Novalis hat die Braunkohlenflöze vermessen,
an deren Rand Hilbig die Pferde stürzen sah.
Jan Kuhlbrodt
Er ist seltsam anwesend und abwesend zugleich,
schreibt Jens-Fietje Dwars im Nachwort des von ihm herausgegebenen Bands 10 der Edition ornamente über André Schinkel und stellt dem deutschen Literaturbetrieb kein gutes Zeugnis aus: Anders als Hilbigs Abwesenheit in der DDR ist die seine keiner Ideologie geschuldet. Die Zensur des Marktes arbeitet sublimer, doch nicht weniger effektiv.
Nicht jeder großer Name ist ein großer Künstler und nicht jeder große Künstler ist ein großer Name.
Parlando ist die Komposition von Texten aus zwanzig Jahren, der Band umfasst Gedichte, lyrische Prosa und Essays. Was bisweilen zum Kolonialwarenladen werden kann, findet in Parlando zum stimmigen Gesamtgefüge; nicht unwesentlich tragen die Holzstiche von Karl-Georg Hirsch und das feine Layout hierzu bei. So ist es bereits ein sinnliches Vergnügen, das Buch in die Hand zu nehmen. Für jeden Leser, der bisher kein Buch von Schinkel gelesen hat ist Parlando ein Glücksfall, der ideale Einstieg.
Letztlich geht’s in der Lyrik nur um ganz wenige Dinge – die klassischen Themen: Liebe, Tod, Verfall, Sexualität, Sehnsucht nach Sexualität, natürlich, das sind ganz wichtige Dinge, da die Lyrik auch ein ganz sinnlicher Vorgang ist, und natürlich ganz fein eingesprenkelt und eingestreut auch Glücksmomente. Aber das Glück ist eigentlich keine Sache, die im Gedicht verhandelt werden muss. Wenn man glücklich ist, soll man Bier trinken gehen oder sich mit Freunden treffen. (André Schinkel)
Feststecken zwischen den tradierten Dingen
Das Bindestrichland Sachsen-Anhalt bietet einen guten Boden für Kultur, dies hat sowohl historische wie auch aktuelle Gründe: Als Teil von Mitteldeutschland ist es altes Kulturland, und die Kultur lugt im Luther-Rückzugsraum überall um die Ecke. Der aktuelle Grund ist, dass Sachsen-Anhalt ein guter Boden für kulturelle Regungen geblieben ist, gerade für neue Literatur. Das hat damit zu tun, daß sich dieses Land in einem Zwiespalt befindet zwischen Versinken und Aufbruch. Dieses Feststecken zwischen den tradierten Dingen, die lange eine geringere Rolle gespielt haben und nun langsam wieder ans Licht kommen, dieses Wegbrechen vieler Dinge und das Sehen neuer Möglichkeiten, die man aber erst einmal für dieses Land nutzbar machen muss, ist sowohl für Holger Benkel als auch für Andre Schinkel reivzoll.
Bei den Autoren, die in Sachsen-Anhalt leben, und aus deren Lebenssituation etwas in die Texte einfließt, gibt es natürlich auch den direkten Bezug auf konkrete Orte im Land. Halle spielt zunehmend eine Rolle direkt in den Texten der Autoren; das hat damit zu tun, dass man sehr wohl erkennt, dass diese Stadt ein Literaturort ist, sowohl in der Geschichte wie auch in der Gegenwart. Diese Texte nehmen sehr stark auf die Stimmung, die in der Stadt herrscht, Bezug, diesem Bruch zwischen mentalem Wegsinken, Wegrutschen der Stadt und der Neu-Besinnung auf Kultur, Bildung; Hoffnung auf wirtschaftliche Wieder-Belebung.
Die poetische Magie eines Landstrichs
Versinken und Aufbrechen sind wesentliche Motive in Schinkels Texten. In Parlando wird einem Ort der Geister nachgespürt, der Ahnen, der aufflackernden Urgeschichte. Landschaftsbilder gehören zu den literarischen Topoi mit einer denkbar breiten Tradition, nicht nur in der deutschsprachigen Lyrik, und sie dienen nicht zuletzt dazu, Unterschiedliches in Beziehung zu setzen, oft im Dienst eines größeren philosophischen oder ästhetischen Entwurfs. Dem gegenüber ist der hohe Grad an Innerlichkeit und Selbstreflexivität – im präzisen Wortsinne als Spiegelung, die seine Gedicht ausmachen, darin liegt die poetische Magie eines Landstrichs, in dem man, für seinen Wohlstand an Geschichte und Kultur nicht immer Zeit hat.
Mit der Literatur habe ich es mir nicht leicht gemacht, obwohl der Urgrund meiner Poetik denkbar einfach ist: Ich schreibe, um mich meiner Anwesenheit zu versichern. Das ist das Leichteste, meint man – in meiner Situation ist es unheimlich schwer zugleich. Aus der unglaublichen Verlorenheit des Nicht-Wissens erst war ein Anfang zu filtern, sprachlos und hilflos fühlte ich mich zunächst, über die Jahre dem Wenigen ausgeliefert, das ich Ahnung nennen will und in dem ich meine Rettung glaubte: die Ahnung von der Literatur.
Das Dionysische ist ein Hauptelement dieser Dichtung
Der besondere Reiz von André Schinkels Gedichten, der lyrischen Prosa und Essays liegt im Charme der Umkehrung. Ein poetisches und gedankliches Sprachspiel, bei dem der Autor als Anwalt der sprachlosen Dinge den stummen Objekten eine Stimme leiht. Dabei entstehen lakonische, sinnlich unmittelbar ansprechende und zugleich philosophisch mehrdeutige Bilderrätsel von stiller Ironie. Das Dionysische wird zu einem Hauptelement dieser Dichtung.
In Schinkels Parlando kann man sich häuslich einrichten. Es gibt Ecken, in denen man schlafen möchte, und Fenster, die sich ins Weite öffnen. Stundenlang kann man bei einem einzigen Text verweilen oder von Raum zu Raum schlendern, wie in einem guten Museum. Und nach Wochen wird man noch etwas Neues entdecken, ein durchdachtes Detail oder ein verstecktes Zitat, obwohl auf den ersten Blick alles so schlicht und luftig erscheint.
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Parlando. Vierundvierzig Texte, Lyrik, Prosa und Essays, von André Schinkel, heraussgegeben, gestaltet von Karl-Georg Hirsch und mit einem Nachwort versehen von Jens-Fietje Dwars, Edition Ornament, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2012.