Wie lange wollen wir noch leben, wie lange sind wir noch wach, wie könnte es anders sein, wie besser, wie wahr, wer hat darüber nachgedacht, bis zuletzt, wo ist das Letzte, wer schleicht durchs Haus? Es ist dunkel, und ich denke an Andenken, ich schwenke von Furcht zu Tadel, ich senke, gäbe es kein A in der Reihe der sich beugenden Verben, ich sinke, wie so manches in Caroline Hartges Gedichten: in den Schlaf, auf den Boden, auf den Grund der Tatsachen, in mich hinein, ich sinke, singen wir, ich sehne … ich sehe, dass diese Texte von der Sehnsucht handeln. Es ist eine Sehnsucht, die nicht gestillt werden kann, darf, muss. Wer die Sehnsucht hat, geht weiter. Und dass es weitergeht, ist vielleicht der Sinn. Wir wissen nichts. Wir trösten uns.
Um die Suche nach Trost geht es nicht nur in dem Gedicht WO IST TROST in dieser welt, sie klingt auch in vielen anderen an. Die Texte scheinen dabei gleichzeitig der Versuch einer Tröstung zu sein, das frische brot im küchenschrank / und später im traum: deine augen / freundlich aufmerksam.
Lose Wolken, der Titel des Buches, korrespondiert mit dem Titel loses gedicht (ohne kopf), das mir nicht aus dem Kopf geht und bei dem ich zunächst an ein Gedicht ohne Titel mit wildem Flattersatz denke, kopflos niedergeschrieben, mit Herz und Verstand, schließlich aber erkenne: ein Wutgedicht und gleichzeitig mehr, ein Gedicht auf der Schneide (zwischen Leben / Tod), ein Gedicht auf der Schneise, ein Gesicht-Gedicht, ohne Kopf sein Gesicht bewahren, ohne Zopf an den Elfen vorbei die haben Bärte, die haben Bärte … Ich bin begeistert, bin begeistert, werde recht haben, dass dieses Gedicht nicht nur seine Hinrichtung überlebt (vermutlich ist ihm im Nachhinein der Titel weggenommen worden), sondern weiterlebt und -bebt in 50 oder 100 Jahren, dass dies geräusch. wenn der kopf in den korb fällt / ins blutgetränkte Stroh uns daran gemahnt, dass alles Halbe eben doch nicht ganz ist, sondern dass es darauf ankommt, wo die Trennlinie verläuft. (Am Hals ist schlecht.)
Kennt jemand Rottekuhlen oder Göpelwerk? Das finde ich so bemerkenswert an Hartges Dichtung, die Bezeichnung ›Wortschatz‹ wird greifbar, alte, ungeläufige, regionale Wörter werden ausgegraben, zum Leuchten gebracht, es ist wahrhaftig ein ›Schatz‹, den wir mit der Sprache haben, um komplexe, heilige, verborgene, kaum zu fassende Dinge zu beschreiben. ein abtun ein abstreifen der bösen dinge / der rinde des rauhen basts ein liegenlassen / in den rottekuhlen …, das Dichtwerk ist ein Uhrwerk ist ein Mauer- und Dauerwerk, kein Blendwerk, ein Wendwerk, ein Bergwerk; das gedicht, das und dass nicht/s wa(h)r spricht von den Absonderungen des Lebens, vom Altern, vom Kranken, vom Überdruss, vom Sich-Erschöpfen, aber auch vom Aussprechen, meine sprache alles weg / weg die doppelstämmigkeit der briefe wie besuche … weg das nicken über den nachbarfirst / aus dem das kind große tiere herauslas / weg die lohenden farben die wohlverpichte dichte / lecke gefäße, grobes wollzeug meine sprache / ungeschützt im wind. Das Altern ist aber nicht nur Beklagen, an anderer Stelle geht es um den Wunsch, endlich und endgültig innezuhalten, sich hinzulegen, zu sinken: auf die gute erde.
Was tue ich? Geht denn das? Lyrisch über Lyrik schreiben? Es geht (nicht anders), muss so sein, darf’s also noch etwas mehr sein? Wer mag das bestimmen wollen? Vielleicht jemand in den Schlössern von gestern? Soist ein Zyklus überschrieben, in dem geprüft wird, was eine Stadt ist, was von Dauer, wo die Briefe herkommen, was einen Ort zu einem Ort macht, zu einem Ort im Herzen und / oder zu einem Ort, von dem man fort muss, irgendwo gangeln Glocken, und ich halte diese Wortform schon für die Vergangenheit von gängeln, im Richard-Wagner-Web ist es ein Synonym für schleichen, täppisch gehen, doch auch das trauen wir Hartges Glocken zu, zumal sie ja bereits unter ihren Röcken Kinder eingesammelt haben.
DIE WIRKLICHEN ORTE sind alle / unwirtlich; zu selten / bricht das magische durch // kann nicht gegenwärtig sein hier / bei der hinfälligen hoffnung dem quergebrochenen Kreuz / den schmerzlichen gesichtern / meiner geschwister / die wolken lasten auf unseren schultern der himmel / unsichbar. kann nicht gegenwärtig sein hier (…) Ich denke beim Lesen dieser Gedichte an die neuartige, halsbrecherische, faszinierende Sportart Parcour, in der der Traceur eine Strecke auf den Stadtplan zeichnet, die er dann, mit nichts anderem als Körperkraft und Körperbeherrschung, gehend, kletternd, klimmend, springend überwindet. Zwar behauptet die Dichterin nicht hier zu sein, aber man merkt, dass sie all das – real, nicht virtuell – gefühlt, berührt, durchschritten, abgewandert hat, in Echtzeit.
Wer Wolkiges oder Leichtes erwartet hat in Caroline Hartges Losen Wolken, wird dies höchstens in dem eigentümlichen Sound vorfinden, der eingängig und flüssig komponiert ist. Inhaltlich geht es allerdings um Steiniges, um Hindernisse: um die Grenzen von Leben und Sprache. Doch der Zaun, der auf dem Umschlag abgebildet ist, lässt hoffen, ein Stück ist abgebrochen, er geht nicht ganz rum, da ist eine Lücke, da sind Kreuze, das sind Kreuze, ein Kreuzgang? Ein Geländer, ein Halt? Ein Schutz, eine Begrenzung, eine Begegnung auch, ein Durchbruch, der auf eine helle Ebene führt.
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Lose Wolken, Gedichte von Caroline Hartge, Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2012
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