, nur Übersinnliches? / Sein Geheimnis ist unübersinnlich, / Denn sein Sinnliches ist übersinnlich.«
geistig wach und sinnlich genußvoll, aber genauso sinnlich wach und geistig genußvoll, läßt ulrich bergmann, der nach dem ganzen sucht und doch weiß, daß er es nur im einzelnen findet, seine sinneseindrücke durch seine gedanken, wie diese durch jene, hindurchgleiten und setzt sie aus sich heraus, damit sie dem leser lakonisch, heiter, ironisch, nachdenklich begegnen. indem er partikel aus seinem unbewußten herauslöst, inszeniert er ein bewußtseinstheater mit wechselnden masken, das ihm zur geistigen wohnung wird, und erschafft sich so selbst als kunstfigur.
die >Arthurgeschichten< enthalten eine philosophie der ewigen jugend, die auf permanenter (selbst)erneuerung beruht und worin die figuren sogar ihre abstraktionen sinnlich erfahren. akteure der texte sind arthur und die ich-gestalt, zwei intellektuell-artifizielle figuren, die, vorzugsweise an orten ihres lebensgenusses, in theatern, opernhäusern, galerien, museen, bars, cafés und restaurants, eine geistundtheaterwirklichkeit entfalten, worin sie ihre erfahrungen und einsichten in einer art diskursmanege miteinander austragen und reflektieren. dabei nimmt arthur meist die erzählende, offensive, herausfordernde und die ich-figur mehr die fragende, relativierende, beruhigende rolle ein. als gedankenpantomimen bedenken sie ambivalenzen und abgründe, die durchaus existentiell sein können, nicht schwermütig, skeptisch allerdings schon, sondern spielerisch. besonders die arthur-figur hat etwas von einem gaukler, bajazzo, marionettenspieler und akrobaten, doch auch charmeur und flaneur.
das theatralische ruft die motivwelt herbei und umgekehrt. zugleich berührt sich das spiel, das realitäten transzendiert und rituelle momente enthalten kann, auf individuelle weise mit kult, fest, überwirklichkeit. theater und spiele gingen aus dem kult hervor, der selbst heiliges spiel war. ebenso wurzelt das philosophische denken im mythischen. theater wie philosophie waren im prozeß der antike formen einer neuen subjektivität und relativierung gegenüber der unbedingtheit von mythos und kult. noch heute ist das theater magischer boden, und ort der kultivierung von gefühlen, auf der bühne wie im publikum, oder sollte es zumindest sein.
dem naturell ulrich bergmanns entsprechen die ewige jugend, die leichtigkeit und der spielerische gestaltwandel der griechischen götter, nicht die schwere und leidenstiefe des schicksals der heroen, die zum zorn neigen und deren geschichten meist zur tragödie tendieren. er will unsterblich sein, ohne heldenhaft werden zu müssen. platon hatte spiel genannt, was keinen nennenswerten nutzen oder schaden mit sich bringt. »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« postulierte schiller. johan huizinga schrieb in >Homo Ludens / Vom Ursprung der Kultur im Spiel<: »Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wurde gespielt. Sie entspringt nicht aus Spiel, wie eine lebende Frucht sich von ihrem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel.« für ulrich bergmann bedeutet spiel zuallererst freie und gelebte kreativität. indem er nach schönem und geistreichem leben sucht, entwickelt er zugleich eine spielerische lebensphilosophie und ein ästhetisches potential. dabei grenzt er sich vom leistungsethos der sportspiele ab, fühlt sich auch den zur konvention gewordenen kulturellen spielregeln der gesellschaft nicht ohne weiteres verpflichtet und fragt vielmehr, unbewußtem auf der spur, was mit ihm oder in ihm spielt. »Wir spielen mit uns, denkt Arthur, das Spiel ist so ernst, daß wir kaum spüren, wie wir uns verspielen.« heißts in >Verspielt<.
wenn der kreative spielcharakter einer kultur, der etwas potentiell subversives hat, und zwar auch, ja gerade, dort, wo er den akteuren selbst unbewußt bleibt, aufgegeben wird, besteht die gefahr der erstarrung kultureller lebensformen. die gesellschaftsverändernden wirkungen einer spielerischen kultur verlangen freilich geduld. umgekehrt kann das forcierte spiel mit attributen und ornamenten, wie die römische spätantike zeigt, auch den untergang einer kultur ankündigen.
zum homo ludens gehört das rituelle, darstellende, theatralische, tänzerische, wettstreitende, unterhaltende, unernste, scherzende, komische, parodistische. ausgangsbedeutung des deutschen worts spiel war tanzen, sich lebhaft bewegen. spielmann hieß der spaßmacher, gaukler, schauspieler, fahrende sänger, musikant. ein spielerischer, theatralischer, musikalischer und tänzerischer charakter, der erlebnisformen der realwelt verfremdet, ist auch für die >Arthurgeschichten< konstituierend, wobei das ästhetische wahrnehmen, inspiriert von energien der seele, schöne frauen und espressos häufig nahebei, bisweilen ins erotische und kulinarische übergeht und damit verschmilzt. spiel und erotik sind eng verwandt. man spricht von liebesspiel und minnespiel. altindisch hieß der liebesakt das juwel der spiele. lateinisch lūdus, das spiel, kinderspiel, zeitvertreib und öffentliches schauspiel bezeichnet, konnte zugleich das liebesspiel meinen, lūsor neben spieler und spötter den dichter tändelnder liebeslieder.
liebesfähigkeit ist ein zentraler anspruch ulrich bergmanns. seinen geschichten insgesamt liegt ein liebendes verhältnis zur wirklichkeit zugrunde. dem entspricht die verlebendigung des gegenständlichen, etwa wenn arthur in >Komische Elegie< im museum einer bevorzugten weiblichen plastik über den rücken streicht und dann glaubt, die andern plastiken seien eifersüchtig, so daß der weitere ausstellungsbesuch zu einem spießrutenlauf durch seine einbildung wird, der letztlich eine narzißtische vision ist, denn er möchte von allen geliebt werden. bei wiederholungszwängen der selbstliebe kann der narzißmus auch in autismus übergehn. zugleich schränkt wirkliche liebe den narzißmus ein und wird so zum kulturfaktor. die museumsepisode erinnert an pygmalion, der bei ovid ein abbild der idealen frau aus elfenbein schnitzt, sich in die statue verliebt, von der manche behaupten, sie sei das idol der aphrodite gewesen, bis die göttin bewirkt, daß die plastik lebendig und zu seiner frau wird. die spielerische distanz zum beschriebenen in den bergmannschen texten gleicht der bei ovid.
