„Vom Glück der großen Zahl sprechen am liebsten die Millionäre“ – dieser Aphorismus ist einer der typischsten von Werner Hadulla. Weshalb? Zunächst besteht die Gefahr, dass der Leser trotz der gegenwärtigen Medienpräsenz dieses Themenfeldes müde abwinkt: „große Zahl“ und „Millionär“, beide miteinander kombiniert, ergeben ein belangloses Wortspiel. Diese Einschätzung wäre richtig, gäbe es hier keinen doppelten Boden: Das „größte Glück der größten Zahl“ bildet das Grundprinzip des auf Jeremy Bentham zurückgehenden Utilitarismus. Bezeichnenderweise sind deren Anhänger heute im Durchschnitt recht begütert. Der Aphorismus ironisiert also vielmehr die Tatsache, dass der Utilitarismus sowie der wesensverwandte Liberalismus längst zur schäbigen Ethik der Gewinnler verkommen sind – eine Aussage, die über das bloß Wortspielerische weit hinausreicht.
Auch über eine Einsicht wie „Die haltbarsten Kompromisse schließen wir mit uns selbst“ sollte man nicht zu schnell hinweglesen. Denn hier lassen sich ebenfalls mehrere Bedeutungsebenen ausmachen. Blickt der Verfasser nüchtern und frei von Selbstironie auf das eigene Leben zurück? Kritisiert er die selbstgerechte und bequeme Vermeidung jedweden Ehrgeizes, die sich in einem solchen Resümee äußert? Oder richtet sich der Blick auf die Mitmenschen, deren Wankelmut sie als Partner für dauerhafte Verträge, wie sie Kompromisse sind, disqualifiziert?
„Am Ende“, so Hadulla, „behält der Hypochonder Recht.“ Dieser gelungene Witz, dessen Wahrheit sich faktisch nicht von der Hand weisen lässt, hat seine Existenzberechtigung, auch wenn ein anderer Autor viel früher zur komplementären Erkenntnis gelangte: „Man hatte dem Kranken so lange Hypochondrie nachgewiesen, bis er an seine Unsterblichkeit glaubte“, schrieb der Schweizer Beat Schmid 1975.
Mehrere Gemeinsamkeiten verbinden Hadulla (Jg. 1926) mit Wolfram Weidner (1925–2009): Beide arbeiteten als Journalisten in Bonn, die Aphorismen beider Altersgenossen sind klar und schnörkellos formuliert, ohne Vagheiten, ohne poetelndes Raunen. Weidner („Geld verträgt sich mit Geschmack erst in der dritten Generation“) ist der bissigere, politischere, Hadulla der versöhnlichere Autor. Beide ließen sich Zeit mit ihrem aphoristischen Debütband. Weidners Meckerbissen erschienen 1999. Manches darin war schon in einem Kalenderbuch von 1979 zu finden. Auch Hadulla hat lange gesammelt. Einige Aphorismen im vorliegenden Band, der 2012 herauskam, sind den Besuchern seiner Lesungen seit mehreren Jahren vertraut. Nach vier Büchern mit Limericks – das erste (1980) unter dem Pseudonym Werner Horand veröffentlicht und bereits von Hans Weber illustriert – hat Hadulla Erfahrung darin, ein Autor gering angesehener literarischer Kurzformen zu sein. Vielleicht begünstigt dieser Umstand seinen unprätentiösen Stil. Aphorismen. Ja, es gibt gute Menschen. Man muss uns nur entdecken ist ein Buch für Leser; die Halbwelt des etablierten Feuilletons wird wohl kaum daran Freude finden – oder in pejorativer Routine nur Schwachstellen zitieren, etwa Ideen, über die schon zahlreiche Autoren variierten: „Wie einfach, in einem Hohlkopf Resonanz zu erzeugen“ oder um Witzigkeit bemühte Komposita wie „Honorarizont“.
Es handelt sich um einen Band mit Licht und Schatten. In seiner Frische und Lebendigkeit jedoch lässt er die jüngsten aphoristischen Exkurse mancher Großautoren wie Rolf Hochhuths Was vorhaben muß man (2012) oder Martin Walsers Meßmers Momente (2013) blass aussehen.
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Werner Hadulla: Aphorismen. Ja, es gibt gute Menschen. Man muss uns nur entdecken. Mit Illustrationen von Hans Weber. Verlag edition unica, Leipzig 2012.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.