Ich kenne Rainer schon seit ein paar Jahren,
doch wusst ich lange nichts von den Romanen,
die er mit fein gespitztem Bleistift sauber in
die großen Kladden schrieb. Die größte aber
schenkte ich ihm letztes Jahr und dachte
mir dabei ein wenig schalkhaft: Diese
Kladde, ein Kontorbuch, würde selbst
ein Stephen King so schnell nicht füllen können.
Nur Wochen später, als ich ihn besuchte,
lag die große Kladde aufgeschlagen
auf dem Schreibtisch. In der Rille ruhte
spitz der Bleistift: Links ein Meer von Seiten,
rechts ein Meer von Seiten, ach, soviel
Sonette habe ich noch nie gesehn!
Kann man denn so erzählen?, dachte ich,
halt ich das aus, wenn ich durch diese Masse
ungereimter Jamben schwimmen muss?
Da packt doch nur ein Schwindel meinen Kopf,
so abgelenkt vom Metrum, dass der Inhalt
glatt im virtuosen Spiel verschwindet,
dachte ich, doch gab mir Rainer seinen
letzten Versroman zum Lesen mit.
Parbleu, ich las und brauchte eine Weile,
nach etwa zwanzig Seiten war ich drin
und kam zurecht mit Vers und Handlung.
Es ist wie mit den sauren Spreewald-Gurken:
Die erste schmeckt so sauer, dass du tüchtig
stöhnst, und schon die zweite macht dich süchtig!
Die Sonette in Rainer Marias Buch „Das Sonnengeflecht“ sind keine romanhafte Erzählung, sondern sie reflektieren und erzählen in versgebundener Form, sie verdichten wirklich Erlebtes, heben es also ins Allgemeine.
Die einzelnen Gedichte, reimlose Sonette, bilden einen Zyklus. Zur Entstehung dieser Gedichte, die an der ‚Handlungs’-Oberfläche vom Niedergang eines schweren Alkoholikers handeln, schrieb mir Rainer Maria (am 21.9.2012 per Mail):
„Die ältesten Gedichte, die ich in die Endfassung aufgenommen habe, stammen aus den frühen 90iger Jahren. Mein Bruder, Armin, lebte seit einiger Zeit hier bei mir, und da wir so unterschiedlichen Lebensweisen folgten, bewohnten wir zwar ein und dieselbe Wohnung, sahen einander aber nur an den Wochenenden und auch dies nicht immer. Wenn ich am Morgen das Haus verließ, um in die Schule zu gehen, schlief mein Bruder noch fest, und wenn ich nachmittags wieder nach Hause kam, war Armin bereits längst bis in die späte Nacht unterwegs auf seinen Wanderungen durch die Bonner Kneipen, und wenn er in den ersten Stunden des neuen Tages zurückkam, war ich lange schon eingeschlafen.
Meine freilich von je zum Scheitern verurteilten Versuche, meist an den Wochenenden, Gespräche mit Armin in Gang zu bringen, ließen, wenn auch quälend langsam (wir sprechen von Jahren), die Einsicht in mir reifen, dass die Sucht ihn längst so unentrinnbar in ihrem eisernen Griff hatte, dass ein Laie, der ich war und auch heute noch bin, auf verlorenem Posten stand und stehen musste.
Ich schrieb unter dem Eindruck mancher trauriger Verstimmungen wie auch mancher hoffnungsfroher Momente immer wieder Sonette, die meine Situation ergründen sollten als den zum Zuschauen Verurteilten wie auch den zur ermutigenden Kritik Aufgeforderten. Dass die Überarbeitungen dieser Sonette einmal Bestandteile eines zyklischen Gedichtes werden würden, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Viel später erst, Armin war bereits seinem Krebsleiden erlegen, fiel mir bei kursorischer Lektüre des einen oder anderen Gedichtes immer öfter auf, dass nicht wenige Gedichte, die scheinbar unabhängig voneinander entstanden waren, meine ganz persönlichen Erfahrungen mit Armins Sucht und Tod gewissermaßen als Generalthema immer wieder neu bespiegelt hatten. Ich begab mich also daran, diese Gedichte in eine wenigstens vorläufige Ordnung zu bringen. Anderer Projekte wegen wurde diese Aufgabe aber immer wieder für längere Perioden unterbrochen, und schließlich sah ich ganz davon ab, mich weiter mit dieser Aufgabe zu beschäftigen. Den Gedanken, diese oder andere Gedichte aus meiner Feder einmal veröffentlichen zu können, hatte ich ja bereits seit Langem als völlig unrealistisch aufgegeben, und ich lebte in tiefstem und heiterem Frieden damit.
