Abendstunde
Auf meine Art ist nicht der einzige neue Titel des 1919 in Mühlhausen im Kraichgau geborenen Hans Bender. Meine Gedanken schweifen ein paar Monate zurück zum 11. Dezember 2011. Hans Bender, Hans Georg Schwark und ich sitzen bei grünem Tee und Spekulatius und arbeiten den Bücherturm ab, den Bender auch heute, wie bei jedem Besuch, neben sich hochgezogen hat, um von Buch zu Buch mit mir zu flanieren. Vier Gedichtbücher von Christian Saalberg, Hans Leberts Ausgewählte Gedichte sowie Arnold Stadlers New York machen wir das nächste Mal machen den Anfang, naturgemäß reden wir – zwischendurch und querbeet – als Fußballfans über den 1. FC Köln und die TSG 1899 Hoffenheim – Ein Fußballwunder hat / unser Kraichgau-Club erzielt: / Man fragt mich sogar in Köln: / »Wie hat Hoffenheim gespielt«, als Opernliebhaber über Don Giovanni und Salome, kommen, wie bei fast jedem Besuch, auf die romanischen Kirchen zu sprechen: »vielleicht das Schönste, was das große, heilge Köln / mit seinem großen Dome (Heinrich Heine) zu bieten hat«, sagt Bender, und wir lachen, old men that we are, aktuelle Sorgen über Gesundheit weg: gut geht’s heute niemand (Elfriede Gerstl · biowetterkarte), hinterfragen Gott und den blauen Planeten, streifen beim Blick auf Bilder durch die Welt der Malerei, betrachten gemeinsam das im Eßzimmer hängende Gemälde von Bernard Schulze, der Benders vielleicht schönstes Buch Glücklich die Stunden mit farbformprächtigen Arbeiten auf Papier bereichert – »usw.«
Auf dem Umschlag des nächsten Buchs, das Bender mir, wie nebenbei, in die Hand drückt, lese ich: HANS BENDER · O Abendstunde · Ausgewählte Gedichte · Nachwort von Arnold Stadler. – Wie oft habe ich in den letzten 10 Jahren, in diesem Sessel sitzend, Bender aufgefordert, doch wenigstens einen schmalen Band mit ausgewählten Gedichten zu machen, damit Menschen von der Quelle trinken können, die 1951 mit Fremde soll vorüber sein zu sprudeln begann und bis heute nicht versiegt ist. Stets hat Bender abgewinkt, und nun sind doch – dank der Initiative von Hans Georg Schwark und Arnold Stadler – ausgewählte Gedichte im Verlag Ulrich Keicher als handfadengeheftete Broschur mit 39 Gedichten erschienen. Ich schlage irgendeine Seite auf und lese:
Im Alter Schön, einen Preis hat man mir verliehen. Viel schöner wäre, wieder verliebt zu sein.Später, gegen 19 Uhr, im rammelvollen Zug Richtung Eifel sitzend, öffne ich das Buch unverzüglich nach der Abfahrt – und diesmal auf der ersten Seite. Die kleine Reise in der Abendstunde beginnt mit der Ankunft in Waldersbach, führt über den Wiesenweg durch heißen Mohn, nachdem Der junge Soldat begraben, in Mein Dorf, den Schwetzinger Garten, Im D-Zug durch Südbaden, Nördlich Bremen, durch Nebel, Jahrmarkt und Tabakfeld zu den Engeln in Florenz, schließlich über Marokko und New Mexico zurück nach Köln, hier mit Drei Strophen Rainer Brambachs gedenkend, dort – die Überraschung für mich – die Erinnerung an einen Beatnik, ein für Bendersche Verhältnisse weit über die Ufer tretendes Gedicht, das Gregory Corso porträtiert: O bomb I love you.
