Wilde Töchter der Poesie

Eine schwarzblau schimmernde Frucht mischt kräftig mit in der Poesie im deutschen Sprachraum. Das Wort, das auf diese Frucht verweist, ist eines von jenen, die Menschen traurig oder glücklich machen können (Dietmar Dath); ich glaube, eher glücklich, weil dieses eine Wort Verlorenes oftmals unerwartet wieder erstehen lässt, weil es zu Geheimnissen führt und sie doch nicht preisgibt, weil es lebendig wird, wenn Schreibende sich an besondere Erlebnisse erinnern. Wie Friederike Mayröcker, die in ihrem Buch ich bin in der Anstalt schreibt:

Wir gingen oft dort spazieren, obwohl es kein angenehmer Weg war, irgendetwas zog uns an, immer wieder dorthin zu gehen, vermutlich war es dieser Brombeerhang den ich nur erklimmen konnte wenn ich 1 Anlauf nahm also mit Schwung emporschnellte wobei ich immer wieder zurückrutschte also den Brombeerhang hinunterrutschte also indem ich das Gleichgewicht verlor und nochmals hochzuschnellen versuchen muszte indem ich 1 weiteren Anlauf nahm und den Brombeerhang hochrannte – ER stand während meiner absurden Exerzitien geduldig daneben und sog an seiner Pfeife.

Nicht nur ein besonderes, ein herausragendes Erlebnis wird hier wieder lebendig, Mayröcker setzt den Brombeerhang beim erstmaligen Auftauchen kursiv, ebenso den Anlauf. Sie zeigt uns den Schlüssel zum herausragenden Erleben, jedoch ohne es aufzuschließen, denn: irgendetwas ist es, das die Spaziergänger anzieht, immer wieder dorthin zu gehen, um zu genießen, was zuvor noch 1 Angststimmung war, die mit in groszer Höhe kreisenden Vögeln zu tun hatte womöglich mit bei Tageslicht flatternden Fledermäusen …

Es dürfte sich gezeigt haben: Von ›Brombeeren‹ soll hier die Rede sein, von ›Brombeerhängen‹, ›Brombeersträuchern‹, ›-gestrüpp‹ und ›-schlingen‹, ›Brombeerhecken‹, ›-hagen‹ und ›-verhauen‹. Der Brombeerhang, dessen Vorstellung Mayröcker dreimal beschwört, erhebt sich aus einer flacheren Umgebung, die sich Erinnernde musste Anlauf nehmen, um hinaufzukommen. In einem Gedicht von Else Lasker-Schüler ist das Brombeerne so hoch, dass es höher nicht steigen kann: Ich färbte dir den Himmel brombeer / mit meinem Herzblut, klagt das lyrische Ich im 1920 veröffentlichten Gedicht Abschied. ›Brombeer‹ als Farbe, nicht als gewöhnliche, alltägliche Farbe, nein, eine Mischung aus Herzblut und Himmel.

Gefährten

Bemerkenswert auch die Gefährten, in deren Begleitung das Wort ›Brombeere‹ erscheint. In Mayröckers Text ist der Brombeerhang in Gesellschaft hoch fliegender Vögel, vielleicht sogar in Gesellschaft von Fledermäusen, die bei Tageslicht flattern. An anderer Stelle desselben Buches werden Brombeersträucher in Gesellschaft von Geiszblättern erinnernd beschworen. Bei anderen Autoren kommen Brombeeren oft zusammen mit Farnen daher, öfter auch mit Brennnesseln, Weißdornsträuchern, und selber erscheinen sie mit Schlingen, Ranken und als urwalddichte Wände. Hier klingt die andere Seite des Wortes ›Brombeere‹ an, eine auch bedrohlich-verführerische, undurchdringliche, sibyllinische.