Als vor etwa dreieinhalb Jahren Hıdır Çelik durch die Vermittlung von Giorgos Krommidas signalisiert hatte, sein Free-Pen-Verlag wäre bereit, einen Band mit meinen Gedichten zu veröffentlichen, war mein erster Gedanke, dass eine Auswahl jener Gedichte unter dem Titel ‚Das Sonnengeflecht’ mein erstes Buch füllen sollte. Auf den Umfang meines Vorhabens angesprochen meinte Hıdır allerdings, ein so dickes Buch würde die Finanzen seines Verlags zu sehr strapazieren, und also entschloss ich mich, die Liebesgedichte ‚Faneika Du Schöne’ anzubieten. Wie es dann mit ‚Hände und Lippen’ und ‚Wortstaub’ weiterging, weißt Du ja. ‚Das Sonnengeflecht’ war aber die gesamte Zeit über in meinem Hinterkopf, und wenn mich die erzählenden Gedichte wieder einmal an einen Punkt geführt hatten, an dem ich mir Abstand zu ihnen verschaffen zu müssen glaubte, beschäftigte ich mich immer wieder mit dem Material das in jenen Dunstkreis gehörte. Dylan Thomas‘ Gedicht, ‚Do not go gentle into that Good Night’, das er für seinen sterbenden Vater geschrieben hatte, und in dem Dylan Thomas dem Vater seine Ergebenheit in die Unabänderlichkeit seines Hinscheidens in jenen großartigen Worten vorgeworfen hatte, wurde für mich das Motto für das Sonnengeflecht. Ich hatte zwar nicht meinem Vater, sondern meinem Bruder vorzuwerfen, dass er ‚ohne Gegenwehr’ den Weg in den schleichenden Tod ging, ich konnte mich aber von der Verwendung Dylan Thomas‘ Gedicht als Motto nicht mehr abwenden, und was Du nun vor Dir siehst, ist eine Auslese aus etwa dreimal so vielen Sonetten, die dieses Thema auf die eine oder andere Weise bearbeitet hatten.
Ich stelle mir nun vor, dass es sicherlich sinnvoll wäre, das erste Gedicht des Zyklus auch als Einstieg in ‚Das Sonnengeflecht’ zu lesen. ‚Der Ruf’ bedenkt einen verkatert aufwachenden Süchtigen, der sich der letzten einer langen Reihe von Niederlagen gegenübergestellt sieht, (… Flammen suchen nach Erinnern, / wo alles weißrot unter Asche schwimmt. /) aber hilfloserweise kann er nichts anderes denken, als den Abend des Tages zu ersehnen, (… Hoffnung für erflehtes / Abendrot; nur einmal noch erklänge / eine Nacht in feuersatten Tönen. /). Der Rausch freilich verwischt die Klänge alsbald (… in schwarzen Schriften spült das Meer an Berge / und malt ihnen die Fratzen auf die Haut. /), und lässt das altbekannte Chaos wieder die Oberhand gewinnen. (Windverwaschen lösen sich die Bilder: / fliehen für Sekunden in den Mittag.) Alle Orientierung in Zeit und Raum verflüchtigt sich in ein zerdehntes Dämmern.
Wollte ein Leser sich das Gedicht ‚Der Ruf’ gewissermaßen als den Auftakt für die Gedichte des ersten Stranges zurechtlegen, dann, glaube ich, wird er sich von Gedicht zu Gedicht immer wieder Variationen gegenübergestellt sehen, die das Thema ‚Sucht’ bedenken.
‚Die Einzahl’ heißt das zweite Gedicht. Wiederum erwacht ein Süchtiger (im ersten Quartett), und er weiß (in den Quartetten zwei und drei) bereits, dass alle seine Schwüre, die Sucht bekämpfen zu wollen, bei Licht besehen nur Meineide waren und sind. Die abschließende Doppelzeile stellt ihn dar als den Gefangenen, der den Mächten der Sucht (‚Zaubergräser’ fassen ihn an seiner Achilles‚ferse’) wehrlos unterlegen ist.