eine liebevolle beziehung hat der autor auch zur musik. und die beherrschung eines instruments heißt ebenfalls spiel. arthur und sein autor lieben das kultivierte und nicht das animalische spiel. sie brauchen weder das hasardspiel, also die spielhölle, noch das liebesspiel des bordells, weil sie selber über genügend sublimierte spielerotik verfügen, mit der sie sich ihren eigenen und ganz individuellen spielhimmel auf erden errichten und existentiellem druck autonom entgegnen können.
ulrich bergmann ist ein glücksgeborener. und damit meine ich nicht nur das äußerliche glück, sondern die seelische und psychische und, davon ausgehend, geistige und kulturelle prädisposition und begabung für glückswahrnehmungen, die ihn selbst noch die ironisierungen und parodien seiner eigenen glücksbezogenen größenphantasien als glück erleben läßt. gegen die auffassung, daß die verschmelzung von glück und kunst eine vormoderne vorstellung sei, setzt er seine modernisierungen des glücksempfindens. wenn er sein leben in seinen texten dialektisch paradox durch spiel, theater, phantasie erweitert, weiß er freilich, daß die ungedachten gedanken und die unrealisierten pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale text eigentlich liebesakt, geburt, sterbemoment, seelenwanderung, auferstehung und erleuchtung vereinen müßte.
in >O Fortuna< erkundet der autor die welt des jahrmarkts, auch dies eine sphäre des spiels, und läßt die ich-figur fragen, »welche Jahrmarktsensation sich als stärkste Weltmetapher in mir aufspielt.« in die engere wahl gezogen werden achterbahn, karussell und riesenrad und schließlich die losbude. der jahrmarkt besteht aus resten alter kultur. die geisterbahn assoziiert initiationshöhlen, in denen die kindheit durch ein inszeniertes grauen mit einem symbolischen tod überwunden wurde. im karussell reiten die kinder auf wilden tieren, von denen sie einst in freier wildbahn bedroht waren, wodurch sie sich als herrscherder natur empfinden können. das riesenrad erinnert ans weltenrad, das steckenpferd an reitwettbewerbe, die schultüte ans füllhorn, die eiswaffel an rituelle milchbutterundhoniggaben für kinder. das los folgt dem losorakel wie das würfeln dem würfelorakel. mit losen wie würfeln, die in der hand von priestern und orakelmeistern waren, ist einst über leben oder tod, frieden oder krieg entschieden worden. das ursprüngliche orakel von delphi war wohl ein losorakel, bei dem kleine schwarze oder weiße steine oder bohnen aus einer schale im becken des dreifußes genommen wurden, die jeweils ja oder nein bedeuteten. die verwandtschaft der worte rat und rätsel verweist noch auf den ernsten hintergrund.
die >Arthurgeschichten< beschreiben ein ich, das seine innere dialektik findet, indem es beständig sein gegen-ich inszeniert, bis dieses ihm als du erscheint, so daß sich beide, während die übergänge zwischen ihnen fließend werden, ineinander aufheben, wodurch das ich permanent im du erwacht und umgekehrt. »Mein Ich spielt mit seinem Gegen-Ich, und derart schizophren bringe ich mich wechselseitig um, Stück für Stück. Meine Lebenskunst ist ein permanenter Selbstmord zum Leben hin.« (>Le quattro stagioni<) lautet eine zentrale aussage dieser texte, die auch benennt, wie man entfremdung sublimieren kann, damit sie als kulturzustand auftritt und trennungsenergien in lebensenergien verwandelt. des autors, oder seines arthurs, ich, bzw. die ich/du- und du/ich- abspaltungen- und synthesen beider, brauchen, da sie sich selber zum altar machen, worauf sie, stets neue facetten ihrer selbst zeugend, beständig wandeln, kein dominantes über-ich.
das über-ich, das einst infantilität zu überwinden half, wurde später selbst infantil und mußte so ebenfalls überwunden werden. deshalb der abtritt der götter, kaiser, patriarchen. und die überwindung konnte einzig durch ein sublimiert gestärktes ich gelingen, das sich mit dem es der psychoanalyse, des surrealismus und der philosophie verbündete. auf die frage, ob daraus ein über-es entstehen könne, das erst diabolisch und später auch tyrannisch herrscht, erwidert ulrich bergmann, der sich gleichermaßen autonom gegenüber über-ich, es und außenwelt halten will: »Die interne Affirmation meines Ichs (Ich, Gott, bete mich an) ist die dialektische Voraussetzung seiner Aufhebung. Die Synthese ist nicht die Herrschaft eines Über-Es, sondern die Erhebung meines Unter-Ichs zu einem Ich der freien Mit-Ichs.« (>Arthur.Documental<). eine einseitig vernunftgelenkte herrschaft des ich hingegen, die dem es nicht genügend spielraum läßt, könnte kreative energien lähmen.
die >Arthurgeschichten< sind überwiegend erfundene anekdoten, die der ich-kult formiert. »Ich lebe eine unio mystica mit meinem alter ego, also mit der Welt in mir und außer mir … Das Fragment ist das Atom des Ganzen. Dabei ist mein spielendes Ich absolutistisch stark: Ich leite mich von mir selbst ab.« (>Arthur.Documental<). zugleich ironisiert der autor das egozentrische weltbild. denn die bergmannsche methode der spielerischen reflexion und des reflexiven spiels ermöglicht beides: befreiung aus den abhängigkeiten rotierender normen und normativer rotation und persiflage eines nur scheinbar freien daseins. hintergründig parodieren und travestieren manche texte, indem das eine ich das andere spiegelt, größenphantasien und eitelkeiten. so lassen sich verformungen des einen im andern erkennen und ausgleichen. und es entsteht ein entspanntes und nachsichtiges einverständnis mit dem wirklichen in gelebter widersprüchlichkeit.
