Andre Sokolowski, Dramatiker

Andre Sokolowski, Photo, privat

Soviel Anfang war selten, denkt man hoffnungsfroh immer wieder, wenn die neue Saison beginnt. Soviel Anfang ist meist, mahnt dann die Erinnerung, und auch die Hoffnungsträger sind oftmals dieselben. Theater ist für mich deshalb so faszinierend, weil es noch im Scheitern viele Rätsel aufgibt. Ich mag an die Zukunft der Bühne nicht zu glauben, ohne an dessen Vergangenheit zu denken. Die Wurzeln des Theaters liegen im Kultischen, im Sakralen.

Die ersten Dramen wurden in der Antike zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt. Auf der Orchestra mit Maske, Kostüm und Kothurn zu agieren, war eine Form von Gottesdienst. Die Verbindung zum Religiösen löste sich in der Folgezeit zwar auf, doch die Nachwirkungen waren noch lange zu spüren. Wer zum Priesteramt nicht taugte, für den war auch das Theater tabu. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren Frauen auf der Bühne als Protagonisten weiblicher Charaktere unvorstellbar. Männer übernahmen ihre Rolle. In ähnlicher Weise war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Menschen mit dunkler Hautfarbe der Zugang zur Bühne verwehrt. Inzwischen gibt es Textflächentheater, das Regieteam Rimini Protokoll arbeitet mit Zeitzeugen; die Spiellust ist auch im 21. Jahrhundert ungebrochen, dies belegen nicht zuletzt die Stücke von Andre Sokolowski.

KRETHI UND PLETHI – Bruchstücke aus 49 Jahren DDR

Die Bruchstücke behandeln 49 Jahre DDR. Am Anfang, beispielsweise, gibt es ein historisch überliefertes Zusammentreffen Walter Ulbrichts, Otto Grotewohls und Erich Mielkes mit den eigentlichen Drahtziehern des sogenannten 17. Juni: Herrnstadt, Zaisser, Marschall Sokolowski; es wird offensichtlich sein, wie und warum es zu dem frühen DDR-Ende gekommen war. Der absolute Mittelpunkt des Großplots allerdings sind die traumatischen Geschehnisse um Bobo Falke (Babas Mann und Bubis Vater – einer ›echten‹, ›wahren‹ DDR-Familie) … wie der nämlich (Bobo) in den Sechzigern als jugendlicher Fremdenlegionär im Indochinakrieg gewesen war und plötzlich zu den Vietnamesen übertrat. Den Schock hatte er nie so richtig überwunden. Daran litten nicht nur er sowie sein eigen Fleisch und Blut. Auch allen anderen (dem wahnwitzigen Logopäden, den privaten Honeckers, dem überdrehten Double-Kosmonauten Sigmund Jähns, den vier entpflichteten Genossen von der BEL) erging es, früher oder später, ziemlich ähnlich; so behaupteten sie jedenfalls. Zum Paukenschluss trifft sich der eingestanden allerletzte DDR-Mensch (Ronald M. Schernikau) mit ›seinesgleichen‹ für ein großes Interview im Auftrag eines Boulevardorgans …

DIE VORHAUT DES KÖNIGS

Es bedurfte seinerzeit keines Jubiläums, dass der deutsche Dichter Andre Sokolowski sich eines folgenreichen deutschen Staatsmannes dramaturgisch annahm und ein Stück verfasste, das den despektierlichen Titel DIE VORHAUT DES KÖNIGS trägt. Dieser und sein despektierlicher Inhalt, der sich außer um Historisches, Politisches und Psychologisches auch um das Allerkleinste des Allergrößten dreht, hat selbstredend dazu geführt, dass noch kein Theater sich bisher heran getraut hat. (…) Die Konstruktion ist perfekt: Elf Schauspieler, die Leibgardisten spielen, die Hunde spielen, spielen eine Königsgeschichte vor und zurück. (…) Die Hauptfigur und ihr Zentralproblem stecken wie in einer Magie von Druck und Strudel. Und auch der Leser/Zuschauer wird durch die Situationen gedreht und getrieben, als wäre er selbst der x-te Rex. (Jörg Mihan · KULTURA-EXTRA 2011)

NINA – Stück für Cello und Begleitung

… eine Mittelstandsdämmerung, eine Persiflage auf den Riss von Familienbanden, aber auch ein Stück über jugendliches Prekariat, ein Stück über Anarchie und Revolte, über fatale Selbstrettungsversuche, über den Untergang von Firmen und Formen des Umgangs, über die Schere zwischen Arm und Reich und die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung einerseits und Tod und Zerstörung andererseits – die Stoffe stehen in der Zeitung, nichts Neues also, aber komplex erfasst und schräg gezeichnet, diese ganze leitkulturelle Bagage! (Jörg Mihan über NINA)

Was bleibt

Für Oper und Theater sind gesellschaftliche Schutzräume zu organisieren, Zoos, Museen für Kunstformen, unterdrückte, verdrängte, Wahrnehmungen, Sehnsüchte, Gerechtigkeitsforderungen, die dort, einigermaßen in Ruhe gelassen von Antrieben des Marktes, einen Ort haben. Das hieße zugleich, unsere Gegenwart, von neuen Filmen verhandelt, würde direkt ins Museum gestellt. Mit der Musealisierung geht natürlich immer die Gefahr einher, daß Kunst ihre gesellschaftliche Notwendigkeit verliert. Deshalb halte ich Festivals für eine großartige Möglichkeit, die Musealisierung zu verhindern, wie es auch gängige Theaterpraxis gegenüber den Texten sein sollte. Es ist wichtig, soziale Räume zu bewahren, in denen eine abweichende Wahrnehmung von Realität möglich bleibt. Wir müssen an den Ursprung des Theaters zurückgegangen, wo es vor allem darum geht, Räume aufzutun und zu erkunden. Menschen, die sich in modernen Stadtlandschaften verlieren, in Straßenschluchten oder in den leeren künstlichen Kommunikationsforen.

 

 

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