Anschaulich, rätselhaft, hinterlistig und umtriebig sind die meisten der 43 Erzählungen, die in diesem Band aus Anlass des 70. Geburtstags des renommierten Schweizer Autors vereint sind. Gebündelt in sechs großen Abschnitten, die ebenso eigenartige Überschriften tragen wie die Erzählungen selbst, wird der Leser gleich zu Beginn mit einer beinahe absurden Situation konfrontiert. In der Auftakterzählung Der Rand von Obermundigen klingelt das Telefon am Rande von Obermundigen und ein Mann, der neben dem Telefon sitzt, teilt einem mit: „Das ist der Rand von Obermundigen“, widerspricht jeder andersartigen Behauptung der Teilnehmer und hängt auf. Doch diesen Mann, so der Erzähler, kenne niemand, um seine Leser im nächsten Augenblick wieder zu beunruhigen, indem er sein hypothetisches Spielchen weiter treibt. Ist das nicht albern? Im Gegenteil, der Erzähler hat Recht! Die Meldungen, dass sich dieser Mann mit seiner Stimme in Rundfunk- und Fernsehprogramme einschalte, ja sogar in Zeitungen mit der Nachricht “Das ist der Rand von Obermundigen“ die Öffentlichkeit überrasche, häufen sich. Und die Vertreter von Politik, Wirtschaft und Kultur? Sie beginnen ihre Reden mit diesem Satz, um der Meldung zuvorzukommen, dass … Und welchen Ausweg schlägt der Erzähler vor? „Dieser Satz muss zum Schweigen gebracht werden.“
Doch im weiteren Umkreis von Obermundigen bewegen sich, angeregt durch die dichten Assoziationsfelder des Erzählers, noch andere Figuren. Wie zum Beispiel der Mann, der gerne ein Kauz sein möchte und … es tatsächlich ist. Seine Wohnung ist mit allerlei skurrilen Gebrauchsgegenständen und Abbildungen mit komischen Motiven bestückt. Und manche Überraschung wartet auf einen Gast, wie z.B. ein Skelett, das … Doch bleiben Sie nicht zu lange in der Wohnung des Kauzes, warnt der Erzähler, denn er könnte sich schnell in ein anderes Wesen verwandeln. Und dann, Gnade Gott! Und weil von Gott die Rede ist: Das Haustier, das der einsame Erzähler in einer Tierhandlung erwirbt, das von außen wie ein seltsamer Affe aussieht, entpuppt sich nach einer längeren Betrachtung des pelzigen Wesens und dessen Weigerung, irgend etwas zu essen als … ein kleiner Teufel mit seltsamen Eigenschaften. Er hat eine Figur, die zum Aufrechtgehen gemacht ist, die sich nicht wie ein Hund hinlegt, nicht richtig sitzen kann. Sein Besitzer baut ihm deshalb einen kleinen Stuhl, was dem Teufel nicht gefällt. Deshalb erhält er eine Hängematte, auf der er ganze Tage mit großer Begeisterung schaukelt. Seltsam, dass er zunächst nur trinkt und als er essen möchte, beginnt das tägliche Ungemach. Er ist außerordentlich wählerisch, isst nur das beste Fleisch, und wenn ihm der geduldige Haustierbesitzer nur billige Kutteln vorsetzt, faucht er. Doch was dann passiert, ist ekelhaft: Er fängt an, kleine Haufen zu scheißen, die noch dazu flüssig sind. Mehr noch: der kleine Teufel erweist sich als allergisch gegenüber allen religiösen Bildmotiven und dem Geläut der hausnahen Kirche. Die Komplikationen und die Geruchsbelästigungen häufen sich, doch nach Prüfung aller Alternativen kommt der Besitzer des eigenwilligen Teufels zu einem auch für den Leser beruhigenden Ergebnis.
