Die wenigsten Menschen erleben ihre Zeit, […] die meisten Menschen sind geschäftlich und haben keine Zeit für ihre Zeit.
Alfred Döblin
Holger Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen jedoch weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Was dabei entsteht, ist ein Textganzes, das nicht mehr auf die Lektüre einzeln herausgegriffener Aphorismen abgestellt ist, sondern vielmehr auf die sukzessive Kenntnisnahme der kompletten Sammlung in ihrem formalen Zusammenhang unter Einschluss der paratextuellen Strukturierung. Benkels Aphorismen folgen keinem linearen und systemischen Denken, sie entfalten sich vielmehr assoziativ und labyrinthisch. In seinen Aphorismen gehen Poesie und Sprachkritik ineinander über.
Der Aphoristiker spricht seine Gedanken frei und verfolgt sie nicht. Benkels Aphorismen sind eine Prosaform zwischen Poesie und Philosophie, verwandt mit Essay, Sprichwort und Epigramm. Ein Genre der Gegensätze: knapp gefaßt, aber weit gedacht, pointiert formuliert, aber metaphorisch offen, sehr subjektiv auf den Begriff gebracht, aber mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Diese Gedanken, die um Ecken biegen sind kurz, konzise, rhetorisch markant, nichtfiktional und stehen für sich allein, sind also nicht Teil eines längeren Textes. Benkel arbeitet oft mit sprachlichen Mitteln wie Antithese, Neologismus und Paradoxon. Vieles ist so dicht und so intensiv, daß es zu kleinen poetischen Einheiten wird.
Als gelernter Lyriker schreibt Benkel gleichsam in Zirkelbewegungen, auf die Momente zu, da etwas aufgeht. So lassen sich Aktivität und Passivität, Tun und Erleiden, Begreifen und Ergriffen–Werden kaum unterscheiden. Es sind Augenblicke, in denen Probleme gelöst, Überzeugungen gebildet und Einsichten gewonnen werden – mentale oder auch seelische Ereignisse, in denen sich nicht nur das Denken, sondern auch das Leben ändern kann. Einige von Benkels Gedanken, die um Ecken biegen haben Konsequenzen nicht allein für das Leben und Denken desjenigen, dem da etwas aufgeht.
Diese Aphorismen sind dort am eigenwilligsten, wo sie die Realität der Dichtung beweisen helfen. Sie sind zugleich Ausdruck eines fast paradox anmutenden Verhältnisses zur Literatur: eher reflexiv, kritisch und distanziert und eben dadurch tiefergehend. Benkel hat einen scharfen Blick, der weit über den Zeitgeist hinaus reicht, das Unsystematische und Undogmatische der aphoristischen Denkmethode durch Juxtaposition geistreicher Aperçus findet zu unangepassten Reflexionen. Benkel hat damit in seinen Aphorismen eine Vielstimmigkeit erreicht, die ihn eine Sonderstellung innerhalb der deutschsprachigen Aphoristik einnehmen läßt. Dieser Band besticht durch seine polyphone Eigenart, die auf dem Gebiet der kleinen Form aphoristischer Prosa gleichsam in einer Art Parallelaktion vollzieht, was um dieselbe Zeit etwa auch im Gebiet der Essayistik als eine Tendenz zur Poetisierung reflexiver Textgenres durch Fiktionalisierung zu beobachten ist. Das literarisch Wertvolle daran ist, daß er das Spiel mit den Wörtern nicht als bloße Etüde betreibt. Vielmehr schimmert hinter all seinen Spracherkundungen ein existentieller Kern, das kleinstmögliche Ganze.
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Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier. Einen Essay zur Reihe Kollegengespräche finden Sie hier
kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.
meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.