Das dritte Gedicht, so hoffe ich, lässt nun ahnen, dass dem Süchtigen ein ebenso hilfloser Mahner gegenübersteht. (Wer erzählt sie Dir und mir zum Trost der / vorgestellten Tränen? Die umarmten / Klagen klängen heiter …). Resümierend stellt der Sprecher nur fest: (Schwerelos dazwischen ebnet sich die / Katastrophe Wege in die Stille.)
Ich stelle mir allerdings nun nicht vor, dass sich der Leser bei seiner Lektüre sklavisch an die im Buch getroffene Sukzession der Gedichttexte hält. Ich glaube dass sich jedes Gedicht auch herausgelöst aus dem Zusammenhang des gesamten Zyklus als gültiges in sich selbst ruhendes Gedicht lesen lässt. Dies wird freilich nicht gelten für die Gedichttexte des zweiten und vorletzten Stranges des Sonnengeflechts. Sie sollten schon in der abgedruckten Reihenfolge gelesen werden, weil sie ja als Bestandteile von Sonettenkränzen unauflöslich miteinander verbunden sind.“
Es fiel mir zunächst allerdings sehr schwer, einen Einstieg in diese Sonett-Welt zu finden – ohne den konkreten Hintergrund oder Anlass der Gedichte zu kennen, führte die Interpretation zwar auch zu tieferen Bedeutungen, aber das Verständnis gewinnt durch die sinnliche Ebene des sich im Rausch immer mehr verlierenden und später an Krebskrankheit siechenden und sterbenden Bruders enorm viel. Das half mir jedenfalls sehr.
Ich will nicht verschweigen, dass es immer noch einige Stellen gibt, die ich kaum verstehe, weil sie möglicherweise wieder auf sehr konkreten Ereignissen oder Zuständen gründen – das konnte ich verschmerzen, weil ich das Wesentliche sah, und so ließ ich derartige Bilder und Worte einfach in sich selbst ruhen und genoss ihre Schönheit an sich; auch das muss erlaubt sein. An den Stellen, wo der Leser auf erratische Splitter und Konglomerate stößt, verselbständigt sich vielleicht die Sprache des denkenden und fühlenden Autors, oder anders gesagt, sie kommt aus einem inneren tiefen Schacht, und was der Autor automatisch schreibt, versteht er selber nur ansatzweise; selbst wenn er weiß was er schrieb, muss das für den Leser überhaupt nicht bindend sein.
Jedenfalls las ich das Sonettgeflecht, das mich ganz forderte, mit Interesse und Staunen vor der Kunstfertigkeit, und es brachte mir Erbauung im besten Sinne des Wortes.
Das Sonnengeflecht – oder Solarplexus – ist ein Nervengeflecht, eine Schaltzentrale im Oberbauch. Hier werden Informationen verschaltet und weitergeleitet, die viele wichtige Funktionen von inneren Organen (Magen und Darm) regulieren. Die ‚Schmetterlinge im Bauch’ haben hier ihren Sitz, auch entstehende Ängste spüren wir hier – der Alkoholiker besonders dann, wenn ihm der Stoff fehlt, dann muss er das Sonnengeflecht wieder beruhigen und trinkt.
Sonnengeflecht ist eine reiche Metapher, die wie von selbst entsteht und nicht etwa nur auf die Alkoholkrankheit zu beziehen ist, sondern auf die feine Empfindungsfähigkeit unseres Körpers: Gehirn, vegetatives System und Organe sind miteinander verflochten. Wir denken mit dem ganzen Körper. Ich denke Rainer Maria Gassen will mit den Sonett-Strängen des Sonnengeflechts die Ganzheit unseres Ichs zeigen, wie sehr unser Denken und Fühlen zusammenhängt, wie schmal der Grat zwischen Materialismus und Idealismus ist – ein dialektisches Wechselspiel.
Den Zyklus hat der Dichter wie ein Organ gebaut. Wie ein Sonettgeflecht. Die Sonette ordnen sich wie Ringe um einen unsichtbaren Kern: 27 + 15 + 19 + 19 + 15 + 27 Sonette, das sind insgesamt 122 Sonette. Während in den ersten beiden Strängen des Sonnengeflechts Jamben dominieren, wächst später das Daktylische, und ein freieres Metrum bricht durch. Die beiden Kapitel mit 15 Sonetten sind Sonettkränze. Soviel Symmetrie in der Struktur! Der Dichter wirft sie der Unordnung des Seins entgegen, er stemmt sich mit seiner Kunst gegen das Kranke, gegen den Schmerz, den Tod, die Trauer …
In den Sonetten lebt eine leicht dahinfließende Sprache. Nie wird die Sonettform für Rainer Maria zum Gefängnis, das es durch Reime, die strenge Strophenform und das jambische Metrum leicht werden kann. Er sprengt durch unzählige Verssprünge die Formzwänge, die Gedanken und Bilder fließen in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit von Vers zu Vers und Strophe zu Strophe. Und das gewinnt dann stellenweise auch in diesem Buch eine gleichsam erzählerische Qualität – als erzähle sich das Denken selbst.