ulrich bergmann durchlebt seine verkörperungen, um dauerhaft beim eignen ich zu bleiben. das nenne ich das rotationsprinzip seiner subjektivität: durch aufsplitterung und verwandlung ganz werden und sein. darsteller und betrachter, erzähler und erwiderer dieser geschichten sind teile, oder wenigstens repräsentanten, des autoren-ich, das sich in seinem eignen mikrokosmos erschafft. eben darin besteht wohl der tiefere sinn eines satzes wie »Ohne mich, denkt Arthur, läuft überhaupt kein Stück.« (>Göttliche Komödie<). in >Ego ergo sum< malt arthur den lieben gott an die wand und sagt sich: »Wenn ich stürbe, würdest du mir fehlen.« wenn bergmanns arthur als gottgleicher schauspieler absolut über den dingen stünde, mit denen man erfahrungsgemäß besser spielt als von ihnen bewegt zu werden, könnte er glauben, das weltganze hinge von ihm ab und müßte zusammenbrechen, sobald sein erleben versiegt. da arthurs bergmann aber im realleben steht, inszeniert er, material und zeuge seiner geschichten, seine größenphantasien bloß literarisch. das verlangen nach sublimer selbstheroisierung und heroischer selbstsublimierung scheint dennoch durch. »Und was ich nicht werden kann, spiele ich in meinen Figuren.« (>Arthur.Documental<). verwandlung, auferstehung und ewigkeit, alles merkmale des göttlichen, sind die traumziele dieser geschichten. man kann dies eine gelebte religiosität ohne religion nennen. und die größenphantasien erscheinen hier auch nicht zeitgeistgemäß technisch, geschwindigkeitsintensiv oder gewaltgeladen, wie in vielen produkten der kommerzkultur, sondern artifiziell sublimiert. das leben wird literarisch als kunst wie die profane kultur durch gesteigerte kultivierung aufgehoben.
die figuren können sich, indem sie spielerisch ihre identitäten ändern, vieles und vielem anverwandeln. »Je wandelbarer man war, um so mehr hatte man das Bedürfnis, die Göter zu wechseln, von einem zum anderen überzugehen, wobei man ganz sicher sein konnte, sie im Laufe eines Menschenlebens alle einmal zu lieben.« vermerkte cioran in >Die verfehlte Schöpfung<. in >Etikette< sagt arthur, daß er masken trägt, damit er freier sei, das heißt die energien der maske aneignen und sich darin unbefangen ausprobieren kann. ulrich bergmann entgrenzt und erweitert mit seinen literarischen masken seine person. in >Das Angebot der Nachfrage< bietet arthur sich, oder besser seiner gespeicherten stimme, die er auf einem anrufbeantworter hört, das du an.
die bergmannschen texte unterwandern und übersteigen den glauben an die unausweichlichkeit vorgefundener realitäten oder gar von schicksalskräften, die entweder/oder-prinzipien folgen. immer wieder zeigen sie, daß wirklichkeiten außerhalb der sichtbaren und gelebten realität existieren. »Ich ahne die gleichzeitige Existenz aller möglichen Welten.« sagt arthur in >Die Würfelfalle<. die fähigkeit, verschiedene wirklichkeiten wahrzunehmen und durch die geschichte hindurch zu blicken, stimuliert die gabe, jetztzeiten aufzubrechen. zugleich fördert das vermischende und relativierende prinzip toleranz, indem es einem glauben an die reinheit von ideen entgegenwirkt, der nicht selten dogmatisch auftritt. die differenz eröffnet möglichkeiten der sublimierung und baut nicht, wie oft im alltäglichen leben, verächtlichkeiten und feindschaften auf. dabei wird, während viele in der wirklichen welt ihre eignen vorurteile, die ihren momentanen egoistischen interessen dienen, als objektive wahrheiten ausgeben, die subjektivität der wahrnehmung nie geleugnet. wir sehen hier ein ausgesprochen versöhnendes und friedensförderndes konzept am werke, das allerdings eine gewisse saturiertheit verlangt. von deklassierten kann man dieses maß an toleranz nicht verlangen. »Das Recht des Verzweifelten, das Recht dessen, der keinen Ausweg, keine Ruhe, keine schmerzlose Stunde findet: er untergräbt die Bedingungen des Lebens.« konstatierte stanislaw przybyszewski in >Die Gnosis des Bösen<, »Das Sichfallenlassenkönnen in Aufschwungkräfte gehört zu den Erfahrungen der wenigsten; das Umzingeltsein von Verhältnissen, die den Horizont verstellen, zu denen der meisten.« peter sloterdijk in >Weltfremdheit<.
»In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft.« heißts bei walter benjamin (>Das Passagen-Werk<). solch blitzhaftes aufscheinen enthalten auch viele der bergmannschen geschichten. »Der dialektische Eskapismus ist eine weitere Voraussetzung, die eigene, und dann die Wir-Geschichte zu gestalten.« vermerkt ulrich bergmann (>Arthur.Documental<). dabei können die figuren aus sich heraustreten, neben sich stehen und sich beobachten. und ihre spielerisch und narzißtisch gesteigerte individualität führt nicht selten sogar zu einer verobjektivierung der selbstbetrachtung. allerdings ironisiert arthur seine pirouetten, um nicht darüber zu stürzen, meist selbst. in >Einbildung< verschafft ein espresso »inwendig mediterrane Sanguinität«.
ein wichtiges merkmal der >Arthurgeschichten< sind die fließenden übergänge zwischen ich und du, seelenraum und außenwelt, betrachter und darsteller, fiktion und wirklichkeit, visionärem und profanem, theorie und praxis, kultur und natur, kunst und leben, konkretem und abstraktem, nervenfasern und buchstaben, körper und kostüm, realität und legende, echtheit und täuschung, wahrheit und lüge, ursache und wirkung, frage und antwort, spiel und philosophie, tanz und geist, betroffensein und rollenspiel, genuß und leiden, sieg und niederlage, anziehung und abstoßung, annahme und abwehr, die das eine mit dem jeweils andern verbinden und vermischen, notfalls auch kompensieren, und womit der autor nicht nur die grenzen zwischen subjekt und objekt überschreitet und aufhebt, sondern auch jene im subjekt selbst, das sich so leichter von zwängen und verhärtungen freihält. die permanenten verschmelzungen, und damit aufhebungen, gerade auch von gegensätzen, wirken utopisch, universalistisch und postmodern zugleich, wobei die utopischen visionen freilich oft ironisch gebrochen sind.
