„Der Begriff deutsche Literatur aus Rumänien oder die Wortschöpfung ‚rumäniendeutsche’ Literatur impliziert eine doppelte Zugehörigkeit: einerseits zum deutschen Sprachraum und der deutschen Literatur, und andererseits zu einem geographischen Raum, der die besondere Entwicklung und auch Eigenständigkeit dieser Literatur geprägt hat.“ (S. 10) Olivia Spiridon geht in ihrer fundierten, wohl abgewogenen Einleitung von drei methodischen Ansätzen bei der Festlegung einer sog. Minderheitenliteratur aus. Sie verweist mit dem Blick auf die innovative Rolle der Prager deutschen Literatur auf das kreative Potential der sog. kleinen Literaturen, in denen der intensive Umgang mit „sprachlicher Armut“ durch dessen intensives „Vibrieren-Lassen“ des „ausgetrockneten Wortschatzes“ oft ein unerwartetes sprachliches und stilistisches Potenzial hervorgebracht werde. Solche Identitätskonstruktionen in einem Inselgebiet wie der deutschen Sprache in Südosteuropa und seit 1918 in Rumänien äußerten sich in einer hohen Priorität, die durch die besondere Sprachpflege entstanden sei. Dieser Prozess schlage sich „oft in stilistisch elaborierten Texten nieder.“ (S. 8) Um diesen Jahrhunderte andauernden Vorgang zu umreißen, gibt Spiridon einen kurzen Überblick über die sozio-politische Einbettung der regionalen Dialekte, die von den deutschsprachigen Siedlern seit dem 13. Jahrhundert (Siebenbürgen) und dem frühen 18. Jahrhundert (Banat) benutzt wurden. In einem dritten Schritt beschreibt sie den literarischen Kontext nach dem Zweiten Weltkrieg, indem sie zunächst vier Perioden unterscheidet, in denen die deutsche Umgangsprache unter unterschiedlichen repressiven Bedingungen existierte und die Literatursprache sich unter dem Druck der doktrinären Staatsideologie des Marxismus-Leninismus behaupten musste. 1945-1953 als Phase der Stalinisierung, 1953 bis Anfang der 1960er Jahre als kleine Liberalisierung, die 1960er Jahre als partielle Renaissance des bürgerlichen Realismus und als Beginn einer komplexen Experimentalisierung und die 1970er Jahre schließlich als eine Phase, in der sich der Einfluss westeuropäischer literarischer Strömungen wie auch die Verarbeitung neomarxistischer Ideen unter anderem auch in der Textproduktion der „Aktionsgruppe Banat“ niederschlug. Die Zurücknahme der kulturellen Liberalisierung durch das kommunistische Regime seit Mitte der 1970er Jahre, der sich verstärkende Einfluss der deutschsprachigen Minderheitenliteratur auf die rumänische Literatur, spätestens ausgelöst durch die Anthologie „Mäßiger bis starker Wind“ (1982, Hg. Peter Motzan) und die seit Mitte der 1980er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland einsetzende Anerkennung einzelner Prosawerke schufen auch die Voraussetzung für ein stärkeres Selbstbewusstsein der Autoren und forcierten die Autonomisierung des Kulturbetriebs im Banat, in Bukarest und in Siebenbürgen. Die Ergebnisse schlugen sich in zahlreichen Prosabänden nieder, die Olivia Spiridon eingehend kommentiert. Der trotz Publikationsverboten und eines ausgeklügelten Zensursystems sich dynamisierende Prozess fand aufgrund der freiwilligen Ausreise und der Zwangs-Emigration zahlreicher Autoren Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ein vorläufiges Ende.