Ich will noch einmal die Verdichtung betonen, die Gassens Sonette aufweisen: Das konkrete Problem der Alkoholsucht kann der Leser nur erahnen, er kann auch in vielen Sonetten ein anderes existentielles Problem vermuten, um das es vordergründig geht. In jedem Fall aber wird die verarmende kommunikative Situation zwischen zwei Menschen deutlich, etwa im V. Sonett („Stimmen“), wo der Dialog in Bildern des Schweigens, des Stillstands erstarrt: „Eingedicktes Silbenelend kratzen / wir von trockenen Wänden, werfen alles / auf die hohen Halden …“ und „Die verebbten Wellen hinterlassen / hergefegte Strände und ein Summen.“ Fast ein Stummen, dachte ich beim Lesen. Auch Zeit und Ort stürzen in eins zusammen, die Zeit rast allein dahin, ohne jeden Sinn.
Im ersten Sonettkranz (Zweiter Strang des Sonnengeflechts) wird der Absturz des Bruders immer deutlicher. Nun
„Verengen sich die Blicke immer mehr,
die Köpfe schmerzhaft an die Wand gepresst,
Erlösung stürzt hinab auf einen Punkt.“
(XLII Spirale / Meistersonett)
Auch im dritten Strang ist es so, wo vom Zerbrechen der Worte die Rede ist (XLIV); Winter bricht herein und kriecht in die im Rausch erfrierende Seele (XLVIII), „alles Erinnern ist Klang aus der Sehnsucht danach.“ (L) Versteinerung, Verzeihen und Verrat (LII) –dies alles in kühnen Naturbildern und Imaginationen. „Die Laute enden, wenn … ihre Geburt in das Schweigen verkehrt wird …“ und es „Stürzen innige Wolken jenseits der Grate / in die Meere, vergehen mit ihnen die Schritte / zaghafter Lieder …“ (LXI).
Im vierten Strang (LXIII) lesen wir die verzweifelte Frage angesichts des
ins Nichts versinkenden Bruders:
Wo, jenseits der Ahnungen ließe die
Wärme sich los, erflehte nicht
länger die Neige für sich.
Wir beginnen die Nähe des Todes mitten im Leben zu ahnen. Es ist der Tod, den der Rausch bewirkt und das Wenigerwerden des Ichs: „Fläche und Strich verlassen den / Rahmen und zaubern sich fort.“ (LXXI)
„Näher heran rückt der Horizont, / und in stürzenden Wolken wird / alles Kulisse, die Nacht / hält inne … (LXXII).
Und das Jenseitige Ufer steht vor dem inneren Auge als „das fremde Geflecht.“ (LXXIII) – den Abstürzen im Rausch schon ähnlich …
Dem geistigen Niedergang entspricht die dürre Form dieser Sonettmutationen: „Ein Netz ohne Muster, ein Spiel mit der / Ebene, fügt zusammen die / Teile der Wirklichkeiten.“ (LXXVI)
Der zweite Sonettkranz im fünften Strang des Sonnengeflechts stellt den freien Fall ins Nichts dar:
„Verloren an Ufern ewiger Nacht
besteht die Silbe den Untergang, und
in den Augen kreisen Worte dahin.“
(LXXXIII)
Und „Ein gemalter Himmel auf dem Gesicht … dahinter ist / Schweigen für deine Zeit und Dunkelheit.“ (LXXXVII)
Wenn ich’s recht bedenke, überhöhen die Sonette den Anlass und das Thema ihrer Entstehung bei weitem. Je mehr ich davon lese, umso mehr denke ich, die vielen Bilder von Zeit und Ort und Schmerz, von Reden und Stummen, Sehen und Blindheit, Schweigen und Schreien – sie alle beschreiben in einem gewaltigen Monolog des Grübelns und Empfindens unser Sein, sind bis in ihre kommunikative Struktur mehrdeutig – so gesehen bilden die Gedichte ein einziges Gedicht, eine philosophische Parabel des Seins. In vielen Gedichten verschwindet der Bruder, oder ein anderes Gegenüber wird denkbar, oder das lyrische Ich ist ganz allein und denkt über sich und seine Welt nach, über die Natur, die Zeit, es fühlt und sehnt sich nach Liebe, nach Berührung mit anderem.