wenn ulrich bergmann, dessen reflexives denken und schreiben seiner geistigen natur entspricht, mit dialektischen paaren spielt, deren antipoden er ineinander übergehen und umkippen läßt, führt er uns beispiele für die relativität der erkenntnis und des menschlichen wahrnehmens überhaupt vor. immer denkt er das mögliche, und manchmal auch unmögliche, die umkehrung und verwandlung des vorgefundenen und sichtbaren mit. jedwedes wird auch von seinem gegenteil her und als sein gegenteil betrachtet. gegensätze werden so ständig neu aufgehoben. die reflexion reflektiert sich selbst. zugleich enthält reflexivität oft etwas ironisches. und die ironisierung von identitäten gehört mit zur eigenen identität. die höchste ironie wäre das sich selbst reflektierende nichts.
je tiefer man sich denkend einen gegenstand aneignet, umso mehr verschwinden die klaren kausalitäten, die man an der oberfläche gefunden hat, und man entdeckt vielschichtige und sich teilweise überlagernde labyrinthische, spiralförmige und fächerartige formen sowie widersprüchliche, ambivalente, paradoxe und absurde inhalte, die ein relativierendes denken verlangen. lateinisch relātiō bedeutet neben beziehung und verhältnis rücksicht. »Jeder Schritt ein Irrtum, denke ich, aber jeder Irrtum ein Schritt in die richtige Richtung.« heißts es bei ulrich bergmann in >s.t<. die iren kennen das sprichwort »Wer glaubt etwas verstanden zu haben, ist falsch unterrichtet.« was wir nicht verstehen, fordert uns heraus. aufgeklärtes denken verlangt, daß jeder antwort die originellere neue frage folgt. der zustand zwischen frage und antwort ist der des eigentlichen seins. es gibt kein endprodukt der erkenntnis. alles erkennen bleibt momentaufnahme und jedes verständnis ist relativ. »Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie.« sagt nietzsches zarathustra. große geister sind meist skeptiker. und skepsis ist eine zivilisationsleistung, die stets neu erlernt werden muß. aufklärer kann nur sein, wer sich selbst infrage stellt. wer ohne fragen und zweifel, nicht zuletzt an sich selbst, lebt, mindert seine ideellen antriebe.
in >Göttliche Komödie< lesen wir den relativierenden satz: »Die Summe aller Stücke, die ich spiele, ergibt kein ganzes Stück«. damit sind partikularität und zerrissenheit des modernen menschen bezeichnet, die bis in seine fiktionen hineinreichen, weshalb auch die seelentheaterbühne keine umfassend bergende ganzheit einer gegenwelt zu sichern vermag. wer anhand dieser texte individuelle verwundungen erkunden wollte, könnte das virtuose spiel auch als abwehrstrategie gegenüber ängsten erkennen, die bedrängnisse, verborgen unter einem schleier der latenz, immer nur kurzzeitig erscheinen läßt. durch substitution lassen sich zudem ursehnsüchte, von deren erfüllung man sich eigentlich entfernt, stets neu anstreben und im schein fortgesetzt kultivieren. die spielerische umformung objektiv schwer lösbarer konflikte, die eine aufhebung derselben vortäuscht, stimuliert das lustempfinden.
es geht ulrich bergmann letztlich um das entwickeln und bewahren einer subjektiven und lebbaren identität durch alle widersprüche und hinterfragungen hindurch. das reflektierende ich ist gewissermaßen das auge des orkans, das bei allen transformationen stabil, gelassen, ruhig bleibt. derart kann der autor zugleich die verdinglichung der seele und des geistes und die seelenundgeisteswanderungen der dinge beschreiben. »Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist die, sie in unserm Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen (so tut der Sammler, so auch die Anekdote).« notierte walter benjamin (>Das Passagen-Werk<).
die moderne gesellschaft besteht aus tausenden partikularmythen, die sich vorzugsweise um geld, eigentum, recht und medien drehen. in >Selbstinventur< versucht arthur die schizophrenie zu überwinden, indem er in einem traum im kaufhaus seine eignen kleider, die ihm per werbung in seinem namen angeboten werden, obwohl, oder weil, er sie bereits trägt, nochmal erwirbt, um sich vom markt freizukaufen, der annahme folgend, man könne durch subjektiv praktizierte paradoxie unterwandern, was einen objektiv abhängig halte und manipuliere, bis diese subjektivität der handhabung, so die hoffnung, objektiv wirke. dies ist auch ein versuch, den handel in die sphäre des spiels zurückzuholen.
»Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten.« schrieb benjamin in >Charles Baudelaire / Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus<. »Es war das Unternehmen von Baudelaire, an der Ware die ihr eigentümliche Aura zur Erscheinung zu bringen. Er suchte die Ware auf heroische Weise zu humanisieren. Dieser Versuch hat sein Gegenstück in dem gleichzeitigen bürgerlichen, die Ware auf sentimentale Art zu vermenschlichen: der Ware, wie dem Menschen, ein Haus zu geben. Das versprach man sich damals von den Etuis, den Überzügen und Futteralen, mit denen der bürgerliche Hausrat der Zeit überzogen wurde.« das haus der bergmannschen waren ist das theater seiner geschichten.
der autor erspürt paradoxien selbst im rechtssystem, das vorgibt, besonders rational und logisch zu sein: »Ich habe mir eine Lebensversicherung aufschwatzen lassen, sagt Arthur. Dann kannst du leichter sterben, sage ich. Nein, sagt Arthur, ich lebe leichter. Wieso, sage ich, ist dein Leben nun sicherer geworden? Nein, sagt Arthur, mein Tod. Da machst du aber kein gutes Geschäft, sage ich. Im Gegenteil, sagt Arthur, je früher ich sterbe, um so größer der Gewinn.« (>Todsicheres Leben<).
heute ersetzt vielfach der intellekt den geist, das denken das empfinden, die psychologie die seele, das wissen das nachdenken, die simulation die sinnlichkeit, die geschwindigkeit die tiefe, die verwertung die schöpfung, der zweck die idee, die kopie das original, die person das werk, die maskerade die identität. alldas erklärt verflachungen zumindest teilweise. noch gefährlicher, und langfristiger wirksam, als die ersetzungen und abdrängungen sind jedoch die permanenten vermischungen und vertauschungen, die das jeweils eine wie das andere erscheinen lassen.
