Technologischer Totalitarismus

Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. […] Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen. […] So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist.

Robert Musil

A.J. Weigonis Meisterschaft liegt in der Auslassung, in der planvollen Konstruktion textueller Gebilde, die auf dem ersten Blick lediglich triviale oder banale Oberflächen abbilden, unter denen jedoch Tiefen oder Untiefen lauern, auf die der Leser kaum vorbereitet ist. Häufig schmuggelt er unmerklich Tretminen in die Texte, die zunächst wie kaum merkliche Beiläufigkeiten erscheinen und erst am Schluss ihre Sprengkraft offenbaren. Es ist ein Werk, das den Dauerfrost der Demimonde beschwört und evoziert, die illusionslose Kälte einer Welt, in der Gefühle eine Berechnung darstellen oder Luxus. Es kommt vor allem auf die ‚Differenzqualität‘ des Literarischen an, die Tatsache, dass Literatur weniger bestimmte Schreckenserfahrungen abbildet, sondern diese vielmehr mit ästhetischen Mitteln bearbeitet. Er ist ein skrupulöser Beobachter und Beschreiber der Welt, eine Genauigkeit des Empfindens, Sehens und Denkens ist ihrer Prosa eigen. Diese Technik verleiht den Zombies eine verstörende Irritation, die das vie quotiedienne als unablässige Sequenz von Katastrophen erfahren läßt.

Die Wirklichkeit ist das, was übrigbleibt, wenn man aufgehört hat, daran zu glauben.

Philip K. Dick

Coverphoto: Anja Roth

Mit seinem ‚Konzeptalbum‘, bestehend aus den Zombies und Cyberspasz dekonstruiert Weigoni eine Erzählmaschine, die ihre eigene Produktionslogik entfaltet. Das Motivgewebe knüpft sich von Text zu Text,  diese Prosa erzählt vom Menschen in der Bestie und der Bestie im Menschen. Eine nervöse, unübersichtliche Gegenwart potenziert und verdichtet sich sich in dieser hybriden Prosa zu einem apokalyptischen Stimmungsbild. Die Zombies sind Erzählungen, die in die Düsternis unserer Existenz vordringen, sie sind haarsträubend, abstoßend, rührend und voll grimmigen Humors, man liest in diesem Ellipsenfeuerwerk von Dystopien und Alltagskrisen, Tragödien und Peinlichkeiten, bis man das eine kaum noch vom anderen unterscheiden kann. Mit photographischer Präzision sortiert dieser Romancier sonst übersehende Wahrnehmungsspliter und beschreibt ein Dasein an der Front menschlicher Verachtung. Selten hat man in der Literatur ein derart finsteres Bild der Wirklichkeit nachlesen können. Und nie war dieses Bild in all seiner Schwärze so bestechend klar. Lachend, läßt sich das Komische am Tragischen, das Groteske und Aberwitzige, das abgrundtief schwarz Humoreske und last, but not least, das Zufällige noch am Ehesten ertragen. Literatur ist stets auch ein intellektuelles Laboratorium, die Monster, die dort geboren werden, vermögen dem Leser im Zweifelsfall mehr über ihn zu verraten, als jede politische Grundsatzdebatte es je könnte. Zwar verbergen sich poetische Deutungen politischer und sozialer Vorgänge in diesen Sätzen, doch vermeidet Weigoni, sich auf moralische Urteile festlegen zu lassen. Moral spielt keine Rolle mehr, sondern nur noch die Überlegung, wie Chancen besser realisiert werden können. Weigonis  Sprache ist geschliffen wie ein gutes Tranchiermesser, das seine Funktion wie nebenher erfüllt: das Literarische dient dazu, Geschichten so zu erzählen, daß sie den Leser bei der Stange halten.

Die Realität selbst ist heute hyperreal. Unter diesen Bedingungen ist folglich die Irrealität nicht mehr die des Traumes oder des Phantasmas, sondern die halluzinierende Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst.

 Rincón

Zwischen den Novellen und Erzählungen findet sich die Schnittmenge für eine Vielzahl in sich fragmentarisierter Milieus. Weigoni ist ein Pathologe der Erinnerung, kühl sezierend, den Knoten der Kultur und der Religionen mit ungerührter Kälte durchschneidend, beschreibt er die Verlorenheit des Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft. Dieser Romancier zeigt die lebensweltlichen Bedingungen der Medienphänomene in ihrer sozialen Relevanz. Weigoni zeigt dies dadurch, dass in seiner Prosa wie die Metaphysik, die Religion, die Technik, das Internet, die Medien als Module fungieren, die via Sprache an die fiktive Realität gekoppelt werden. Als Konstrukteur der Realitätserfahrung geht ihm um die Herstellung von Realismus, um das Justieren von Partikeln der Realität dergestalt, daß im Abbildungsmodus der Literatur eine zweite Realität sichtbar wird, die den Lesern als Fokussierung und Konzentrat ihrer eigenen Realitätserfahrung erscheint.

Das Verrückte ist in diesen Erzählungen das Normale und umgekehrt.

