Kleine Rede für ein Publikum, dem Lyrik noch nie ganz geheuer war

Zu Vera Schindler-Wunderlichs Gedichtbuch Abstandszimmer im Freien anläßlich der Buchpremiere am 27.10.2012 in Basel

Lyrik ist etwas, das mit Schweigen zu tun hat, Schweigen nicht unbedingt im Sinne einer meditativen Stille, sondern: LyrikerInnen hören im Gerede etwas sprechen, was nicht gesagt wird, was verschwiegen wird vom Gerede, oder sie beobachten Worte, wie sie sich selbst gegenüber still verhalten, wie sie stumm werden. Lyrik geht eine andere Mitteilung einholen, als die, die allgemeinhin gehört wird.

Niemand versteht Lyrik auf Anhieb, auch LyrikerInnen nicht. Ungewöhnliches steht da im Raum; Unerwartetes tritt auf; etwas, was nicht im herkömmlichen Sinne zwingend logisch sein muss, kommt zum Vorschein.

Wer ein abstraktes Gemälde ansieht, verschiebt die eigene Wahrnehmung weg aus der gewohnten Bildrezeption, hin in die Bereiche Farbe, Ton, Struktur, um etwas in den Blick zu bekommen, was er so noch nicht bemerkt hat. Selbst geübte Kunstaugen schärfen sich, um nicht leer auszugehen. Man muss schauen lernen, um ein Bild zu erkennen.

In der Geschichte der Malerei gibt es immer dieses Mehr, diesen Überschuss, oder auch diese deutliche Reduktion, damit etwas ins Sichtfeld kommt, was bisher verborgen blieb und jetzt in der Erscheinung des Bildes hervortritt. Die Perspektive verschiebt sich oder die Bildbewegung, die Farbgebung, das Licht. Durch die Jahrhunderte der Malerei hindurch können wir beobachten, wie sich ein Bild immer wieder neu herausschält aus dem bisher bekannten Sichtfeld. So meldet sich Kunst an.

Lyrik versucht seit Jahrhunderten, sich hinauszuschieben aus dem Feld der allgemeingültigen Mitteilung, wegzugehen aus dem Hauptraum der Rede. Sie geht in ein anderes Zimmer, um etwas zu besprechen, was nicht im Klartext verhandelbar sein soll, auch nicht verhandelbar ist, was da gar nicht hineingehört.

Drunter und drüber
 
Wir sind im Anstandszimmer,
rumoren in der Mühle der Tage, 
Stunden werden geputzt, geschält,
zerkocht und zersprochen;
versteh ich nicht, wir sagen,
das versteh ich nicht, sprich einfach
Subtext, doch Subtext: Versteh ich
nicht, ich folge nicht.
Dann sprich Subtext im Sinne 
von Hunger, Sammeln, Kummer,
von Anlass zum Rasen, zur Keiferei,
von Anstand und Abstand, geh unter,
sprich Untertext. Doch Untertext liegt
über Untertext und drunter mittelt
Gott uns seinen Subtext,
den vernehm ich nicht.
Also ins Abstandszimmer;
am Anfang steht der Abstand,
folgt der Subtext, Text, darauf
das Ohr. Wir hören, was der
Text rät: „Dann nimmst du diese
Sprache und folgst ihr.“

Wir werden in ein Abstandszimmer mit hineingezogen, wenn wir ein Gedicht hören oder lesen. Ist das Gedicht genau und sicher, dann kommen wir in einem anderen Zustand wieder heraus, wir haben etwas Fremdes mitbekommen. Dies gelingt uns nur, wenn wir uns ganz einfach zu sagen trauen: Versteh ich nicht. Ist nicht das Bekannte. Ist was anderes, was da gesagt wird. Da muss ich anders hinhören wollen als sonst.

Lyrikrezeption, vor allem in Form einer Dichterlesung,  kränkelt oft daran, dass der Zuhörer meint, er müsse sofort verstehen, was da gesagt wird – und schon ist etwas, was frei war, wieder eingefangen worden durch unser eingeschliffenes Willens-Muster, alles schnell in den Griff kriegen zu können. Wir haben das Gedicht verpasst, wenn wir auch unsere Ruhe nun haben. Wir geben uns geschlagen durch unsere Nervosität, etwas nicht sofort begreifen zu können. Wir ziehen uns auch schon mal die Gelangweiltheit über die Ohren wie eine dicke Pelzkappe. Sofort verstehen zu wollen, damit wir abhaken können: Bezwungen! – daran zerbricht Lyrik in ihrer Rezeption.

Der einzige Unterschied zwischen geübten Hörern und Zuhörern, denen die Sache nicht geheuer ist, ist der freche Mut. Man muss die Chuzpe haben, ein Gedicht nicht gleich verstehen zu wollen. Jemand, der lange mit Lyrik zu tun hat, traut sich, Nichtverstehen anzumelden. Jemand, der sich mit Lyrik auf  fremdem Terrain fühlt, wagt es oft nicht, sein Befremden zuzugeben, er könnte ja verblödet vor sich selbst da stehen. Schnell deutet er: Ist doch zu begreifen, was dieses Gedicht uns sagen will, oder?

Nichts will uns das Gedicht sagen, dafür wurde es lange bearbeitet.