im realen leben kompensiert oft konventionelle privatheit mangelnde individualität und stellt dann bloß noch die farce des gesellschaftlich nicht möglichen dar, genauso wie die individuelle meinung meist nichts weiter ist als der grad ihrer abweichung vom zeitgeist und auch die gesten und worte des (lebens)theaters häufig nur dinge sind, die gehandelt werden. durch zerstreuung kann der moderne mensch pragmatisch mit ambivalenzen umgehn, beugt so seelischem schmerz vor und spürt die zersplitterungen der eigenen person sowie die kluften zwischen individuellen ambitionen und sozialen zwängen weniger. das resultat können seelisch amputierte menschen sein, die ihren zynismus für erwachsensein halten.
alles ästhetische sollte auch eine utopische dimension enthalten, wenn es substanz entwickeln und nicht bloß ornamental bleiben will. kunst eröffnet das unendliche, das wir endlich fassen. sie ist stets auch geburt oder wiedergeburt von außerkünstlerisch noch nicht oder nicht mehr lebbaren daseinsformen. weniger direkt den zwängen wirklichen lebens unterworfen, kann sie werte stimulieren, die real unausgebildet, verschüttet, vernachlässigt, deformiert und unterdrückt sind, derart immer wieder neu uneingelöste substanz freilegen und freisetzen und, im günstigen fall, manchmal künftiges vorwegnehmen. freie kreativität bewahrt so die aussicht auf einen ideell reicheren menschen, wenngleich vom rande der gesellschaft her. oder schützen utopien, in die zukunft projizierte mythen, am ende einzig ihre schöpfer selbst vorm beschleunigten werteverfall, der vielleicht gerade nottäte, damit wirklich neues beginnen könnte? welche therapeutischen wirkungen können literarische texte, über die selbsttherapie der autoren hinaus, noch entfalten? verfällt unabgegoltenes tatsächlich keinen sektierern, wenn wir es kreativ aufheben? oder vertreibt kunst allenfalls unsere eigenen dämonen, die verwundete seelen gebären? clemens brentano schrieb kurz vor seinem tod, die phantasie, die ihn geboren habe, hätte ihn später aufgefressen.
wo permanent künstlerische techniken für profane zwecke benutzt werden, um dem oberflächlich effektvollen zu dienen, verschwinden die künste im öffentlichen raum hinter verkunstungen. viele künstler fragen sich, wem ihr künstlerisches mühen nutzt, wenn der kommerz vorzugsweise ästhetisch und theatralisch siegt, indem er, mittels tausenderlei facetten, im schönen schein und vom schönen zynismus leben läßt, während substantielle kunst in diesem zeitalter des siegs der verwerter über die schöpfer strukturell entwertet wird. und die machtzentren umso unumschränkter walten, je mehr rotation, der konventionen, sie erzeugen und umgibt. und die menschen individualität und egoismus, persönlich und privat, effekt und substanz, markt und wert, perfekt und gerecht kaum unterscheiden oder gar verwechseln. und daher desto zweifelsfreier manipuliert, mithin zeitgeistgemäß vereinnahmt, werden können, je intensiver man sie animiert, also aktiv setzt. und ein kulinarischer lebensstil entsteht, der ich-marionetten erzeugt, die ihre welt als büffet betrachten, herausgreifen, was sie gerade zu brauchen glauben, es genauso schnell wieder liegenlassen oder wegwerfen, sobald ihr begehren versiegt, und am ende andere menschen ebenso behandeln. die dämonen der zukunft, die viele sublimierungen zerstören dürften, sind in den verwerfungen der gegenwart schon geboren. welche einflußsphären bleiben da der kunst, die künstlerische literatur inbegriffen, innerhalb oder gegenüber einer kommunikationslandschaft, in der öffentlichkeit vielfach entweder zum selbstzweck geworden ist oder uneingestandenen interessen dient? immerhin hat der künstler das privileg, daß er die fähigkeit zu muße, konzentration und vertiefung bewahren kann, während die technokratiegelenkten beschleunigungen zunehmend opfer zurücklassen, die am abgeforderten tempo scheitern, verzweifeln und zerbrechen. was erst wird die gesellschaftliche notbremse anrichten?
die oft anekdotischen und parabelhaften bergmannschen geschichten, in denen sich stilmittel der anekdoten und kalendergeschichten von bertolt brecht und johann peter hebel, aus kafkas allegorischer prosa und dialogformen des absurden theaters, punktuell auch der komödiantischen texte eines aristophanes oder lukian, der >Erzählungen der Chassidim< martin bubers oder der funkessays arno schmidts, finden lassen, das heißt von spielarten der literatur, die auf jeweils eigene weise das dialektische und/oder paradoxe/absurde ins zentrum rücken, suchen durch ihre dialogangebote geradezu den diskurs mit dem leser. und sie enthalten, da sie normen, konventionen, gebote und tabus aushebeln, und zwar, weil spielerisch, operativ und behutsam zugleich, ohne verbitterungen und verbissenheiten, eine dialektik des paradoxen erprobenswerten und erprobenswerten paradoxen. der autor beschreibt seine figuren, in denen realerfahrung und kunstvision, kunsterfahrung und realvision ineinander übergehn, als akteure eines laboratoriums, das in seinem denkimpulse stiftenden charakter übers rein literarische hinausweist. sie spielen durch, also erkunden, inwieweit künstlerische und geistige techniken lebensreal anwendbar sein könnten, oder wo sie an objektive grenzen stoßen oder gar zynisch wirken, etwa indem sie von funktionalität vereinnahmt werden und zuletzt erneut bloß die erkenntnis bleibt, daß auch der schein, der kultiviert, nur die vorwegnahme des todes im leben ist. »Die stärksten Gedanken werden schwach, wenn sie mit der Mode gehen.« heißts in >Narrenmode<. bilder decken wirklichkeiten, bis sie zu kadavern werden.