Anhänglich
Am 1. Juli 2012 vollendet Hans Bender das 93. Lebensjahr. In die mechanische Schreibmaschine (Anhänglich // Noch immer tippe ich / auf meiner Olympia Monica. / Auch sonst bin ich / anhänglicher als andere) ist ein Blatt eingespannt, ich sehe Wörter, Verse, Streichungen. Weitere Vierzeiler, komprimierte poetisierte Selbstvergewisserungen, sind, klar, im Entstehen begriffen, immer wieder handeln sie (grundsätzlich offen nach allen Seiten), naturgemäß, auf luftige Weise, durch ironisierende Reime schalkhaft schwingend, von Alter und Tod:
Vergleich So ist Altsein, so steil, so zäh, so klamm. Als zöge man seinen Schlitten nicht durch Schnee, sondern Schlamm.Gemeinsam suchen wir ein Verb, das die Bewegung einer bestimmten Kugel trifft, die im Mittelpunkt eines kommenden Vierzeilers steht. Hin und her gehen die Vorschläge, ein Volltreffer ist noch nicht darunter – auch und gerade beim Schreiben gilt: Alles braucht seine Zeit.
Zwei Tage nach dem Besuch ruft Bender an: Der Vierzeiler stehe, und mit der Hand habe er, da die Schreibmaschine hake, einen dreiseitigen Brief an Werner Bucher geschrieben, der um eine Bekundung zur Lyrik Christian Saalbergs (den wir beide gleichermaßen schätzen) gebeten habe. Jürgen Egyptien habe mehrere Exemplare von Hans Leberts Gedichtbändchen geschickt (er werde gleich eins für mich in einen Umschlag stecken – und das Donnern aus den Wolkenbäumen murrt in unser blutdurchsummtes Ohr), Walter Hinck sein Buch Jahrgang 1922. Autobiographische Skizzen, und er erwarte nun täglich den Frühjahrsprospekt von Hanser mit der Ankündigung des Buches. Er fragt, ob ich Gedichte von Susanne Eules kenne, was ich bejahe, hortus legibilitis heißt das von mir gelesene Bändchen, und Ende März erscheint im Hamburger fixpoetry.Verlag ůbern růckn des atlantiks den rand des nachmittags (das ich mir schnell besorgen werde).
Bender wünscht mir eine gute Zeit und sich, mich bald wieder in der Taubengasse zu begrüßen, es gebe so viel zu besprechen. Es ist 17 Uhr 30. Der Essay Vom Hölzchen aufs Stöckchen · Auf meine Art an Hans Bender denken ist montiert. Ob das letzte Wort schon geschrieben ist, das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. 17 Uhr 45. Ich wähle Axel Kutschs Nummer. Brauche jetzt ein lyrisches Schwätzchen. Er hebt ab. Ruft gleich zurück. Wenn’s nicht allzu spät wird (nach Koch – Schlafmangel, schönes Wort – und Decker: Hörst du es nicht zischen?), will ich, ein bißchen noch, Bärwinkel lesen, der mich mit diesen Versen lockt: Bei Rolltreppen / fällt mir die Brinkmanns ein. (Aber man weiß ja nie.) So geht es weiter, immer weiter: Good night unto you all.
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Hans Bender, Auf meine Art. Gedichte in vier Zeilen, 104 Seiten, Klappenbroschur, Edition Akzente, Hanser Verlag, München 2012.
Hans Bender ∙ O Abendstunde. Ausgewählte Gedichte, mit einem Nachwort von Arnold Stadler, 40 Seiten, handfadengebundene Broschur, Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2011.