Nicht nur in poetischen Texten mischt dieses scheinbar unscheinbare Wort ›Brombeere‹ kräftig mit, nein, es taucht auch innerhalb anderer Textformen auf, die sich dann aber geradezu poetisch aufladen. Und natürlich fehlt das Bild der Brombeere nicht, wenn über Poesie gesprochen wird. So, wenn Theo Breuer in der Zeitschrift Matrix 28, die den Titel Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker trägt, mit brombeeren, brombeeren nicht nur den zweiten Vers aus Inger Christensens Langgedicht alfabet/alphabet zitiert, sondern damit auch dem eigenen Text einen weiteren poetischen Akzent hinzusetzt. Und das, obwohl doch der erste Vers von Christensens Langgedicht mit die aprikosenbäume, die aprikosenbäume auch ein äußerst anmutiges Bild enthält. (Ich weiß, ich weiß: die Erfordernisse des Alfabets. Doch dieser Einwurf überzeugt nicht, mit B gibt es schließlich viele andere Beispiele, es müssten ja nicht unbedingt Brombeeren sein.) Dazu passt, dass Breuer uns schon vor Jahren in der von ihm verlegten Lyrikreihe Edition YE Antje Paehlers geheimnisumwobenes Gedicht Wildenberg nahe gebracht hat:

Brombeertüren
 
fallen ins Schloß
um einen Turm
lagern Geschichten
um Schichten
ab hier fährt
keine Sehnsucht mehr
in heilige Länder.

Brombeertüren im Turm eines alten Gemäuers – sagenumwoben, geschichtenumwoben, abgelagert Schicht um Schicht – wohin führen diese Türen? Wir wissen es nicht, und wir werden es nicht erfahren. Brombeertüren halten dicht.

Zum Greifen nah

Die Verschlossenheit zum Greifen nah im Bild des Brombeergestrüpps, wie es uns bei Jaques Josse begegnet, den Breuer ebenfalls in Matrix 28 zitiert: Seit kurzem liegen morsche Balken und zerbrochene Dachziegel auf einem Haufen, zerbröseln unter Brombeergestrüpp. Zu den Gefährten der Brombeere gesellen sich nun gar morsche Balken, zerbrochene Ziegel und – Igel. Letztere werden von Breuer selbst innerhalb des Zitats auf den Plan gerufen: zerbrochene Dachziegel. Auch Wasser gehört zu den Gefährten der Brombeere. Der Brombeerstrauch am tropfenden Wasser- / hahn neben den Brennesseln hänget jetzt / vielleicht voll Frucht und wächst achtlos…schreibt Kevin Perryman in Matrix 28.

Liebliche Gefährtinnen

Und dann gibt es noch die lieblichen Gefährtinnen der Brombeere, sie kommen besonders häufig mit ihr zusammen vor: Es ist vor allem die Him-, mitunter aber auch die Blaubeere. Christine Kappe spricht am 27. August 2012 in Kulturnotizen von einer in hiesigen Breitengraden noch zu entdeckende(n) Frucht zwischen Brom- und Himbeere, und die Lyrik-Anthologie Versnetze_fünf nennt sie das bromhimbeerfarbene Buch. Peter Clar, wiederum in Matrix 28, verbindet Bombeer- und Himbeersträucher mit Schneeglöckchen und Veilchen, aber auch mit Ameisenhaufen. In diesem Bild schwingt etwas sehr Kreatürliches mit, das sich auch im schönen Titel des Lyrikbandes Wilde Brombeeren von Caroline Hartge (2008) findet, ebenso wie in der Bezeichnung Späte Brombeeren des nur noch antiquarisch erhältlichen Lyrikbandes von Radoj Ralin.

So oder ähnlich könnte es sein

Sind es Konnotationen um Wildnis und wildes Leben, Erinnerungen an Kindheit, Sommer und milden Herbst, an verschwiegene Erlebnisse, geheimnisvolle Verstecke, an Rapunzeltürme und verschlossene, vielleicht sich unvermutet doch noch öffnende Türen, an etwas, das aus dem Alltäglichen herausragt – Gedanken, die aus Brombeeren eines jener Worte werden lassen, die Menschen glücklich oder traurig machen können? So oder so ähnlich könnte es sein, denke ich, während ich Elke Marion Weiss’ Gedicht Brombeermonat lese, dessen lyrisches Ich in geheimen erotischen Erinnerungen schwelgt, um sie in die fast wehmütige Aussage münden zu lassen: der Brombeermonat / beugt sich zärtlich bedauernd / trauernd zu Boden …

Ganz und gar bin ich davon überzeugt, dass es so oder so ähnlich sein muss, wenn ich lese, dass KUNO am 21. Oktober 2012 in Kulturnotizen über Theo Breuers neues Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet schreibt: … die Sprache ein dichter Brombeerverhau. Mir fällt kein schöneres Bild für diese Sprache ein.

 

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Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.