indem die texte von ulrich bergmann permanente auferstehungen ins leben beschreiben, umfassen sie auch den tod utopisch. seine todesphilosophie ist eine lebensphilosophie und der tod darin eine sphäre des übergangs. der gegensatz von leben und tod wird aufgehoben und der tod zu einem teilhaber am leben, ja selbst lebendig. in >Salto saltado< lesen wir: »Der Tod ist ein Künstler … weil er weiter denkt als wir, sagt Arthur. Der Tod kennt keine Grenze, keine Regel, keine Zeit.« paul virilio erklärte, »daß alle Kunst wie der Tod ist, ein Verharren im Augenblick, ein Tempowechsel in der Ordnung der gelebten Zeit.« (>Krieg und Kino / Logistik der Wahrnehmung<). wenn der autor das leben nach dem tod mitdenkt, überwindet er die todesangst spielerisch und ironisch. der tod ist eine größenphantasie, solang man ihn nicht selbst erlebt. letztlich muß das spiel, das leben heißt, freilich überfordern, weil man es verliert. ulrich bergmann, der luftschlösser auf erden und gräber im himmel kennt, glaubt nicht wirklich an ein jenseits. aber er spielt mit seinen todesahnungen wie mit seinen tröstungen. theater inszeniert den tod der wirklichkeit. unter anderem deshalb hat die katholische kirche solch eine theatralische begabung.
nichts hat die menschliche phantasie so angeregt wie das unsichtbar gewordene tote und das noch nicht geborene oder nicht lebbare leben. todesreiche waren die ursprünglichen phantasiereiche. in >Tinnitus< begegnet arthur der eigenen menschenvogelartig auferstandenen seele. die sirenen, die im ägyptischen ba-vogel wurzeln, der verkörperung des frei beweglichen und aktiven teils der totenseele, waren griechisch zunächst totengeister, ehe sie verführerinnen und später schöpferinnen der sphärenmusik wurden. der gesang der seelenvögel läßt sich so auch als sehnsuchtsgesang nach dem leben deuten. auf solche mythisch grundierten motivfelder unterm scheinbar leichten vordergrund stößt man bei ulrich bergmann immer wieder. arthur tanzt in seiner gegenwart durch die jahrtausende.
1981 schrieb ulrich bergmann in einem atemberaubenden postulat: »Die Idee der permanenten Revolution gründet auf Nietzsches Gedanken von der ruhelosen schöpferischen Tätigkeit, die das Leid des Seins überwinden will und in nie endendem Handeln in Verzückung verwandelt. So bereits in der „Geburt der Tragödie“ und später im „Zarathustra“: Umwertung und schaffender Wille. Das ist der Erlösungs-Gedanke Nietzsches angesichts einer nihilistisch begreifbaren Welt. // Der sozialistische Revolutionsbegriff verlagert den schaffenden Willen vom aristokratischen Ich auf die Gemeinschaft aller, wofür Nietzsche eine Grundidee gibt: Das heroische Ich geht in der Ekstase unter und verliert sich im Willen, der Neues schafft: Das Apollinische im Dienst des Dionysischen. Der permanent Revolutionierende ist ein dionysisch Handelnder, der die Erscheinung der Welt flieht und zum Ur-Einen, zum wahren Sein, zurückkehren will. // Ideologie ist apollinisches Stimulans für die bessere Welt. Ersehntes Sein wird postuliert. Im Dionysischen wird sie geschaffen, muss sie immer wieder geschaffen werden. Die sozialistische Religion, göttlicher Wachsboden in uns, wird nur Wirklichkeit im steten Handeln, also im Neuschaffen von Werten. Hier treffen sich wesensgleich wirklich praktiziertes Urchristentum, ursprünglicher Kommunismus und Nietzsches Übermenschen-Evengelium als Erlösungsangebote in verschiedenen Akzentuierungen. Der Versuch die Fesseln der irdischen Gebundenheit zu sprengen und utopisches Glück im Diesseits zu realisieren, jenseits von Gut und Böse, ist die Lust an der Macht, neue Werte zu schaffen, wie spielende Kinder.« heraklit hatte die weltbildende kraft mit einem kind verglichen, das spielend steine hin und her setzt und sandhaufen errichtet und wieder zerstört.
ulrich bergmann stellt bis heute fragen, die weit in die zukunft hinein gedacht sind und deren antworten er wenigstens in anklängen schon gegenwärtig erfahren will, inbegriffen die frage, wie man desillusionierungen immer wieder ins inspirierend utopische und kreative aufheben kann. damit weckt er, in einer zeit, wo immer noch die vorgeschichte und der vor-mensch über die menschheit herrschen, sehnsucht nach einem anderen zustand der welt. wenn er schreibt »Ich will die absolute Herrschaft des Ich, die eine intersubjektive Vernunftherrschaft des Einzelnen über sich selbst ermöglicht. Erst solche Ichs, die eine Herrschaft des Über-Ich nicht benötigen, erlangen die Freiheit, eine mündiger lebbare Außenwelt zu erschaffen.« (>Arthur.Documental<), so formuliert er einen weitgreifenden anspruch, der einige fragen aufwirft: müßte eine absolute herrschaft des ich, die das über-ich, statt es zu integrieren, abdrängt, nicht zumindest bei jenen menschen, die sich permanent einer unübersichtlichen welt und kräften, die sie nicht selber beeinflussen können, gegenübersehen, verschärfte orientierungslosigkeit und infolge dessen patriarchale und zwanghafte sehnsüchte hervorrufen? kann die geistig und ästhetisch hedonistische lebensart, der die >Arthurgeschichten< entsprechen, tatsächlich umfassend befreien? oder muß nicht auch diese utopie, als eine bloß andere quadratur des kreises, am egoismus der meisten scheitern? und wer hilft jenen, die vorm eintreten der ich-freiheit am elend der verhältnisse zugrundegehn? oder sind die bergmannschen postulate, indem darin lediglich ein narzißtisches ich seine weltsicht ins utopische transzendiert, gar nicht gesellschaftsbezogen gemeint? dann wäre zu fragen, ob sich das postulierte derart nicht selbst aufhebt und auf seinen urheber zurückfällt.
oder trifft hier zu, was gilles deleuze und felix guattari in >Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie< schrieben: »Das Unbewußte hört auf, das zu sein, was es ist: Fabrik, Werkstatt, und wird an deren Stelle Theater, Bild, Inzenierung.«? das theatralische agieren und wahrnehmen ginge so leicht ins affirmative über und man müßte sich erst einmal darüber klar werden, was es eigentlich behauptet, beteuert und befestigt und wofür es bürgt. in gustave flauberts >Bouvard und Pécuchet<, auch so ein vorläufer des absurden theaters wie manches von aristophanes und lukian, haben beide figuren immer wieder hoffnung, obwohl ihnen praktisch nichts gelingt. eben darin besteht ihre lebenskunst.
