Ich hatte die Nacht am Bett meines kranken Sohnes verbracht und vergessen, mein Handy auszustellen. Es riss mich um halb 6 mit einem penetranten »Im-Freien-Profil« aus meiner Schlaflosigkeit. Gerade jetzt bildete ich mir ein, schlafen zu können. Doch als ich auf dem Display »VZG« las, war es mit meinem Schlaf entgültig vorbei. Die riefen um diese Uhrzeit ja nicht an, um Reklamationen durchzugeben – sie riefen an, weil irgendeine Tour liegengeblieben war, die niemand anderes als ich machen konnte.
Manchmal fragte ich mich, ob es das war, warum ich diesen Job noch nicht aufgegeben hatte. Oder nur das relativ schnell verdiente Geld? Oder die ständige Suche nach Abenteuer?
Ich ließ mir Zeit mit dem Zurückrufen. Vorm offiziellen Zustell-Ende würde ich sowieso keine Ablagestelle mehr erreichen, selbt wenn ich sofort aufbrach. Das würde also wieder eine Tour werden, auf der ich die Abonnenten persönlich kennenlernte. Eine Tour, auf der ich die ganze Zeit gegen die Absurdität meiner eigenen Arbeit ankämpfen musste: Wer las denn abends noch die Zeitung? Außerdem musste erst sichergestellt werden, dass Fabi gestern bloß zu viel Schwimmbadwasser getrunken und nicht eine Magen-und-Darm-Infektion hatte.
Fabi war … wachgeworden, räkelte sich kurz und stand dann auf, um sofort Fußball zu spielen. Dennoch würde ich ihn nicht entspannt im Kindergarten abgeben können – einen Springer für den Springer gab es nie und wen sollte ich anrufen, wenn ich Fabi doch wieder abholen musste? Also beschloss ich, Fabi im Anhänger mitzunehmen. Mit ihm allein zuhause zu bleiben versprach nichts Gutes: schon der zweite Schuss mit dem Softball riss fast die Gardinen herunter, draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben.
Der Regen wurde schon weniger, als wir losfuhren, aber es war windig, und Wolken zogen rasch über den Himmel. Da ich nur unter freiem Himmel klar denken konnte, fiel mir erst jetzt ein, dass die Zeitungen allesamt in die Packtaschen passen mussten, weil der Anhänger ja nun von Fabi belegt war… Oh je. Doch Frau Vollbart sprach von einer kleinen Tour (die Notfalltouren sind natürlich immer klein, zumindest am Telefon). Ich sauste mit Fabi die Brühl entlang, eine für Fahrradfahrer und Fußgänger ungeeignete, breite Autokampfbahn. Wir mussten allerdings hier entlang, sie war Teil der Tour und die Ablage befand sich in der nicht weniger befahrenen Königsworther Straße um die Ecke. Nachts kein Problem, aber jetzt verhunzte uns der Berufsverkehr schon nach wenigen Minuten die Sinne und ich wünschte mir Gasmaske und Ohrenstöpsel, vor allem für Fabi.
Wir hielten bei Nr. 10, der Stadtküche. Auf dem Treppenabsatz fanden wir die liegengebliebenen, etwas feucht gewordenen und zerzausten Zeitungen, wirklich es waren wenige, vielleicht 200, und die Schlüssel… einfach danebengeschmissen, spätestens hier begann ich mir Gedanken über den Stadtteil zu machen, wie war soetwas möglich? Ich raffte den Kram schnell zusammen, die Packtaschen reichten nicht, aber Fabi mit ein paar Zeitungen von rechts, links und oben abzuschirmen, gefiel mir ganz gut.
Ich betrat also ein Gebiet, an dem die meisten Hannoveraner schon unzählige Male vorbeigefahren sind, ohne einen Fuß hineingesetzt zu haben. Von den Gerbern oder Färbern, die hier im 18. Jhd. in Gartenhäusern gewohnt haben hat dieses Viertel seinen Namen, und während es damals ein Vorort war, gehört es jetzt zur Stadtmitte, ohne dass sich an seiner Abgeschlossenheit etwas geändert hätte.