Dass dieser Kulturverdrängungsprozess parallel zur systematischen Unterwanderung und Bespitzelung einzelner Personen durch die Staatssicherheit ablief, gehört zu den schlimmen Begleiterscheinungen, unter denen die so innovative rumäniendeutsche Literatur noch über zwanzig Jahre nach dem Umbruch leidet. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, bedauerlicherweise in dieser Anthologie nicht vertreten. Ihre Ablehnung, so Spiridon, „wird im Zusammenhang mit der von älteren Konflikten zerfurchten literarischen Szene der Rumäniendeutschen besser verständlich. Sie ist aber auch im Kontext der aktuellen Auseinandersetzungen der deutschen Schriftsteller aus Rumänien zum Thema Schuld oder Mitschuld an der erlebten Repression zu verorten.“ (S. 33) Darüber hinaus fühle sie sich weder zur Banater Dorfgemeinschaft noch der konservativen deutschen Minderheit zugehörig, auch in ihrer Wahlheimat Berlin sei sie eine Fremde in einer entfremdeten Welt.
Der Herausgeberin dieser lobenswerten Anthologie ist dafür zu danken, dass sie sich kritisch und distanziert zu den skurrilen Mechanismen des überwachten Kulturbetriebs äußert, indem sie deren Aufklärung der Totalitarismusforschung überlässt und sich bemüht, die literarischen Qualitäten ihrer ausgewählten Texte in den Mittelpunkt zustellen. Deshalb legt sie auch ihre Auswahlkriterien offen: Repräsentativität der Autoren für die verschiedenen Entwicklungsphasen, thematische wie auch formal-stilistische Vielfalt wie auch der literarische Wert, keine Texte aus dem Kanon des sozialistischen Literaturverständnis, keine Erinnerungsbücher, Memoiren oder Werke aus der oral history. Diese klare Regelung findet auch in der angestrebten Rezeption ihrer mühevoll zusammengestellten Anthologie ihren Niederschlag. Sie möge einen substantiellen Beitrag zur Vermittlung von „überkreuzten Geschichten“ leisten, in denen alternative Geschichtsdeutungen zum Tragen kommen und „die Erkenntnis der Gültigkeit mehrerer Wirklichkeitsversionen“ sich abzeichne. Außerdem soll die Lektüre der meist in Auszügen abgedruckten Texte von 25 Autoren und einer (!) Autorin „zur Herausbildung eines Gespürs für Fremdheit, Differenz und Anderssein“, also zum interkulturellen Lernen, beitragen.
Bei der Umsetzung ihrer Präsentation bedient sie sich eines gängigen Verfahrens in literarischen Anthologien: ein biobibliografischer Vorspann mit dem Passbild des jeweiligen Autors und einem längeren Textauszug aus dem jeweils ausgewählten Werkt. Sicherlich ist dies ein abgesichertes Verfahren, die Phalanx der männlichen Vertreter der Minderheitenliteratur alphabetisch vorzustellen. Eine alternative Präsentation nach Generationen oder Sujets hätte das ohnehin aufwendige editorische Unternehmen überfordert.
Auf diese Weise wird ein Leser mit ganz unterschiedlichen Thematiken, Sujets und narrativen Verfahren konfrontiert. Mit einem Symbol beladenen Tiermärchen stellt sich Wolf von Aichelburg (1912-1994) vor; Hans Bergel (1925) erzählt von einer düsteren Gefängnisepisode aus seinem Roman „Tanz in Ketten“; Andreas Birkner (1911-1998) verwandelt physische Hässlichkeit in moralisch begründete Schönheit; Ingmar Brantsch (1940) berichtet von den Qualen einer Integration; der bereits in der Vorkriegszeit erfolgreich publizierende Oskar Walter Cisek (1897-1966) entführt seine Leser in „Vor den Toren“ in die dörfliche Welt Rumäniens; der durch seine Montagetechnik überzeugende Arnold Hauser (1929-1988) ist mit drei Erzählungen vertreten; Franz Heinz (1929), Literaturwissenschaftler und Prosaist wie auch Franz Hodjak (1944) widmen sich den komplexen interkulturellen Thematiken, indem sie ihre Protagonisten von Rumänien nach Deutschland auf die Reise schicken; Johann Lippet (1951), der vor allem die