Literatur kann ein Medium der Selbstbestimmung sein. Und diese bringt der Literatur neue Werte. Was Literatur kann und darf, wird allein an ihren Abbildungsfähigkeiten gegenüber einer sozialen Situation gemessen, die als Welt verstanden und deshalb als überwältigend empfunden wird. Die Suche nach Identität und Ausdruck zieht sich durch Weigonis Werk. Sie exerziert den Schmerz der Sprachlosigkeit, den Verlust körperlicher und seelischer Integrität in Lyrik, Prosa und Drama bis an den Rand des Erträglichen. Der Schock soll die repressiven Muster zertrümmern. Weigoni sucht das Monströse im Normalen und das Normale im Monströsen, seine Verdichtungen schließen sich in ihrem Gehalt an die Wirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert an. Seine Erzählungen erscheinen wie Kapseln, und in jeder einzelnen davon ist eine ganze Welt enthalten. Es gibt Motive, die wiederkehren: das Verschwinden, die Auflösung, das Vergehen von Zeit, der Schrecken, der sich in den alltäglichsten Dingen verbirgt, die Begegnung mit der eigenen Verlorenheit. Memento mori, allüberall.

Der Mensch verschmilzt mit dem digitalen Medium und tritt ein ins Zeitalter der Sozialpornografie.

Norbert Bolz

Die Eindringlichkeit seines Schreibens hängt mit dem tiefen Referenzraum seiner Poethologie zusammen. Die Erzählungen haben einen formal innovativen Ansatz, man erkennt die Figuren unmittelbar an ihrer unverwechselbaren Sprache, die so brennscharf die Realität abbildet und den Lesern neue Wahrnehmungsmöglichkeiten verschafft. In diesem Werk herrscht ein großes Gedränge der Untoten, Weigoni exorziert damit seine Zeitgenossen. Er hat die „hypermodernen Menschen“ ganz kühl literarischen Versuchsanordnungen ausgesetzt, doch tat er dies, weil er Anteil nahm am Schicksal der Menschen. Bei aller Präzision, bei aller Raffinesse und technischen Virtuosität verfügen Weigonis Menschenerkundungen über ein hohes Maß an Empathiefähigkeit. Die Figuren sind nicht bloße Versuchsobjekte; sie sind Menschen, und sie kommen uns auch als solche immer wieder entgegen, treten aus dem Konstruktionsgefüge heraus. Diese Literatur öffnet den Blick für das nie Gesehene, nie Gedachte, so wie Kleist über den Mönch am Meer bemerkte, es sei, wenn man das Bild betrachte, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.

Diese Zombies halten genau die Balance zwischen Polemik und Poesie.

Diese Erzählungen sind ein Gegenentwurf zu den Prolo–Komödien, die als ungeschönte Milieubilder daherkommen, letztlich aber nur Freakshows sind, die statt Menschen Witzfiguren zeigen. Die Zombies dagegen wissen durch alle Skurrilitäten und Absurditäten die Würde ihrer Protagonisten zu verteidigen. Das Lachen über sie ist immer empathisch, nie abfällig. Weigonis Erzählungen haben nicht nur – wie guter Wein – einen Körper, sie haben ein satirisches Bewußtsein, das sie mit jeder Silbe ausdünsten, das alle Sätze atmosphärisch umhüllt. Es entstand das wuchtige Porträt einer bis in ihre feinsten zwischenmenschlichen Verästelungen barbarisierten Gesellschaft. Und doch weist diese Prosa auch darüber weit hinaus. Da ist eine schmerzlich spürbare Differenz zur dargestellten Welt, die im ganzen Text vibriert und den Gefühlsraum des Lesers in Schwingung versetzt. Der Leser denkt in diesen Erzählungen mit, und so kann diese Literatur niemals abgeschlossen sein. Es sind Geschichten mit Matrjoschka-Charakter, in virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führt dieser Romancier sämtliche Schicksale und Handlungsstränge die er in den Zombies ausgelegt hat in Cyberspasz zusammen. Seine eigentümliche Denkweise, konträr zu den gewohnten Assoziationsbahnen, scheint mit ihrem schwarzen Humor passender zur Weltlage als der freudige Triumphalismus der neoliberalen Weltverbesserer, der seit den 1990er Jahren den Vordergrund der Szene beherrscht. In den Zombies und Cyberspasz ist alles so vollgeladen mit Bedeutungen, Nebenbedeutungen und Gegenbedeutungen, daß man sich am Ende der Lektüre wie nach einem guten Besäufnis fühlt: erschöpft, aber glücklich, von tiefer Trauer und zugleich absurder Kraft erfüllt. Weigonis grosse Kunst liegt darin, sich selbst ganz zurückzunehmen und das Feld völlig seinen Figuren zu überlassen, ohne dass die Geschichten dadurch kühl oder verlassen wirkten. James Joyce hat das in seinen Erzählungen Dubliners vorgemacht und dieser Romancier hat dies in die Prosa des 21. Jahrhunderts transferiert. Wer Pierre Bourdieus Bonmot, das Kapital kenne keine Erinnerung ausser der Akkumulation, illustriert sehen möchte, der ist bei Weigonis Konzeptalbum bestens bedient.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

Weiterführend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten auch weiterhin lebendig.
Weiterführend → KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.