Je länger und je grader die Straßen sind und je steiler oder breiter, umso mehr schaut man auf ihnen weder nach rechts noch nach links und umso mehr schneiden sie ein Gebiet von der Stadt heraus und isolieren es. Vor allem, wenn die Straßen darinnen klein und verwinkelt sind und kein Geschäft und kein Café sich dort befindet, vielleicht bloß ein Kiosk, vielleicht eine versteckte Moschee. Hartwigstraße, Oelzen-, Mosch-, wer hat jemals von ihnen gehört, während die umliegenden Straßen in aller Munde sind, zur Orientierung für jedermann dienen, wie Koordinaten in einem System.
Erneut zog ein Regenschauer auf, aber was ich noch näherkommen sah, war ein blaues Rad, Tom, Kollege, Briefzusteller.
Tom: Was machst du denn hier? Da haste dir aber ne special Tour aufschwatzen lassen. – Und ach, Hallo Fabi!
Ich: Du bist meine Rettung! Lass uns zusammen gehen. Ich hab die Schlüssel – du die Ahnung!
Tom: Schön wärs. Aber ich muss erstmal den Einkauf bei Frau Müsegardes abliefern. (er lüpft den Deckel der hintern Posttasche und heraus winkt der Büschel eines Möhrenbundes. Auch erkenne ich einen Flaschenhals und den Zipfel einer Milchtüte)
Ich: Frau Müsegardes? Moment. (ich schaue auf meine Liste) Nimm die Zeitung mit.
Tom: … heute unterzeichne ich die Vorsorgevollmacht. Postzustellen ist ganz schön anspruchsvoll geworden.
In diesem Augenblick wurden wir wieder einmal komplett geduscht und ich kämpfte gegen die Benommenheit von der durchwachten Nacht. Ich befestigte das Regendach, welches hochgeweht war, am Fahrradanhänger und obwohl Fabi lächelte, sorgte ich mich um ihn.
Ich setzte meine Tour mehr schlecht als recht fort. Fabi freute sich daran, mir die Schlüssel mit der richtigen Nummer reichen zu können. Ich hatte kurzzeitig den Gedanken, dass unser Job kinderleicht ist, verwarf ihn aber gleich wieder, als ich im Hinterhof der Gerberstraße 9 den Briefkasten nicht finden konnte, und die kleine Ansammlung von Leuten am Kiosk gegenüber sah, von denen ich mich beobachtet fühlte.
Früh morgens gehört die Stadt noch mir, aber später am Tag gehöre ich der Stadt. Schauen die nicht zu mir herüber? Machen sie sich über mich lustig? Deswegen traue ich mich nicht, sie zu fragen. Möglicherweise erhalte ich einen blöden Spruch. Und das wäre für Fabi schlimmer als für mich. Ich erinnere mich noch gut, wenn jemand sich über meine Mutter lustig machte, war das doch der Weltuntergang.
Fabi ist im Anhänger eingeschlafen und ich bin an seiner statt das Kind. Die engen verwinkelten Straßenzüge, die alten Häuser, die sich zur Straße neigen, der Spielplatz, der verlassen daliegt, das alles kenne ich doch… Plötzlich steht ein Mann neben uns, schwarzer Mantel, Regenschirm, fremd-freundliches Gesicht, »Wen suchen Sie? Kann ich Ihnen helfen?« Hier kennt anscheinend jeder jeden, wie das in der Stadt eigentlich nicht sein kann; er muss ein Zauberer sein, vielleicht Pan Tau, der hat natürlich eine Melone, dieser Zauberer nimmt seinen Schirm zum Zaubern, »Ich suche Khazai.« »Das bin ich. Der Briefkasten befindet sich in der Toreinfahrt. Aber geben Sie her…« Seltsam, da war eben aber noch kein Briefkasten. Und jetzt lese ich in dicker, fetter Kinderschrift: Herr Khazai. Herr, wie lustig. Dass jemand seinen Vornamen mit auf den Briefkasten schreibt, ist nicht ungewöhnlich, aber die Anrede… er musste wirklich soetwas wie Pan Tau sein.
»Wollen Sie nicht einen Kaffee mit uns trinken?« Ich lehne das Rad an und komme mit zum Kiosk. »Zum Zeitungsaustragen ist es jetzt eh schon zu spät.« Diese blechernde Stimme, ist das nicht Klamotte aus KliKlaKlawitter? Der Erfinderhund? Er stellt sich als Frank vor. »Ich habe eigentlich gar gar keine Zeit.« Warum ich dieses scheppernde Wort zweimal sage… weil ich doch Zeit haben will?