»Je anonymer und funktioneller die Macht wird, um so mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert.« schrieb michel foucault. die verkunstung der wirklichkeit ergänzt die vertechnokratisierung der gesellschaftlichen mechanismen, ja der lebensformen. wer einen ethnologischen blick auf die gegenwart wirft, kann sehen, daß die funktionale gesellschaft zugleich eine theatralische ist, in der menschen wie schauspieler agieren, dabei, wenigstens zeitweilig und vorgeblich, eins mit ihren rollen und masken werden, die sie je nach gelegenheit wechseln, und begeisterung, freundlichkeit, empörung oder betroffensein spielen, wo dies erwartungen erfüllt. selbst der zweifel wurde längst postmodern eingebunden, der annahme folgend, man könne sich allem anpassen, weil man skeptisch sei, wobei er indifferent wird und alternatives denken und handeln eher lähmt als befördert. solche verhaltensweisen entsprechen einer kulturellen und sozialen wirklichkeit, in der menschen, durch massenmedien infantil gehalten, immer mehr von kurzfristigen befriedigungswünschen gesteuert werden, bis sie davon ähnlich abhängig sind wie einst vom patriarchal prägenden über-ich, wodurch lebensfreude auf dauer zum machtinstrument der herrschenden technokratie verflachen kann und die ich-bildung nur anders, das heißt scheinbar freiwilliger und deshalb unmerklicher, behindert ist und permanent scheinidentitäten entstehen.
die moderne gesellschaft produziert gezielt entfremdungen, die fluchtbewegungen auslösen und so dynamik erzeugen. indem entfremdung kultiviert wird, erscheint sie täuschend als natur des menschen. eines der erstaunlichsten, und zugleich gefährlichsten, merkmale der westlichen gesellschaft, oder einer ihrer raffiniertesten tricks, ist es, daß sie die entfremdung konsequent kultiviert, ja zur lebenskultur gemacht hat, die vielfach, je nachdem, kunstvoll oder künstlich, spielerisch befreiend oder zynisch, die übergänge sind fließend, jedenfalls als theater, fassade, maskerade, kolportage, auch in koketterie und ironie, auftritt und worin der einzelne, der nischen, inseln im getriebe, oder film, der abläuft, besetzt, bildet und darstellt, nicht selten kaum mehr weiß, ob er oder was eigentlich in ihm sieht, spricht und handelt. hinter den attributen der attribute lauern die facetten der facetten und die attribute der facetten und die facetten der attribute. und so unendlich? oder doch bloß bis zu einem ende? die pirouetten drehen sich ebenso wenig endlos aufwärts wie ein zirkushund ewig tanzt.
die spielerisch gewonnene innere freiheit wirft immer erneut fragen nach der uneingelösten gesellschaftlichen auf. »Ich kann trotz der sanft utopischen Intention, die meinen Arthurgeschichten innewohnt, nicht verhindern, daß sie zugleich zutiefst pessimistisch gedacht werden können (die Arthurgeschichten sind Arthur Schopenhauer heimlich gewidmet); weil sie beides sind: Utopie als Trotz- und Trostgrund, also Religion, und Spiel mit dem Tod aus tiefer Resignation; also der Versuch, mitten auf der Flucht die Laufrichtung zu ändern … Mein höchster Wunsch ist Selbsterschaffung als Gegenbewegung zur Welt, wie sie mir widerfährt und mich verwundet.« (>Arthur.Documental<).
daß die >Arthurgeschichten< utopische ansätze und impulse enthalten, die nur individuell und nicht gesamtgesellschaftlich lebbar sind, verweist auf einen widerspruch, der mit dem universalistischen anspruch der texte kollidiert. vielleicht könnte man sagen, die grenzen in den wahrnehmungen der bergmannschen figuren, die lebensreal im überbau leben, seien die grenzen im gegenwärtigen bürgerlichen bewußtsein, das privilegierten verhältnissen entspreche und damit einer menschheitsminderheitenerfahrung. pierre bourdieu verwies auf die neigung immanuel kants, »das Universelle mit der Welt des kultivierten Menschen gleichzusetzen.«
das bürgerliche europäische denken hat gewiß einen universalistischen ansatz, der aber nur begrenzt wirklich eingelöst wird, und schon gar nicht in einer an den interessen der gesamten menschheit orientierten gesellschaftlichen praxis. es ist ein grundirrtum westlicher intellektueller, daß sie ihre eigenen lebensformen für welterfahrungen halten und daraus, nicht zuletzt weil ihnen ihre privilegien als ausdruck moralischer überlegenheit erscheinen, daseinsmodelle entwickeln, die der mehrheit der erdbewohner unrealistisch erscheinen müssen. »Es ist offensichtlich, daß die Bourgeoisie eine universalistische Ideologie ausgearbeitet hat, die entweder von Gott oder von der Natur oder zuletzt von der Wissenschaft verbürgt wird, und daß all diese Alibis als Verkleidungen, als den Zeichen auferlegte Masken funktionieren.« schrieb roland barthes (>Die Körnung der Stimme<). indem die globale marktwirtschaft permanent soziales unrecht produziert, gegen das die bürgerlichen sublimierungen den meisten menschen weltweit wenig helfen, gefährden sich die westlichen kulturen letztlich selbst. wer armut billigt, muß sich über gewalt, die daraus entsteht, nicht wundern. oder bildet die kulinarische lebensweise gar bloß ein kontrastprogramm zum weltekel? jedes privilegiertsein tendiert, subjektiv oder objektiv, bewußt oder unbewußt bleibend, zum zynismus, der zumindest dort auch wieder militant werden kann, wo der kultivierten moral die privilegien genommen werden.
natürlich wissen arthur und sein schöpfer, wie sehr sich ihre lebensentwürfe von den interessen des jeweiligen zeitgeistes und der lebensweise der massen unterscheiden. und der autor übersieht auch nicht, daß die ökonomischen strukturen, die der westlichen welt reichtum und letztlich auch kultur bringen, in anderen teilen der welt entsetzliches elend hervorrufen, also barbarisch wirken. die grenzen zwischen kultur und barbarei sind immer fließend. jede kultur hat ihre barbarei und jede barbarei ihre kultur. er spürt, daß jene kräfte, die sozialabbau verursachen, ebenso kulturelle und geistige werte an ränder abdrängen. zugleich weiß er um die sublimierungen innerhalb der bürgerlichen gesellschaft, die er nicht aufgeben möchte. schließlich müssen bürgertum und kapitalismus nicht identisch sein.