Musik schafft eher Fremdheit auf Anhieb, Malerei auch, Lyrik aber ­– da hören wir doch immerhin Wörter, oft sogar altbekannte?! Musik stellt einen Zustand her beim ersten Hören, ein Gedicht auch. Mehr nicht. In diesem Zustand wünsche ich Ihnen, sich beim Hören von Vera Schindler-Wunderlichs Gedichten heute Abend aufzuhalten. Verwundern Sie sich also ruhig ein wenig …

Hören wir in Vera Schindler-Wunderlichs Lyrik das, was so schwer zu erfassen ist, weil wir es mit Sprache zu tun haben — und Sprache, bilden wir uns ein, die kennen wir doch alle, nicht wahr?! Hören wir das, was wir nicht sofort begreifen und schmeissen wir das scheinbar schnell Geklärte aus dem Kopf wieder hinaus.

Lyrik zu schreiben bedeutet, keinen Roman zu schreiben, keine Zeitungssprache zu sprechen, keinen Journalismus zu veranstalten. Lyrik ist auch kein Hörspiel oder Theaterstück. Lyrik ist die widersinnigste und widersetzlichste Sprachveranstaltung, die es gibt.

Vera Schindler–Wunderlich hat es mit einem Beruf zu tun, in dem es auf Exaktheit und Genauigkeit der Wortwiedergabe ankommt, dem Beruf der Protokollantin. Jetzt legt sie einen Gedichtband vor, den sie sich neben ihrer Tätigkeit im Bereich der genau vorgeschriebenen Wortzusammenhänge erarbeitet hat, den sie ausgebaut, gehalten, verteidigt und erweitert hat. Dies ist ein Abstandszimmer im Freien.

Ich darf aus dem Vorwort zum Buch zitieren:

(…) Vera Schindler-Wunderlich hat das Auge einer Dichterin, das Abstandsauge; sie ist eine im wahrsten Sinne des Wortes nach Strich und Faden, nach Komma und Semikolon versierte Protokollführerin. (…) Antike wie Amtsstube; Biblisches wie Beziehungsbewandtnis; Messianisches wie Morgendliches Beginnen – diese Lyrikerin lässt sich aufschreiben von der Komplexität ihres Bewusstseins, hinein in eine barocke Fülle scheinbar leichtläufig gewordener Dinge; die weben ein grosses Loch zusammen; das ist das Loch, in dem wir denken. (…)

Ich möchte vorschlagen, in diesem ›Loch‹ zu bleiben beim Zuhören. Es bewusst auszuhalten. Treten Sie ins Abstandszimmer, treten Sie ins Abstandszimmer im Freien, und lassen Sie`s gut sein damit, beim ersten Zuhören Sinn, Bedeutung und Zusammenhänge herstellen zu wollen. – Fremdes! Freies! – Diese wunderbaren Gedichte würden ihren Reichtum einbüssen, wenn wir sie zu schnell als ›Mitgeteilt! Danke!‹ abhaken würden, auch und gerade weil sie so genau ausgehorcht sind im Raum des Verschobenen. Sie sind in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen, diese Gedichte. Sie zeichnen sich aus durch ein souverän und sicher aus dem Hauptraum der Rede hinausgesteuertes, dort aber genau positioniertes Bedeutungs- und Wortfeld.

Ich möchte mit einem meiner persönlichen Lieblingsgedichte aus diesem Buch schliessen, Ich knüpfe mich an dich. Je mehr man den fremden Ton im scheinbar Vertrauten hört, umso überraschender, kunstvoller, schöner greift er. Und Achtung bitte! – Probe aufs Exempel: In welche Bedeutungsdichte diese Gedichte in ihrer Vielgleisigkeit hineinführen, lässt sich auch und gerade an diesem scheinbar leicht verständlichen Beispiel durch einen einfachen Hinweis aufzeigen:

Immer von Neuem schält sich ein anderes, komplexes Sicht-, Hör- und Bedeutungsfeld  heraus, ob man nun für das dich (Ich knüpfe mich an dich) Gott einsetzt oder den Geliebten oder das menschliche, allgemeine Du oder aber, bitte sehr: die Poesie.

Ich knüpfe mich an dich
 
Ich knüpfe mich an dich,
ich weiß, ich würde schwanken.
Meine Belange, sie stapeln sich
vor dir; meine Ausweise, sie sind
abgelegt bei dir; und ich sammle:
deine Schnittstellen, deine
Vergegenwärtigungen.
Ich meine, ich bin eingefädelt;
doch ich weiß: Einmal muss ich
einknicken und kalt werden.
Man wird mich umziehen und 
kämmen, mich frischhalten
und schließlich den Deckel
über mir schließen, eine Zeitlang
über mich sprechen, dann weniger.
Doch bin ich nicht eingefädelt,
auch in meiner Verwesung bin ich
nicht verknüpft? Was bedeutet mir
ein Leistungsausweis, stört mich
ein strapaziöser Kopf beim
Geschmack meiner Auferweckung?
Ich knüpfe mich an dich,
ich weiß, ich würde schwanken.

* * *

Vera Schindler-Wunderlich, Dies ist ein Abstandszimmer im Freien, 99 Seiten, Broschur, edition pudelundpinscher im Verlag Maritz & Gross, CH-Erstfeld 2012.