In dem Satz, dass die Welt aus den Fugen sei, steckt zumindest die Behauptung, dass die Welt einmal gefügt war. Aber das war sie nie, von Anfang an zeigt sie sich als Gegenüber, mit dem man irgendwie verbunden ist. Man ist sein Teil und ist es nicht. Und die Frage der Orientierungslosigkeit, ist eine Frage der ordnungsgebenden Instanz, die wir fraglos selber sind, in deren Funktion wir noch immer versagten, „draußen im Leben“. Wir versagten immer, hätten wir nicht die Kunst, um diesen Zustand zu betrauern und in der Trauerarbeit eine Form zu entwickeln, die aufgeht, einen Abguss der Welt, der funktioniert, und der deshalb nie realistisch sein kann. Einen solchen furiosen Weltentwurf legt Swantje Lichtenstein mit Horae vor.
Sechs Kapitel, jedes einem Widerstand gewidmet, eröffnet von einem Gedicht, das aus sechs Zweizeilern besteht, denen sich zwölf Gedichte anschließen, die mit einem Vers aus den Zweizeilern eröffnen und jeweils zwölf Verse aufweisen, die in vier Strophen gegliedert sind. Eine fast Schönbergsche Ordnung, denn wie in der Zwölftonmusik kehrt alles was aufgerufen ist, irgendwann wieder, nichts wird preisgegeben, eine Ordnung der Beschwörung.
Ein Vorsatz und ein Nachsatz, der die Behauptung aufstellt, dass man auch von hinten beginnen könne. Gewissermaßen ist die textliche Anordnung eine Form der Harmonie, die durch ihre Kugeligkeit eine gewisse Hermetik antäuscht. Die Sprache aber ist furios und man kann in jedem Moment einsetzen.
Da ist es gut, wenn man sich zunächst den Illustrationen von Lisa Wilkens widmet. Wobei das Wort Illustration den Kern der Sache verkennt. Man muss eigentlich sagen, dass dem Lichtensteinschen Gedichtgebilde ein herrlicher Zyklus Wilkenscher Radierungen beigegeben ist. Der Verlag begründet das mit dem sich Ähneln der Arbeitsweisen und Techniken, immer wieder werde die Oberfläche der Gebilde aufgeraut, angekratzt, gewissermaßen zerstört, um letztlich zum Kern der Arbeit zu kommen, der ja auch wieder Oberfläche ist.
Denn nur auf Oberflächen herrscht Kunst. Es handelt sich also um sechs Radierungen, die das Werk einerseits ergänzen, die es mir aber auch eröffnet haben, denn wie ein Kind habe ich zuerst die Bilder angeschaut, und eines zeigt einen Hirsch, aufgehängt wahrscheinlich nach seiner Tötung. Besonders lange blieb ich an diesem Bild hängen, an der Darstellung eines vergangenen Lebens.
Horae ist die griechische Göttin der Natur und der Jahreszeiten, die im Verlaufe eines Jahres altert und verjüngt im Frühling erneut die Bühne betritt. Im Vergehen bildet sie zugleich den Widerstand gegen das Vergängnis, und so geht auch der Gedichtband vor. Indem er eine Ordnung schafft, bildet er Widerstand gegen Ordnung. Vielleicht wäre das der Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft, in Freiheit, die als Traum fortexistiert, die in der Kunde von Unfreiheit und Verletzung angemahnt wird. Denn im Halten an die Form, was im strengen Sinne ja einer Unterwerfung gleichkommt, gelingen Lichtenstein sprachliche Konstrukte, die man nur als frei beschreiben kann. Unbedingt lesen, bitte.
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Horae//Gedichte//Quartheft 33/ von Swantje Lichtenstein /Edition Belletristik//116 Verlagshaus J. Frank//Berlin 2012
Weiterführend → Das Hungertuch für Literatur 2013 geht an Swantje Lichtenstein
→ Ein Recap des Hungertuchpreises. Eine Liste der bisherigen Preisträger finden Sie hier.