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Hans Bender · Einzeltitel
Am Ufer sitzen. Aufzeichnungen. Hauzenberg 2006. Auf meine Art. Gedichte in vier Zeilen. München 2012. Aufzeichnungen einiger Tage. Berlin 1971. Aufzeichnungen, Erzählungen und Gedichte. Darmstadt 1999. Briefe und Dokumente. [Briefwechsel] Rose Ausländer – Hans Bender 1958–1995. Aachen 2009. Bruderherz. Erzählungen. München 1987. Das wiegende Haus. Erzählungen. Stuttgart 1961. Der Brotholer. Erzählung. Hamburg 1957. Der Hund von Torcello. 32 Geschichten. Frankfurt/M. 1969 / Aachen 2007. Die halbe Sonne. Geschichten und Reisebilder. Baden-Baden 1968. Die Hostie. Vier Stories. Frankfurt am Main 1953. Die Orte, die Stunden. Aufzeichnungen. Hauzenberg 1992. Die Wölfe kommen zurück. Sieben Kurzgeschichten. Hamburg 1965. Drei Geschichten. Weilheim 1989. Eine Sache wie die Liebe. Roman. Hamburg 1954 / München 1959, überarbeitete Fassung: Frankfurt am Main 1991 / Aachen 2008. Einer von ihnen. Aufzeichnungen einiger Tage. München 1979. Fondue oder Der Freitisch. Kurzgeschichte. Basel 1961. Fremde soll vorüber sein. Gedichte. Augsburg 1951. Gedichte und Prosa. Karlsruhe 1990. Geschichten aus dem Kraichgau. Erzählungen. Heidelberg 1995. Hans Bender / Rainer Brambach: Briefe 1955 – 1983. Frankfurt a. M. 1997. Hans Bender / Elias Canetti: Briefe. in: Sinn und Form 2/2000. Hier bleiben wir. 11 Gedichte. Köln 1992. Ich schreibe kurz. Aufzeichnungen 1994/95. Köln 1995. Konturen und Akzente des Literaturbetriebs. Briefwechsel Hans Bender und Walter Höllerer 1953–1954. Sulzbach-Rosenberg 2009. Lyrische Biographie. Gedichte. Wuppertal 1957. Nachmittag, Ende September. Vierzeiler. Köln 2000. Wunschkost. Roman. München 1959 und Aachen 2004. Jene Trauben des Zeuxis. Aufzeichnungen. Aachen 2002. Mit dem Postschiff. 24 Geschichten. München 1962. O Abendstunde. Ausgewählte Gedichte. Warmbronn 2011. Postkarten aus Rom. Aufzeichnungen. München und Wien 1989. Programm und Prosa der jungen deutschen Schriftsteller. Mainz 1967. Ritus der Wiederkehr. Vierzeiler. Berlin 2006. Schwarz auf weiß. Vierzeiler. Warmbronn 1998. Verweilen, gehen. Gedichte in vier Zeilen. Aachen 2003. Wie die Linien meiner Hand. Aufzeichnungen. München 1999. Wie es kommen wird. Meine Vierzeiler. München 2009. Wölfe und Tauben. Erzählungen. München 1957. Worte, Bilder, Menschen. Geschichten, Roman, Berichte, Aufsätze. München 1969.Hans Bender · Herausgabe (Auswahl)
Akzente. Zeitschrift für Literatur. München 1954 – 1980. Deutsche Erzähler 1920 – 1960. Stuttgart 1985. Deutsche Gedichte 1930 – 1960. Stuttgart 1983. Geschichten aus dem 2. Weltkrieg. München und Zürich 1983. In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart. München 1978. Jahresring. Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst der Gegenwart. Stuttgart 1962 – 1989. Junge Lyrik. Eine Auslese. München 1956 – 1960. Konturen. Blätter für junge Dichtung. Frankfurt am Main 1952 – 1953. Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten. Heidelberg 1955 und München 1961. Spiele ohne Ende. Erzählungen aus 100 Jahren. Frankfurt am Main 1986. Was sind das für Zeiten. Deutschsprachige Gedichte der achtziger Jahre. München und Wien 1988. Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945. Darmstadt 1961 und München 1962.* * *
Post Scriptum Hans Bender im Gespräch mit Wolfgang Bittner (2009)Zu meinen besten Freunden unter den Literaten gehörten Hans Erich Nossack und Ernst Kreuder. Gerade an diese beiden, die älter waren als ich, denke ich jetzt oft. Sie waren so pessimistisch und haben vor allem die Literatur, die nach ihnen kam, so ungerecht und böse beurteilt. Ich habe sie immer zurechtgewiesen, obwohl ich etwas jünger war, und ich habe mir vorgenommen, so nicht zu sein, sondern immer noch daran interessiert zu bleiben, wie es mit der Literatur weitergeht – auch wenn ich nicht alles mehr verstehe. Aber die Literatur geht wirklich weiter. Ich habe den Eindruck, dass es mehr Gedichtbände gibt als zu meiner Zeit, auch mehr Romane, und die Bücher werden von den Verlagen wunderschön ausgestattet. Ich widerspreche dem Pessimismus. Ich glaube an den Fortgang der Literatur.
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Traian Pop (Hg.)
Matrix 29. Jeder auf seine Art für Hans Bender
Zeitschrift für Literatur und Kunst
Pop Verlag · Ludwigsburg 2012
196 Seiten · 10,00 Euro
Lesen Sie hier den ersten Teil des Essays. Und dort Teil 2.
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.