Die Vokabulatur des Knospenspaziergangs

Die Macht des Staunens:

Wenn sie einen auch angesichts des anbrechenden Stillstands in der Raserei am Fabulieren hält, könnte sie mittlerweile die eigentliche Avantgarde sein. Anders als die vielen sich totlaufenden Konstrukte der konkreten Poeten und die sich wegduckenden Œuvr’lein der mit dem Strich gebürsteten Generationen ist das Werk von Friederike Mayröcker, die Grande Dame der deutschsprachigen Literatur, selbst dann nicht belanglos, wenn es um ›grausames Herumsitzen‹ geht, das letztlich nur die zuweilen langwierigen Synapsen-Übergänge bis zum neuen Staunen birgt … wenn sie sich in den Spielformen der Aufzeichnung ergeht.

Mayröcker steht drauf,

und es ist Mayröcker drin, ein aus zahlreichen Tag- und Nachtbruchstücken zusammengesetztes Ganzes ergibt sich in ich sitze nur GRAUSAM da, dem es an keiner Stelle an Frische mangelt, das selbst den Überdruss bemäntelt und die Realität mit der Traumsprache derer, die über den Dingen wandeln, verzwirbelt. Die Melange ergibt so etwas wie Halt, das Zwiegespräch mit Ely, einem weiteren Alter Ego von Ernst Jandl, das Friederike seit dessen Tod mit ihm führt, trägt nun nicht mehr den Ton des Bitteren, es vermittelt eine Art Sicherheit in der Anwesenheit in einer von Begegnungen und Telefonanrufen selten durchkreuzten Welt.

Der Glanz einer solchen Existenz,

wie sie die Dichterin führt, trägt auch das Elends des Außenseins, des zuweilen Wie-festgenagelt-Seins mit sich (ich nähere mich nicht den Freunden im Auto, bin wie festgewachsen), sie ist wohl auch von den Zumutungen des Zurückbleibens getrübt – indes, mit welcher Meisterschaft und Konsequenz dieses Zurückbleiben bewältigt wird, es macht einen von Zeit zu Zeit atemlos: meine Seele ist 1 kl.Taschenlampe, meine Seele ist 1 kl.Tier – es krabbelt in meinem Brustkorb umher ich kann spüren wie es krabbelt (…) meine Seele geht zum Komponieren auf 4 Beinen, sage ich, sie krabbelt in meinem Brustkasten … Nachrichten aus der Welt übermitteln die Anrufe der verwandten Seelen, die Berliner Dichterschwester Elke Erb, der Bernburger Avantgarde-Künstler Ulrich Tarlatt haben in diesem Bestiarium Mayröckerscher Tage neben vielen anderen Gestalten und Zitaten aus der Umgebung des Sitzens und Formulierens ihren Cameo-Auftritt; aber die Triftwege der jeweiligen Form sind durch den halben Dialog mit Ely und, augenfällig, weil jedem Anschein von Agonie entgegengesetzt, die Natur bestimmt.

Nicht von ungefähr

sind diese Traktatansätze umringt von Einlassungen auf Gladiolen und Reseden und nicht zuletzt gerahmt von den Zurüstungen auf den zweiten Knospenspaziergang. Eine Welt, die der Autorin ganz zueigen ist, und in der die Regeln von Fabulieren und Registrieren sich in einer Weise mischen, dass man damit manch gesetzten Germanistikprofessor um den Block jagen könnte. Wohl dem, dass die mittlerweile 88-Jährige eben auch eine Unbeirrbare, Unkäufliche bleibt, ungleich, ob sie durch die Wägbarkeiten des Leibs, den Nachhall ihrer langanhaltenden Trauer gehandicapt ist. Neben der Gestalt des Ely sind es Genet und Petrarca, mit denen sie parliert, und ein Teil der sie in, wie man hört, nun zwei Wohnungen umwuchernden Literaturgebirge … Fetzen davon finden sich als Reminiszenz im Text, allein, sie übertrumpfen nicht die Vision der Pflanzenmasse, auf die die Sprache sich einübt, Ende Februar, im Vorblick des Knospenfortschritts: ‚ich habe Hunger‘, schreie ich zu Ely, ‚schaff mir zu essen‘ etc., ausgestreute Gladiolen, kl.Schwerter, ganze Sträuße von Schwertern, sage ich, lasz uns Gänseblümchen, Sauerampfer, Baumfarne essen …

Wie jedes Buch der Wienerin

eine Herausforderung, auf die man sich einlassen muss; aber wenn man es wagt und zudem jenseits aller literaturwissenschaftlichen Knospenzählerei das Verschwimmen von Autoren- und Erzählerstimme studieren will, vollzieht sich das mit großem Gewinn. Eines der ungewöhnlichsten Sommerbücher, im Winter geschrieben, in dem, tatsächlich, geträumter Sommer herrscht, nun auf dem Balkon zu lesen: von der ungeheuerlichen Wucht, für die Friederike Mayröcker von einer Reihe Bewunderer mit allem Recht verehrt wird.

 

 

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Friederike Mayröcker: ich sitze nur GRAUSAM da, 141 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.

Wir danken Julietta Fix für die Kooperation.

Mehr zum Schwerpunkt Friederike Mayröcker:

→ Überschwemmt, die Lust am Taumel · Teil 1

→ Teil 2/3

→ Teil 4/5

→ Teil 6/7

Der 8teilige Essay Überschwemmt, die Lust am Taumel ist im Juni 2012 in der 28. Ausgabe der Zeitschrift für Literatur und Kunst Matrix erschienen.