Der Familienstreit
Wie zu erwarten, kommt es nicht so schnell zu einer Aufklärung des Problems, da ja auch noch der Familienstreit im Raum hängt. Koljas Frau wirft die verstaubte Kaffeemaschine an, die ich bisher immer nur für eine Attrappe gehalten habe (hier gibt es doch gar keinen Wasseranschluss), Koljas Sohn setzt sich auf die einzige Sitzmöglichkeit, die es im Raum gibt – eine Kiste, die für Altpapier gedacht ist – und zündet sich eine Zigarette an. Snegurotschka bleibt mitten im Raum stehen, sie besitzt mehr denn je die erstarrte Schönheit einer invertierten Göttin, mit ihrem rabenschwarzen Haar, den vielen Piercings und dem für sie charakteristischen Schweigen. Sie kaut an den Nägeln. Ihr Bruder hat sich komplett in eine Rauchwolke eingehüllt. Kolja verteilt Blinis.
»Willst du auch einen Kaffee?« »Und wer macht nun die Tour?« »Wir müssen das jetzt hier erstmal klären.« »Sie kennt ihn doch gar nicht …« »Du hältst den Mund.« »Wenn sie ihn doch liebt?« »Hat er wenigstens Geld?« »Du denkst nur ans Geld.« »Nein, ich denke an unsere Zukunft, und unsere Zukunft ist auch ihre.« »Hättest du dich nicht in irgendeiner anderen Branche selbständig machen können?« »Das liegt nicht an der Branche…« »Stimmt, das liegt an dir.« »Du hast mich immer nur entmutigt.« »Geht es nun um die Schuldfrage oder darum, wie wir weiterleben sollen?« »Mensch, Wassilij wird uns enterben.« »Und der Typ ist wirklich verheiratet?« »Ich fass es nicht.« »Das ist doch heutzutage das Normale.« »Mehr als eine Handvoll Rauchmelder pro Tag überprüfen tust du da doch nicht.« »Apropos, gibt es hier einen?« »Der wäre schon längst losgegangen bei dem Gequarze.« »Ascher gibs hier auch nicht.« »Steck die Zeitungen nicht in Brand.« »Deine blöden Jobs, Papa, bringen alle nichts.« »Ich tue dass, damit ich nicht trinke.« »Was du nicht sagst.« »Es geht ja nur darum, dass Kolja sonst noch mehr trinken würde.« »Was habt ihr da in den Kaffee gemischt?« »Wir können doch nichts mehr ändern.« »Ich gebe zu bedenken, dass es schon viertel vor 6 ist.« »Ja, aber es geht hier um eine ungewollte Schwangerschaft und eine aussterbende Großfamilie.« »Wenn sie sich doch lieben. « »Es geht um die Liebe.« »Es geht um die Kunst!« »Die einzige, die hier wirklich mit beiden Beinen im Leben steht, ist Snegurotschka.« Letztere hat sich aber gerade hingesetzt, und weil sie sich vor Müdigkeit nicht aufrecht halten kann, sinkt sie in sich zusammen und schläft ein.
Gelassen beobachte ich, wie der Zeiger der Armbanduhr auf 5 Minute vor 6 rutscht. Die hochprozentige Beimischung des Kaffees und die fettigen, süßen Pfannkuchen haben mich warm und satt gemacht. Kolja erweckt in mir immer Mitleid. Er ist groß und kräftig und hat die Konturen eines Riesenbabys. Ungefähr ein Dreiviertel des Jahres ist er erkältet, spricht im Flüsterton und trägt einen extra dicken Schal, wodurch er wie eine Eule wirkt. Snegurotschka hingegen ist ein Energiebündel. Sie fährt immer mindestens zwei Touren auf einmal und hat, soweit ich weiß, noch einen soliden Vollzeitjob. Für sie ist das nur ein bisschen Frühsport. Und jetzt bringt sie die erste große Liebe zu Fall?