Dorfwelt im Banat in seinen Romanen und Poemen thematisiert, ist mit der ethnologisch verdichteten Erzählung „Der Totengräber“ vertreten, Gerhard Ortinau (1953) schafft in „Notdichter 1937“ dramaturgisch verdichtete Erzählsituationen; Carmen Elisabeth Puchianu (1956), Literaturwissenschaftlerin, Erzählerin und Lyrikerin beschreibt in ihrem Text „Die Falle“ aus einer auktorialer Position die vermutete Durchsuchung einer Pfarrerei; Georg Scherg (1917-2002), im berüchtigten Kronstädter Schriftsteller-Prozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, ist mit einem Auszug aus seinem Roman „Paraskiv, Paraskiv“ (1976) vertreten; Eginald Schlattner (1933), manipulierter Zeuge der Anklage in diesem Prozess, seit seinem ersten Roman „Der geköpfte Hahn“ ein erfolgreicher Romancier, bezeugt in „Das Klavier im Nebel“ die Rechtswillkür im Nachkriegs-Rumänien; der 1934 in Schäßburg geborene Dieter Schlesak, seit 1969 in Deutschland und Italien lebend, reflektiert in dem Fragment aus „Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens“ in der Form einer collagierten Erinnerung seine dem Erzähler entfremdete Heimat; Paul Schuster (1930-2004), engagierter Förderer der jungen Literatur, seit 1972 in West-Berlin wirkend, brilliert in dem Fragment aus seinem Roman „Huftritt“ mit einem Wechsel aus historisch-distanzierten und umgangssprachlichen Erzählweisen; Richard Wagner (1952), aus dessen umfangreichen Werk die Herausgeberin vier experimentell aufgeladene Kurzgeschichten aus den frühen 80er Jahren ausgewählt hat, zeichnet sich durch seine ironisch gebrochenen und sarkastisch angereicherten plots aus; Balthasar Waitz’ (1950) Dorfgeschichten aus den 1980er Jahren schaffen aufgrund des trockenen, schwarzen Humors der Protagonisten eine distanzierte Haltung gegenüber deren Herkunft. Auch die drei Erzähler Ludwig Schwarz (1925-1981), Walter Gottfried Seidner (1938) und Franz Storch (1927) erweisen sich als eigenwillige Zeugen einer literarischen Landschaft, in der auch der regionale Dialekt, wie bei Schwarz in dessen „De Kaule-Baschtl“, zu einem erzählerischen Kunstwerk geriert, dessen Mundart „wie ein Schutzschild gegen mögliche Eingriffe der Zensur“ (Spiridon) wirkte. Den alphabetischen Abschluss der Anthologie bilden Erwin Wittstock (1899-1962) und dessen Sohn Joachim Wittstock (1938), die beide ein umfangreiches erzählerisches Werk aufweisen, in dem der sprachliche Wandel der soziokulturellen Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen besonders auffällig ist.
Mit der auch ins Rumänische übersetzten Anthologie, in der das engagierte, atmosphärisch ausformulierte Vorwort von Romulus Rusan der Vielstimmigkeit der ausgewählten Texte ein gewisses Leitmotiv verleiht, hat Olivia Spiridon eine Ouvertüre für eine noch zu schreibende, umfassende Geschichte der sog. rumäniendeutschen Literatur des 20. Jahrhunderts geschaffen. Ihr Auftakt, mit einer einfühlsamen Einleitung und in einer – sicherlich noch nicht vollständig – kanonisierten Auswahl, in der möglicherweise noch weibliche Stimmen fehlen, sollte der bislang nur eingeschränkten Rezeption einer „Migrantenliteratur“ neue Impulse verleihen. Das collagierte Deckblatt der Hard-cover-Ausgabe, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen entstanden ist, signalisiert bereits diesen Wunsch: Es ist ein Auge, das inmitten einer Umbruchlandschaft, keineswegs in eine abgeschlossene literarisch gestaltete Landschaft schaut! Sondern vielmehr Aufbruch verheißt!
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Deutsche Erzähler aus Rumänien nach 1945. Eine Prosa-Anthologie. Textauswahl, Einleitung und biobibliographische Angaben von OLIVIA SPIRIDON. Mit einem Vorwort von ROMULUS RUSAN. Bukarest (Curtea Veche Publishing) 2012