Der Kaffee ist saustark und süß. Ich versuche rauszufinden, zu welcher Gruppe von Menschen sie gehören, denn es ist völlig klar, hier kann nur wohnen, wer a) nirgendwohin muss b) nicht weit muss oder c) übriggeblieben ist. Frank sieht aus, als ob er ziemlich an der Grenze ist, jedenfalls raucht er zu viel. Der Kioskinhaber will kein Geld für den Kaffee. Er packt gerade einen Stapel selbstgebrannter CDs in eine nachhaltig verwendete Plastiktüte und reicht sie Frank. »Du musst deinem Bruder noch die Musik bringen.« Der schaut kurz auf die Uhr. »Nu mal langsam. Er hat ja gerade erst angefangen.« – »Sein Bruder arbeitet als Parkplatzwächter in der City. Nicht weit von hier. Er sitzt da in seinen Turm und Frank versorgt ihn immer mit der neusten Musik«, erklärt Herr Khazai. Ah, ja, Frank ist also ein klarer Fall für Gruppe b). Der Kioskbesitzer gehört natürlich zu a). Pan Tau auch. Schließlich ist es schon nach 9 und wer zaubern kann, braucht nicht zur Arbeit.
Aber ich… muss jetzt weiter, mit meinem schlafenden Fabi. Und bei jeder Zeitung, die ich unter seinem Kopf hervorziehe, habe ich Angst, dass er aufwacht. Vorbei an der bröselnden Schönheit vernachlässigter Altebauten, vorbei an Appartmenthäusern, die vermutlich zu teuer sind und deswegen leerstehen, Bürogebäuden aus den 70ern, Resten der Färberindustrie. Und ständig überqueren wir einen Seitenarm der Leine, der mehr Müll als Wasser enthält.
Fabi wacht erst am Rand auf, der natürlich überall nah ist. Wir haben das Gefühl, uns auf einer Insel in stürmischer See zu befinden. Die Brühl ist nicht nur vierspurig – parallel zur Fahrbahn verläuft ein Fahrradweg, ein Streifen Parkplätze, eine Nebenstraße und ein Bürgersteig. Jede Haustür, die hinter mir ins Schloss fällt, ist ein Segen. Ich mag gar nicht wieder auf die Straße. Dabei ist nicht das Rauschen des Verkehrs das Schlimme, sondern das ewige An- und Abfahren. Dass es hier überhaupt Wohnhäuser gibt. Es gibt eine Kirche, ein Fitnesscenter, ein Restaurant, und dazwischen… ein paar hutzelige Häuser mit Vorgärten.
Nr. 11. Da werkeln Leute. Die haben schon auf mich gewartet. Herr und Frau Volger. Ein altes Ehepaar, klein, Zwerge, ich beuge mich zu ihnen herab, verstehe mühsam: »Was war denn da heute morgen los?. Wir haben schon ein paar mal bei der Zeitung angerufen. Ach…« (sie haben Fabi entdeckt) »Wie süß!« Und Fabi hat das alte Zwergenpaar entdeckt und ruft ebenfalls: »Ach, wie süß!«
Ich ziehe die letzte Zeitung unter Fabis Po hervor. Und dabei sehe ich, dass er lauter postkartengroße Beilagen gesammelt hat, die aus den anderen Zeitungen rausgerutscht sind. Ich falte sie auseinander, eine Art Landkarte mit aufgehübschten Bildern: Entdecken Sie Hannover – Ein Ausflug in die Region. Teil 1 – Pattensen… Na, das wird Ärger geben. Ich reiche Volgers die Zeitung, muss sie dann aber vor ihnen ins Gras legen, weil sie sie gar nicht halten könnten.
Danach stechen wir wieder in See. »Kommen Sie gut heim! Alles Gute für Ihr weiteres Leben«, rufen Volgers und winken uns nach. Doch schon als wir den Fahrradweg erreicht haben, können wir sie nicht mehr erkennen, nur die Zeitung, in der der Wind blättert.
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Schichten der Nacht, eine musikalische Lesung mit Christine Kappe (Text) und Corinna Eikmeier (Cello), in der Werkstatt-Galerie Calenberg, Kommandanturstraße 7, Hannover – 28.02.2013, Beginn: 20 Uhr
Weiterführend → Ein Porträt von von Christine Kappe findet sich hier.
→ Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.