Zum 5. Todestag von Peter Rühmkorf erinnert KUNO an den Lyriker mit einem Gespräch, daß Francisca Ricinski mit ihm geführt hat.
F. Ricinski: Bei Ihrer jüngsten Lesung im Museum Arp zeigten sich über 100 Zuhörer von Ihrer scharfsinnigen und auch sinnlich / melancholischen Poesie, Ihrer entflammenden Dialogs- und Rezitationskunst und nicht zuletzt von der Natürlichkeit Ihrer Person begeistert. Was empfindet man bei einem so hohen Ansehen, wie gehen Sie damit um? Finden Sie nicht, dass die erste Silbe Ihres Familiennamens schon den Hinweis auf eine Prädestinierung zum Ruhm enthält?
P. Rühmkorf: Sie sind sehr freundlich zu mir, was mich freut, wie die allgemein – doch, das darf ich schon sagen – geneigte Aufnahme bei einem nicht ganz unelaborierten Publikum im Künstlerbahnhof Rolandseck. Immer bedenken Sie: ein aufgeschlossenes und zunehmend animiertes Publikum ist schon die halbe Miete. Und wo der Resonanzraum sich zunehmend belebt, kommt man auch selbst rückbeflügelt auf Touren. Allerdings: mit den Namensdeutungen ist das immer so eine Sache. Tatsächlich hat der Name mit Ruhm zunächst gar nichts zu tun. Die niederdeutsche Wendung bzw. Bedeutung lautet „Räume den Korb“ (zu vergleichen mit dem Übernamen „Störtebecker“) – nur dass es, und da legen sich ganz andere Verwandtschaften nahe, leider die Körbe anderer, fremder Leute waren. Schlicht und schlimm, es war ein uraltes Plünderergeschlecht, das sich in vergleichbaren Charakterisierungen häufiger findet. „Rümelant von Sachsen“ (ein bekannter Minnesänger) läßt sich insofern als „räum das Land“ übersetzen. Abgesehen mal ganz von dem mir nicht gerade ans Herz gewachsenen Mister „Rumsfeld“ ,dessen Family auch heute noch gern anderer Leute Felder, insbesondere Ölfelder mit Beschlag belegt. In einer eher gutartigen Version – die ich mir selbst so zurechtgelegt habe – könnte es dann allerdings auch so verstanden werden, daß ich mich an allen möglichen Gabenkörben der deutschen Literatur bedient habe und mir aus unterschiedlichen Entwendungen/Zuwendungen mein eigenes Kompott zurechtgekocht habe.
F. Ricinski: Über Sie wurde stets und vielfältig geschrieben. Wenn aber nun nicht von Literaturkritikern oder Rezensenten, sondern von Ihnen selbst, ein einziger Satz über sich und zu den eigenen Werken für ein neues Lexikon der Weltliteratur verlangt würde, wie würde ein solcher Satz lauten?
P. Rühmkorf: Ein Allverwender, der sich alle vorhandenen Vorgaben zu einer eigenen Mixtura solvens zusammengemischt hat. Ein Cocktailschwenker. Allerdings, die Zusammensetzung ist geheim und der Mixbecherschlenker eine Umspringfigur.
F. Ricinski: Eine Autogrammstunde scheint für Sie keineswegs eine Pflichtübung zu sein. In Rolandseck nahmen Sie sich viel Zeit, um sich mit jedem Käufer/Leser Ihrer Bücher zu unterhalten. Zwischen Dichter und Lesern entstand ein empathischer Dialog, so authentisch und intensiv, dass Sie ihre Tabletten vergaßen und Hunger oder Müdigkeit nicht mehr spürten. Erst nachdem sich die lange Schlange sich aufgelöst hatte, merkten Sie: Ich bin alt und kaputt.