soziales unrecht, also negative differenzierung, kulturfeindlichkeit, bildungsverachtung, naturzerstörung sowie diskriminierung von minderheiten und fremden haben oft ähnliche ursachen. wir bräuchten also zugleich eine ökologie der natur, der kultur, der bildung und des sozialen. wenn nun aber das bürgertum, das vor allem durch sein finanzsystem herrscht, nicht imstande ist, weltweit für sozial erträgliche verhältnisse zu sorgen, und offenkundig fehlt der wille dazu, so müssen andere soziale, politische oder religiöse klassen, schichten und gruppen diese aufgabe übernehmen. und da wir wissen, daß einmal alle herrschaftsschichten stürzen, nicht selten zusammen mit ihren leistungen und leistungsträgern, stellt sich die frage, wer dem bürgertum nachfolgen soll.
wer sich mit der rationalität der geschichte abfindet, ist ihrer irrationalität ausgeliefert. sachzwänge bleiben die zu stürzenden gottheiten der gegenwart. »Die Konstruktionen der Geschichte sind Instruktionen«, in einer andern fassung der gleichen textstelle steht »militärischen Ordres«, »vergleichbar, die das wahre Leben kommandieren und kasernieren. Dagegen der Straßenaufstand der Anekdote. Die Anekdote rückt uns die Dinge räumlich heran, läßt sie in unser Leben treten.« schrieb walter benjamin (>Das Passagen-Werk<). die entscheidende frage ist hier wohl, ob man aus den zwängen der geschichte nur heraustritt, die illusion eines lebens in geschichtslosen räumen erfaßt immer wieder menschengruppen, ja völker und kulturen, oder sie wirklich verändert.
gesucht wird im grunde der moment, in dem die sublimierung explosionen auslöst. zugleich bewahren spiel und ironie vor einer radikalität, die verletzen und zerstören könnte. »Soll ich mein kleines Glück dem Interesse einer sozialen Revolution opfern, die mein Glück aufhebt?« fragte ulrich bergmann in einem brief. er verbindet, während revolutionäre ihre lebensfreude in todesmut verwandeln, das utopisch ideelle und das real gelebte, ohne beide unbedingt zusammenzuzwingen. der utopismus seiner geschichten tritt derart gewandt auf, daß er, indem er sich selbst auszuweichen vermag, scharfe konfrontationen vermeidet. »Meine Idee würde das Leben erschlagen, wenn ich sie verwirkliche … Andererseits ist die Wirklichkeit, wie ich sie erlebe, ohne meine Idee tot.« »Dem Philosophen der Tat liegt die eigentliche Tat vielleicht am wenigsten: Rigoros und tiefsinnig über die Tat zu sprechen, kommt der Erklärung gleich, man wolle nicht handeln.« meinte maurice merleau-ponty in >Lob der Philosophie<. bleibt der lebenssinn, den wir uns geben, vielleicht überhaupt bloß eine idee? von außen und oben betrachtet sieht das menschliche leben tatsächlich wie ein marionettentheater aus, das festgelegten regeln folgt und worin dennoch jeder auch seine eignen fäden zieht. wer indes zuviel durchschaut, ist oft bereits tot.
ulrich bergmann, der die konflikte zwischen denken und handeln, lebensfreude und systemkritik kennt, vertraut sublimierenden transformationen, die das real gegebene durch kultivierung und vertiefung wandeln, und sucht die potentiale dafür in der wirklichkeit. seine anekdoten sind weniger straßenaufstand als vielmehr versöhnlich, großzügig, weitherzig, integrierend, selbst wenn dies nur einer entschleunigung des eigenen scheiterns dient. zuletzt folgt jedes denken, das nicht hinreichend reflexiv ist und gegensätze nicht vermittelt, doch wieder bloß abstrakten automatismen und scharfe grenzziehungen stimulieren gewalt. freilich verhüllen auch ästhetisierung und psychologisierung vielfach nur ihre eignen zwänge. künftiges utopisches und revolutionäres denken und handeln wird die paradoxien sublimieren müssen, von denen es lebt und die ihm sprengkraft geben. allein daß die texte solche fragen, die sonst eher selten gestellt werden, aufwerfen, ist ein verdienst.
anhand der >Arthurgeschichten< läßt sich über zusammenhänge zwischen dialektik und paradoxie, kultivierung und heiterkeit, spiel und infantilität, raffinesse und schizophrenie nachdenken. das paradoxe darin ist ausdruck einer spannung, die gelöst sein will. der künstler, der durch seine kunst in einem traumspiel lebt, das ihn heilt, verfremdet und vertieft paradoxe erfahrungswelten weiter, wo manche analytiker sie auflösen. die texte sind auch selbsttherapie und selbstprophylaxe, die zugleich das seelisch und fiktiv gelebte in die außenwelt hineinwirken lassen sollen. »Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile.« postulierte ulrich bergmann per brief, das heißt ursprung, energiespender, material, medium und ritual der kreativität. indem der autor seine negationen immer wieder aufhebt, kann er unablässig damit spielen und selbst die permanenten virtuellen tode ins leben zurückverwandeln, also sein eigenes perpetuum mobile sein. so gesehen können wir gar nicht genug paradoxes schöpfen. eine unreflektiert lebensreal inszenierte paradoxe phantasie allerdings wäre letztlich wohl barbarisch. humanität verlangt immer auch mäßigung, mithin inkonsequenz. jedes, und zumal spielerische, distanzieren, verfremden, ästhetisieren trägt elemente des zynischen in sich. bliebe das leben nicht hinter der kreativen konsequenz der kunst zurück, die straßen wären gepflastert mit knochen. man muß wirklich genau schauen, ob man die profanen folgen, die kunst und literatur haben könnten, wenn sie welche hätten, wünschen soll. die realität steht dem wesentlichen meist entgegen. glücklicherweise, sonst wär die welt noch barbarischer. zudem sollte gerade paradoxes denken, wie alles, das auch auf entfremdung zurückgeht, differenzieren und vermitteln, nicht trennen und polarisieren. ein gedanke, der sich nicht selber widersprechen kann, ist am ende nicht sehr originell.
2004, überarbeitet 2012
***
Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann, Pop Verlag, Ludwigsburg, 2005
Weiterführend →
Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.