Natürlich spielt der Titel des Gedichtbandes von Markus Hallinger »Das Eigene« darauf an, dass das, was jemand sein Eigenes nennt, den anderen das Fremde ist. Und aus dieser Vorstellung speist sich auch mein Interesse an diesem Band, denn er führt mich in Gegenden, die ich nur vom Hörensagen kenne. Wenn Hallinger nämlich ganz bei sich bleibt, entfernt er sich umso mehr von mir und uns, und mit »uns« meine ich, die Bewohner der Städte, der Würfel, des geordneten Verkehrs, der gezügelten Massen, die sich gern für den Nabel der Welt halten und allzu gern vergessen, dass die Lebensmittel, die sie brauchen und verbrauchen zum grüßten Teil aus Gegenden stammen, die sie nur von Bildern kennen.
Die Städte die ich kenne, sind weit davon entfernt ein Großstadtdschungel zu sein. Man verliert hier, im urbanen Raum den Überblick nicht. Und genau sowenig, wie die Stadt ein Dschungel ist, ist das Land kein Idyll. Das war es nie und war es schon zu Eichendorffs Zeiten gerade nicht, denn damals schickte man sich an, die Distanzen zwischen den Städten mit Eisenbahngleisen zu verkürzen, das Land wurde durchschnitten, und weil es scheinbar ruhig liegt, wenn wir es durchfahren, weil auch einmal ein paar Kinder winken, mag es uns als Idylle erscheinen.
Bei Hallinger hört sich das so an:
Bahnfahrt
Nur wer besoffen ist, schreit aus dem fenster
den kartoffelacker an.
Mit dem vollmond wächst der durst
und die hand brennt.
Mit abnehmenden mond
werden die fahrgäste schläfrig und sehen weich aus.
Nur der buckel juckt.
Auch auf dem Land also, hat man keine Zeit zu verlieren, muss sehen, dass man zum Rausch kommt und zu Arbeitsbeginn wieder nüchtern sein, nur dass dort die natürlichen Abfolgen, die Vegetationsphasen und Jahreszeiten vom künstlichen Licht und der Fernheizung noch nicht komplett verdrängt sind. Insofern ist aber das Land eben nicht der Gegenentwurf zur Stadt, kein gegenüber, keine Negativkopie.
In den Gedichten Markus Hallingers stellt es sich als das Eigene, eine eigene Welt dar, die der unseren zwar verbunden ist, aber durch sie nicht erklärt werden kann. Wenn sie überhaupt erklärt werden kann, dem der sie nicht lebt. Aber Hallinger erklärt sie ja auch nicht. Er zeigt sie in grandiosen Stücken.
Sehr beeindruckt war ich von den kleinen Portraits der Bewohner Karl, Lisbeth, Else, Gustl … (Der Gustl trägt ein l bei sich / ein kleines l so sieht er sich). Hallinger zeichnet sie mit Liebe aber auch mit Distanz, einer Distanz, die mir nötig scheint, um das Leben der anderen, hier wie dort, auszuhalten. Und das Sprachspiel erwächst aus dem Namen und dem Dialekt. Ein wunderliches, ein wunderbares Buch.
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Das Eigene von Markus Hallinger, Gedichte, Lyrikedition 2012
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