Und der Geisterfahrer? Zunächst beginnt alles wieder sehr harmlos. Wie behaglich eine Autofahrt zu zweit des Nachts sei. Man müsse sich nicht in die Augen sehen, könne sich spannende Geschichten erzählen, wie zum Beispiel von der schwarzen Frau, die in der ganzen Alpengegend bekannt ist. In ihren schwarzen Kleidern steht sie an der Kurve einer Bergstraße, hebt die Hand. Und dann passiert etwas Mysteriöses. Wer sie mitnimmt, der stellt nach einer Weile fest, dass sie sich aufgelöst hat. Und wer an ihr vorbeifährt, der bemerkt mit Schrecken, dass sie hinten im Fond seines Wagens sitzt. Viel schlimmer aber sei die weiße Frau, die begleitet von vielen Männern in seltsamer, altertümlicher Kleidung die Autofahrer erschrickt. Besonders die häufigen Karambolagen auf der Autobahn bei Kestenholz hätten dazu geführt, dass … doch die Schweizer Polizei ist vorsichtig bei ihren Aussagen über die Ursachen der schrecklichen Unfälle. Selbst wenn es nicht wahr sein sollte, sei es doch wirklich, sagt der nüchterne Erzähler. Auf jeden Fall hätten diese Unfälle nach der Konsultation von Sagenforschern und Ethnologen dazu geführt, dass die Überholspur bei Kestenholz gesperrt wurde. Seitdem wäre auch die weiße Frau samt ihren Begleitern nicht mehr zu sehen gewesen.
Dass Franz Hohler auf der Klaviatur der unterschiedlichsten Erzählmodelle spielen kann, verdeutlicht der kleine Zyklus „Das verspeiste Buch“. In sieben Kapiteln wird eine seltsame Geschichte über den Urgroßvater des Erzählers genüsslich ausgebreitet. Der habe in einem Baseler Restaurant auf eine Wette hin ein Buch verspeist, danach Übelkeit vorgetäuscht und sich vom Acker gemacht. Beim Lesen solcher Geschichten werde man, wie Roger Willemsen in seinem pointierten Nachwort betont „von einer Suggestion erfasst, die sich dauernd verdichtet, und sollte man selbst den Grundeinfall durchschaut haben, wird man durch die Hakenschläge des Autors doch immer wieder der Banalität der eigenen Vorwegnahmen überführt.“ (S. 567) Überführt wird aber nicht nur der Leser dieser Geschichten, wenn er glaubt, er wüsste doch einen Ausweg aus manchen Labyrinthen. Auch der Erzähler selbst irrt durch seine Träume und sucht – unter Lebensgefahr – nach einem Ausgang, wie in Der türkische Traum.
Eine wundersame und zugleich von Schrecken erfüllte Geschichte von türkischen Terroristen, mit denen der Erzähler handgreiflich in Berührung gerät. Autobiografisch ausgeschmückte Erinnerungen mischen sich mit Traumfetzen, pseudo-reale Ereignisstränge führen mitten in Mordgelage … am Ende ist nicht nur der Leser froh, mit dem Leben davon gekommen zu sein.
In den zwischen 1972 und 2011 in unterschiedlichen Sammelbänden, Zeitschriften und Tageszeitungen veröffentlichten Texten überwiegen narrative Verfahren, in denen das Phantastische in den normierten Alltag so unmerklich einbricht, dass der Erzähler, ausgerüstet mit allen Fähigkeiten, die Wirklichkeit zu transzendieren, sich dem Strom der Ereignisse hingibt und dennoch seine Figuren lenkt. Denn eines ist festzuhalten: das Gespür für die Defizite im modernen, hoch technisierten Leben seiner Eidgenossen ist der hohen erzählerischen Begabung von Franz Hohler gleichsam im Schlaf gegeben. Und aus ihm wird der Leser immer wieder herausgerissen. Träumend ist er aufgeschreckt, heilfroh darüber, dass er nicht in den Irrungen und Wirrungen der Geisterfahrer verschwunden ist. Wer seine LeserInnen so auf der Achterbahn der phantastischen Realität immer wieder schwindlig erzählen kann, der gehört in die Championsliga der europäischen Literatur.
***
Der Geisterfahrer. Die Erzählungen von Franz Hohler. Mit einem Nachwort von Roger Willemsen. München (Luchterhand) 2013