P. Rühmkorf: Ja, natürlich. Ich hasse diese quasi unbeteiligten Unterschriftsableistungen. Ich kenne ja die Kollegen und will mich über deren oft lieblos hingeleisteten Unterschriften nicht äußern. Sehen Sie, da tauchen auf einmal aus archaischen Urzeiten bekannte Freunde oder Klassenkameraden auf, bzw. bereits Kinder von einmal vertrauten Freunden oder Freundinnen. Das Heimatdorf Warstade-Hemmoor. Die Oberschule, das Stader „Athaeneum“. Die frühen Uni-Jahren und Seminargenossen, die man bereits aus der Erinnerung verloren hatte. Selbst irgendwelche einmal befreundet gewesenen Kumpels aus braunen Nazizeiten – DJ oder HJ – oder viel inniger verbandelte Parteigänger aus unserem kleinen Antinaziclübchen in Stade. Daran kann man doch gar nicht unbeteiligt vorbeigehen. Alles rührt etwas auf. Irgendwo werden einem Geschichten zugetragen, die man entweder gar nicht oder so nicht mehr in der Erinnerung hatte. Bis dann die Stunde naht, wo du merkst, du bist alle. Du kannst nicht mehr: Du gehst auf die 77 zu und möchtest irgendwann gegen 23Uhr30 doch mal was essen und dann auch schleunigst zu Bett.
F. Ricinski: Alt fühlten Sie sich schon in Ihrer Adoleszenz und auch in den 70ger Jahren, als Sie erst 41 wurden …
P. Rühmkorf: Auch für mich nicht ganz uninteressant. Es gibt ja gewisse Motive, die einem schon früh zu schaffen machten oder einen niederdrückten. Aber diese gewisse Abwärtsschleife hab ich niemals widerspruchslos hinnehmen mögen. Immer den Durchgänger überwinden und nach oben wenden wollen. Anders gesagt, am Schluß des Gedichts will weder ich noch das Publikum in den alles verschlingenden Abgrund blicken. Im Zitat noch mal richtig authentisch: „Die Menschheit will am Schluß des Lieds/neu aus den Augen sehen.“ Kurz, da müssen wir durch. Und zwar gemeinsam. Und vielleicht ist das überhaupt die Kennungslinie meiner eigenen poetischen Signatur, daß ich dieses Bedürfnis nach einer Selbsterhebung aus dem Erdendreck als opinio communis wahrgenommen, ernst genommen und insofern eine Vielzahl von sozialen Imperativen in die Welt gesetzt habe. „Komm raus“! – Bleib erschütterbar und widersteh“! – Phönix voran“! – „Einmalig wie wir alle“ – Laß leuchten“! – und was dann als insgemeine Frohe Botschaft verstanden werden kann.
F. Ricinski: Andererseits erzählen Sie in „TABU II“ eine prickelnde Liebes-geschichte, in der auch Ihr zehn Jahre älterer Freund Erich vorkommt. Durch die Aufhebung der nicht mehr relevanten Altersgrenzen wirkte ein solches erotische Erlebnis aus liberalisierten, freizügigen Zeiten auf Sie wie die „Einlösung einer Utopie“. War die Frühklage übers Älterwerden und Altsein echt oder mehr eine Koketterie bzw. Provokation? Denn Sie sind ein junger Sechsundsiebziger, vielleicht sogar jünger als vor dreißig-vierzig Jahren!
P. Rühmkorf: Ja, diese absolut verbotene Liebesgeschichte da. Zwei olle Kerle – nebenbei ein Druckfehler, der zu korrigieren wäre: Der Freund Erich war nicht zehn, sondern gerade mal fünf Jahre älter als ich – bloß´, das ist nach zahlreichen Erfahrungen und Beobachtungen alles andere als ein Kerls- oder Männerproblem. Was mich mindestens im gleichen Maße als Motiv angezogen hat, sind propre ältere Frauen, die sich einfach einen jüngeren Geliebten geschnappt haben, der noch nicht so richtig wußte, wie die Welt eigentlich läuft. Heißt als Evangelium: einfach den eigenen Trieben folgen und vielleicht einen ungelösten Meta-Mama-Komplex konkret und realiter in Lust auflösen. Nicht in Luft, wohlverstanden, denn die Druckfehler liegen allenthaben tückisch auf der Lauer. Im Resümee: mal die Altersschranken rücksichtslos überwinden wollen und – wenn’s schief läuft – das dann, was allerdings nicht jedem, jeder gegeben ist, die Verluste, Versagungen, Abweisungen poetisch-artistisch in ein tragikomisches Licht setzen. Nebenbei, Poesie muß als literarische Disziplin nicht unbedingt das letzte Wort behalten. Es gibt – was mir mal jemand zugeflüstert hat – poetische Menschen“, und da kannst du noch soviel dichten, gegen solche kommt man nicht an. Ich habe selbst schon Nebenbuhlern oder Kombattanten applaudiert, wenn sie mich – entgegen meinen eigenen Ambitionen – einfach menschlich entzückt haben. Es ist ja fast schon eine Religion, die ich damit auskündige. Aber, bitte, ich bin der Prophet und nicht in jedem Fall auch der Nutznießer.