Zwei sehr verschiedene Künstler
»Und eigentlich streiten wir uns seit gestern abend um 11 darum, wer der bessere Maler ist: Paul Klee oder Iwan Konstantinovich Aiwasowski.« Sohn: »Jetzt fangt ihr schon wieder damit an. Ich geh dann mal telefonieren.« Ab mit dem Handy. »Haben Sie spezielle Bilder im Sinn, oder geht es um das Gesamtwerk?« »Bilder, die das Gesamtwerkt repäsentieren: Aiwasowski, Die neunte Welle, Klee, Polyphone Strömungen.« »Gute Auswahl. Ich behaupte, die beiden Werke behandeln vordergründig das Meer und im tiefsten Innern die komplexen Kräfte der Natur.« »Ah, eine Kennerin!« »Nicht wirklich, ich wollte bloß mal bildende Kunst studieren und interessiere mich für diese Maler …« »Wie Snegurotschka!« »… meines Erachtens kann man sie nicht ernsthaft miteinander vergleichen. Nicht nur, dass Klee beinah 60 Jahre später geboren wurde, auch verfolgen sie ganz verschiedene künstlerische Fragestellungen.« »Nun, man könnte doch auch sagen: Polyphone Strömungen analysieren die Natur, während Die neunte Welle eine Fotografie ist, eine russische wohlgemerkt«, mischte sich nun Koljas Frau schwärmerisch ein. »Klee stellt doch auch eine Welle dar. Doch bei Aiwasowski gerate ich ins Träumen. Das ist unsere russische Natur!« »Aiwasowski verherrlicht den Krieg. Seeschlachten. Diese sterbenden Soldaten. Als sei es notwendig. Nein, ich mag ihn nicht … Und er hat immer nur das eine Thema: Meer und Marine.« »Monothematisch nennt man das. Das kann auch tiefere Erkenntnisse bringen. Als das mit dem Kunststudium nicht klappte, habe ich mich aufs Schreiben verlegt. Ich versuche seit bestimmt zwei Jahren den Himmel zu beschreiben. Unseren ständigen Begleiter. Er ist jeden Tag anders, und er tröstet uns jeden Tag. Wir arbeiten unter ihm. Ist er nicht der eigentliche Grund, warum wir diesen Job gewählt haben? – Ich scheitere übrigens jeden Tag. Ich beschreibe alles andere, aber nicht den Himmel. Oder nur unzulänglich. Und wahrscheinlich ist über den Himmel zu schreiben furchtbar unpolitisch …« (Es ist nicht das erste Mal, dass ich Russen begegne, einfachen Leuten, Arbeitern, mit einer Allgemeinbildung, die man hierzulande mühsam suchen muss; sie schätzen die deutsche Kultur, zitieren Heine, kennen Hölderlin auswendig, … Feuchtwanger!) »Ich würde sagen, Klee ist politischer. Mit Machtergreifung der Nazis verlor er seine Kunstprofessur und emigrierte in die Schweiz. Und im ersten Weltkrieg konnte er vermeiden, an der Front eingesetzt zu werden und sogar seine Malerei fortsetzen.«
»Was ist, bitte sehr, ›politische Kunst‹? Ist nicht Aiwasowski politischer, weil er sich für Propagandazwecke hat einnehmen lassen?« »Mich stört eher der Tick, dass das Meer nie ohne etwas dargestellt wird. Sonst wäre er wirklich fantastisch.« »Ja, aber das ist ja nur eine Zeiterscheinung gewesen. Wichtiger ist die Frage, ob er etwas Eigenes, Neues geschaffen hat.« »Muss man denn immer Neues schaffen?«
Schnee!
Kolja wird plötzlich von einem schlimmen Hustenanfall ergriffen. »Verdammt. Ich habe eine Allergie gegen Druckerschwärze. Ich werde noch krepieren an diesem Job! Wir lenken uns doch alle nur ab. Mit der Kunst, mit der Liebe … mit der Arbeit. Vom Tod lenken wir uns ab. Für 9 Cent pro Zeitung … Das macht bei einer Stückzahl von 150 (und mehr sind das hier ja nicht) mit Nachtzuschlag und Augenzudrücken nichtmal 200 Euro im Monat. Gerade mal soviel, dass man nicht gleich vor die Hunde geht. Aber es lohnt sich nicht, dafür seinen wertvollen Schlaf zu opfern. Wir sind uns doch darüber einig, dass wir diese Zeitungen hier heute liegen lassen und uns nochmal ins Bett legen, oder?«
Koljas Handy schrillt. Frau Vollbart von der VZG. Eine Beschwerde. Herr Neumann hat heute seine WAZ nicht bekommen. »Das kann sein. Mir fehlte ein ganzer Stapel. Ab Saar 24 konnte ich nicht mehr beliefern«, lügt Kolja spontan und herzerweichend.
Dann: »Sie lässt nachliefern. Mann. In dieser Villen-Siedlung beschwert sich doch eh keiner. Vor halb 10 steht niemand auf – und wenn, dann lesen die noch mindestens zwei, drei Wochenzeitungen. Komm, lasst uns gehen.« »Und die Zeitungen?« »Am besten in den Altpapiercontainer. Die können uns nicht entlassen. Die können ja keine dummen Russen an unserer Stelle einstellen. Hi, hi.«
Das meinte Chefin also mit hoher Haushaltsabdeckung. Ein Einfamilienhaus hat eine WAZ und ist damit zu 100% abgedeckt. Und dafür: Treppchen rauf, Türchen auf, Türchen zu, Treppchen runter, und vermutlich ist weder gestreut noch beleuchtet, und man riskiert sein Leben und soll dann noch spezielle Zustellungsarten berücksichtigen, das Tourenbuch quillt ja über davon: hinter Fenstergitter, neben die Garage, in der Mülltonne (jawohl!) …
Eigentlich ganz gut, dass ich mir die Tour nicht hab‘ anhängen lassen. Manchmal bringt es was, wenn ich z.B. die Schlüssel am Vormittag noch unerlaubterweise für eine Posttour nutzen kann. (Keiner weiß, warum das nicht erlaubt ist – obwohl Zeitung- und Postzustellung über ein- und dieselbe Firma läuft). Doch was soll ich mit dem einzigen Schlüssel für das einzige Hochhaus, in dem sich zudem noch eine Tierfutterhandlung befindet, die den ganzen Tag geöffnet hat?
Kolja sammelt Frau und Tochter ein, und sie düsen wieder ab. Der Sohn ist verschwunden. Vermutlich frühstücken bei der Tanke ein Stück weiter stadtauswärts. Ich schalte das Licht aus, schließe die Garage zu und denke immer noch über den Begriff politische Kunst nach.
Soeben fängt es an zu schneien. Das ist ein gutes Zeichen, denn wenn es schneit, ist es nicht so kalt. Und wenn ich es mir genau überlege, ist die Kälte mein Thema, nicht der Himmel …
Die Kälte, ein russisches Sprichwort ungewisser Herkunft.