Endlich mal ein Nobelpreisträger, zu dem KUNO auf Anhieb etwas einfällt: Rotes Kornfeld (chinesisch 红高粱 Hóng Gāoliang, wörtlich: »Rote Hirse«), das erste Regiewerk von Zhang Yimou, mit der göttlichen Gong Li in der Hauptrolle.
Auch das meinungsbildende Feuilleton meldet sich umgehend zu Wort:
Bernhard Bartsch beschreibt in der FR die unterschiedlichen Reaktionen in China auf den Nobelpreis für Mo Yan. Die Staatsmedien sind erfreut, Verleger Lu ist verhalten (Auf meiner Liste habe ich noch mindestens sieben Autoren, die ich besser finde, nur ist von denen fast nichts übersetzt), Regimekritiker wie Dai Qing sind entsetzt. Mo Yan tut man mit einer derartigen Diskussion womöglich unrecht, meint Bartsch über den Schriftsteller, der 1955 in einem Bauerndorf geboren wurde. Zwar hat er sich nie auf die Seite der Dissidenten gestellt, doch mit Propaganda hat seine Literatur nichts zu tun. … Wegen der Kulturrevolution brach Mo nach der fünften Klasse die Schule ab und arbeitete in einer örtlichen Fabrik. Abends hörte er den Geschichten der Bauern von Gaomi zu. ›In unserer Gegend gab es großartige Erzähler, die die wildesten Anekdoten zum Besten geben konnten›, so Mo Yan. ›Das war schon früh mein Traum: wie diese Bauern endlos Geschichten erzählen zu können.‹
Das scheint er tatsächlich zu können, liest man, was Sabine Vogel über die Bücher Mo Yans zu sagen hat: Mo Yan ist keiner der hierzulande so beliebten Regimegegner, aber ein Opportunist ist er auch nicht gerade. Dazu sind seine Werke viel zu deutlich auf der Seite der Geknechteten und Entrechteten. Sie sind Chinesen, arme Bauern und Landarbeiter zumeist, aber ihr Leid ist so universell wie die Tyrannei der Mächtigen. Es sind Menschen, die schuldhaft sind, gemein, niederträchtig, geil, versoffen, grobschlächtig, ungebildet, närrisch, und in ihrem Überlebenswillen unschlagbar komisch über ihren Tod durch Ersäuft- oder Abgestochenwerden hinaus.
Johnny Erling resümiert in der WELT die Reaktion in China auf den Literaturnobelpreis für Mo Yan: Die Regierung, die den Nobelpreis für Gao Xingjian und Liu Xiaobo nie akzeptiert hat, scheint erfreut. Der Künstler Ai Weiwei reagierte kritisch: Er sagte der Welt: ›Ich akzeptiere das politische Verhalten von Mo Yan in der Realität nicht. Er ist möglicherweise ein guter Schriftsteller. Aber er ist kein Intellektueller, der die heutige chinesische Zeit vertreten kann. Moderne Intellektuelle haben eine tiefgehende Beziehung zur aktuellen Realität unseres Landes. Einen Nobelpreis an jemanden zu geben, der von der Realität abgehoben lebt, ist eine rückständige und unsensible Verfahrensweise. Dennoch gratuliere ich ihm dazu.‹
Der Mann der Mitte und der Dissident, sie gehören zusammen, so kommentiert Dirk Knipphals in der taz die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Dissidenten Liao Yiwu und die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an den chinesischen Schriftsteller Mo Yan, der seine Sujets jenseits der direkten politischen Auseinandersetzungen wählt. Letzteres künde vor allem davon, dass die Akademie an einen Raum über oder jenseits aller kultureller oder politischer Grenzen glaubt, in dem die Autoren in ihren Büchern frei über die Lebenserfahrungen der Menschen in ihren jeweiligen Zeiten und Gesellschaften schreiben können.
Auf den vorderen Seiten der taz porträtiert Susanne Messmer den Preisträger und seine realistischen, manchmal magischen und märchenhaften Dorfromane, die deftig und derb seien. Im Gespräch bezeichnet die deutsche Sinologin und Literaturwissenschaftlerin Eva Müller Mo Yan als den seit den achtziger Jahren bedeutendsten Erzähler Chinas. Felix Lee hat die unterschiedlichen Reaktionen im Internet gesichtet, wo Blogger unter anderem kritisieren, dass niemand den Nobelpreis erhalten solle, der Mao Tse-Tung lobt.
Ludger Lütkehaus bietet in der NZZ einen Abriss über das Werk des frischgebackenen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan, das er als vielschichtig und nicht nur im politischen Sinn schwierig zu verorten beschreibt.
Eine politische Entscheidung kann Tim Neshitov im Literaturnobelpreis für Mo Yan in der SZ nicht erkennen: Vielmehr zeigt sich ihm in der Auszeichnung eines chinesischen Autors, der vom Regime offen durch Übersetzungsförderungen gestützt wird, dass die schwedischen Jurymitglieder der Ansicht sind, dass Weltliteratur auch in einer vor sich hin mutierenden Autokratie entstehen kann. Zudem weiß Neshitov: Epische Beschreibungen des chinesischen Volksleidens stellen eine literarische Aufarbeitung von Chinas jüngster Geschichte dar, die ja politisch kaum aufgearbeitet wird. Deswegen erfüllen Mo Yans Werke, unabhängig von ihrer literarischen Qualität, eine gesellschaftliche Funktion.
Mark Siemons fragt sich in der FAZ, was von der Vergabe des Literaturnobelpreis an Mo Yan zu halten ist, der sich den Grenzsetzungen des chinesischen Regimes als Schriftsteller immerhin offen beugt. Dennoch sei es aber verfehlt, ihn für einen Staatsschriftsteller zu halten. Vielmehr hat er eine kaleidoskopische Art des Schreibens erfunden, an deren Vielstimmigkeit, Komik, Archaik, oft auch Obszönität jede Zensur irrewerden muss. Mo Yans Literatur ist kein harmloser Kompromiss mit Funktionärsvorstellungen, sondern ein äußerst kraftvoller Zugriff auf eine elementare Geschichte unterhalb des auf Ideen und Dogmen ausgerichteten Radars der Staatsorthodoxie.