XXVI
Eingebunden
Ich sehe in dir Regen und das Kleid
von Blumen, ausgestreut auf meinen Feldern,
den Bogen über eine Welt geschlagen
und wie an eine Saite angesetzt.
Einmal finge sich die Erde, fände
sich an ferne Sterne angelehnt und
ließe ihren Atem in uns wehen
wie durch Laub jahrtausendalter Bäume.
Ich finde in dir Dämmern und den Ton
des Morgens, ausgebreitet über meinem
Verstummen; ziehen auf die roten Wolken
und zünden uns die welken Himmel an.
Lippen malen ein Geschenk für deine
Haut und blühen brennen für Sekunden.
Dieses Gedicht ist ein Beispiel dafür, wie speziell und allgemein ein Gedicht gelten kann. Das Sonett mit dem Titel „Eingebunden“ lässt sich auf die geschwisterliche Liebe beziehen, die Hoffnung auf einen neuen Tag, eine Zeit der Gesundung des Bruders und der Wiederauferstehung der Gespräche zwischen den beiden – und zugleich ist es ein Liebesgedicht für eine andere Begegnung.
Nun folgt noch der sechste und letzte Strang des Sonnen- und Sonettgeflechts. Gleich das erste Sonett kündigt mit seinem Titel das Ende des an Krebs erkrankten Bruders an: „Trennen“. Die Rede ist in den nächsten Sonetten von „himmelloser Dunkelheit“ (XCVII), der Weg wird zur „Spirale hin zu Asche und Stein“ (XCVIII). Dann ertönt „Scharfes Geklinge kalt wie Abendblau“ (C). Aber „Um das Echo garnt sich feines Gespinst, / lässt die Klänge in der Leere vergehn.“ (CI) Die Krankheit enfaltet sich, aus den Wunden schreit der Schmerz (CII), „die betagten Sonnen stürzen in Nacht.“ (CV) Verzweifelt fragt der liebende Bruder den weggehenden: „Wenn der Schnee geschmolzen ist, und die Nacht / wieder bricht, vergisst du dann meinen Ruf?“ (CX) … es ist ein fiktiver Dialog im Monolog des Dichtenden, er erreicht den Bruder nicht mehr, der Andere verschwindet, und so kann er sich in ihm nicht mehr finden. Aber was für ein Wille, den Bruder im Gedicht zu bewahren, so lange es geht! Hier entsteht ein neues Sein, der Bruder findet kein Grab in den Sonetten, sondern da lebt er weiter, und dennoch: Es ist der Versuch, aus dem werdenden Nichts, in das der Bruder hineingeht, etwas zu machen, und es wird nicht nur die Trauerarbeit für den Verlust, sondern der letzte Gewinn, den der Verlust hergibt. So etwas Einfühlsames habe ich bisher noch nicht gelesen, nicht gehört und nicht erfahren!
Das letzte Sonett (CXXII) wage ich kaum zu deuten: „Dein verstummter Mund hält inne …“, heißt es dort, das Schweigen wird gegliedert, das Nichts bekommt Struktur. Wie absurd! Wie groß ist die Klage dessen, der das formuliert, um letzten Seinsrest zu retten!
In allen Perspektiven spiegelt sich das eigene Sein, insbesondere spiegelt sich in der Not des Anderen auch die eigene Not, wenngleich sie eine ganz andere Not ist … Im Sein des Anderen erkennen wir uns selbst. Und das macht diese Gedichte so groß. Weil in den Fragmenten, die sie Stück für Stück beschreiben und in Bildern deuten, das Ganze aufscheint. Und so wird aus der Analyse der fragmentarischen Einzelheiten ein Geflecht von Menschen und ihren Universen, aus dem Sonnengeflecht entsteht ein Geflecht von Sonnen – neues Leben!
***
Das Sonnengeflecht von Rainer Maria Gassen. Free Pen Verlag. Bonn 2012