Mit Rauhtier verlässt der Lyriker Bert Strebe die kostbare Nische der bibliophilen Sammlereditionen. Nach Zwischenwasser (1999) und Katzenlicht (2002), beide verlegt von Eric van der Wal (Bergen /Holland), macht der vorliegende Band Strebes poetisches Werk jetzt einem größeren Leserkreis zugänglich: es gilt, eine überfällige Entdeckung zu machen.
Ein Großteil der Gedichte aus den beiden vorigen – man vermutet: vergriffenen – Ausgaben ist hier neu versammelt und unterstreicht, dass es Strebe bislang nicht um kurzweilige Effekte oder langgetakteten Neuanfang gegangen sein kann. Nichts weniger als lyrische Rundumerneuerung findet hier statt; die Neuanordnung der alten Stücke bahnt sie an, doch die neueren Gedichte, die im wesentlichen die zweite Hälfte von Rauhtier ausmachen, weiten den Horizont und loten neue Tiefen aus.
Wenn Strebe also allem Anschein nach ein Dichter ist, der sich und seinem Werk Zeit lässt, so lässt er ihm gleichwohl nicht die Zügel schießen: seine Sprache und seine Bilder fügen sich mit einer präzisen Eleganz, die ihresgleichen sucht. So meidet die Tonlage konsequent allen Überschwang; es gibt keine Rhapsodie, keine Explosion, keinen Hymnus, die uns mitreißen, verschrecken oder erheben könnten, und genau so verharren auch die Bilder in kühler Statik ((das wasser hütet seine wut)). Doch der scheinbare Mangel an wärmerer Emotion – deren Zuckerguss anderswo oft genug missratenen Kuchen retten soll – und rastloser, nichts als sich selbst bezweckender Motion erlauben dem Autor genaues, bisweilen freilich auch erbarmungslos genaues Hinschauen. Allen so sparsamen Anklängen an Märchen entgegen, allen Ansichten ‚nach der Natur‘ zum Trotz wird hier nicht gewispert, nicht geraunt – hier frieren wir und schweigen, und vielleicht ist doch bedeutsam, dass sich das titelgebende Wort bis auf einen Buchstaben an ein Raubtier heranwagt. Man lese genau!
Solche Genauigkeit erfüllt auch die äußerliche Form der Gedichte, von denen die allermeisten ein Dutzend kurzer Zeilen umfassen, die längsten gerade eine Seite einnehmen (nur eines der 70 überschreitet dieses Maß), und die in ihrer Sprache und Ausdrucksweise insofern makellos sind, als man sich beim Lesen kein Wort in die Zunge reißt. Der bei dieser Beschränkung drohenden thematischen Kurzatmigkeit entgehen die kurzen Stücke durch ihre Anordnung zu insgesamt elf, jeweils unter einer Überschrift zusammengefassten Folgen.
Ein Glück, dass diese Gedichte, denen kein tröstlicher Gestus eignet, ebensowenig der Larmoyanz anheimfallen: in aller abgeklärten Gelassenheit betrachtet das lyrische Ich die Erscheinungen seiner Welt und stellt ruhig seinen Befund, ohne zu beschönigen oder zu verleugnen auch dort, wo die Sprache an ihre Grenze gekommen scheint:
[…]
ich lege ein welkes blatt
auf die schwelle ich beschwere es
mit dreien deiner worte
und nehme das vierte mit mir fort
Sollte es also so sein, dass Dichtung noch irgendeiner Rechtfertigung bedürfte – außer der, dass sie eben zu schreiben ist – dann legte Bert Strebe hiermit den beachtenswerten Nachweis vor, dass es mitunter eine existenzielle (auch: literarische) Kargheit sein kann, die die größte Kunst hervorzubringen imstande ist. Ohne irgendwelches verortende oder anderes Gepränge (Satzbild, Widmungen, Epigramme, Datierungen, Ortsangaben, Zitate oder Querverweise in Fachsprachen) ist hier allein das aufgeweckte Ich am Werk: gegenüber gießt jemand wind / ins brandmauerlaub.
Dabei hat es diese Welt wirklich in sich oder, von der entgegengesetzten Warte aus betrachtet, beinhaltet dieses Ich sie ganz, von den bauchgehenden Reptilien (von ferne fängt meine zunge / ein wenig atem ein) bis hin zu den himmlischen Trabanten (ich bin das gegenstück zu einer wunde / die immer noch näßt und / den pazifik füllt), und bleibt dabei doch immer, ist unverkennbar ein und dasselbe, kein beliebig gestaltwandlerischer Wechselbalg.
Handelt es sich bei Rauhtier um Naturgedichte? Ja – insofern, als es sich bei Solinger Stahlklingen um Naturerzeugnisse handelt. Oder anders gesagt: Stille (im holz des tisches / sind die hausaufgaben der kinder / aus zwei jahrzehnten nachzulesen) und Starre (jemand bremst mit der flachen hand / die spule von der die zeit abläuft ) sind die Urgründe, aus denen Bert Strebes Dichtung sich hervorarbeitet, und ihre Schönheit und Verlockung ist die einer einsamen Fußspur über ein Feld aus überfrorenem Schnee, deren Ende sich in der Dämmerung oder am Waldrand verliert: man folgt ihr in der Hoffnung, an ihrem Ende auf menschliche Gesellschaft zu treffen, aber man schneidet sich an den scharfen Eiskanten die Knöchel auf.
Und man hofft, noch vor Einbruch der Nacht das Ziel zu erreichen.
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Bert Strebe, Rauhtier, Mit einem Nachwort von Wolfgang Berends. Stadtlichter Presse, 2012. ISBN 978-3-936271-65-2. Broschur, 111 S., EUR 16,-.