F. Ricinski: Im Museum Arp lasen Sie Gedichte über Liebe und Lust, evozierten Romanzen nach dem Vorbild des Casanova und des klassischen Seeemanns, mit so vielen Geliebten wie Häfen. Nach dem Gedicht „ Mit den Jahren…Selbst III/88“ hörte der Beifall nicht mehr auf! Und schnell nahmen Sie uns, die „Oldtimerfreunde(n)“ mit, „um der Welt auf Teilstrecken nahezukommen“: „Hamburg-Altona-Bremen-Münster-Dortmund-Bochum-Essen-Duisburg-Düsseldorf-Köln- / und in jeder vorüberrauschenden Stadt / eine Frau wie ein aufgeschlagenes Buch“ Mit „Bahnhof Rolandseck“ setzten Sie Ihre Fuge von Städten und Liebesromanzen fort, „na du weißt schon, diese frühvollendete Dahlie im Kieselbeton“ …
Suchten Sie diese Texte aus, da sie generell eine sichere Resonanz haben? Oder eher weil Sie ein stürmischer Liebhaber und Liebender geblieben sind, auch wenn die Liebe sich nun mehr in Worten und Bildern verdichtet oder die (Selbst)Ironie und eine nüchterne Reflexion sich öfter und schärfer mit der Melancholie paaren?
P. Rühmkorf: Das Gedicht „Mit den Jahren…“. Kein ganz unkompliziertes Ding. Hab ich mindestens 2-3 Monate dran gearbeitet, um über zahllose Umwege dann zu dieser allerdings artistischen Lösung zu finden. Wir hatten es zunächst als gemeinsam genossene Bilanz unserer Jazz- und Lyrik-Touren aufführen wollen – Aber es wollte doch, Heavens, keine Erobererphantasie sein/werden, sondern eine nach dem Leben gemalte Breitwand-epopöe. Ich wußte zu Beginn auch noch gar nicht, auf welche Stationenfolge es am Ende auslaufen würde. Entweder auf eine Musiktour mit so lebensechten Örtern wie „Musen“ – „Lyren“ – „Klingenberg“ – „Schallstadt“ usw. – aber der Anfang hatte da nun mal so eine gewisse erotische Linie vorgegeben, und die hab ich denn bis um Fastschongehtnichtmehr durchgezogen. Alle wirklich vorhandene Ortschaften. Zum Teil besuchte und zum andern im Postleitzahlverzeichnis aufgesuchte – und was letzten Endes den Effekt macht, sind nicht die ausgedachten Dinge, sondern die Anzüglichkeiten, bzw. Bezüglichkeiten, die jedem Mann, jeder Frau nicht unbemerkt geblieben sind. Meine, entweder durch Örtlichkeiten der näheren Umgebung. Oder durch niemals unkommentiert gebliebene Durchreisestationen. Offen gesagt, ich dichte freiweg an allgemein vertrauten Situationen oder auch Reisestationen entlang. Und was dann applaudiert wird, ist nichts anderes als der soziale Wiedererkennungseffekt. Wieso sollte ein Vortragsreisender eigentlich daran vorbeidichten? Das Publikum dankt es einem, und erst dadurch ergibt sich ein – ,zeihung! – öffentlicher Resonanzrahmen. In der P-P-P-Reihenfolge habe ich, dem pp. Publikum zuliebe, sogar ein vorhandenes „Paar“ zu einem ortsnahen „Prüm“ umgedichtet, kleine Verbeugung vor dem Veranstaltungsort, und wenn das Schloß Dudeldorf zufällig Dödelsdorf geheißen hätte, wäre es statt in die zunächst geplante Lautlinie selbstverständlich in die lautmalerische Ero-Schneise eingereiht worden.
F. Ricinski: Wünsch mir im Himmel einen Platz / (Auch wenn die Balken brächen)/bei Bellmann, Benn und Ringelnatz / und wünschte, dass sie einen Satz / in einem Atem sprächen: / Nimm Platz“. Wie wichtig sind Vorbilder für einen Autoren?
P. Rühmkorf: Bellmann-Benn-Ringelnatz, das ist natürlich nur so eine vorläufige und verkürzte Linie meiner Vorlieben. Dazu muß man dann noch den halben Expressionismus rechnen. Nicht bloß J. van Hoddis, Heym und Trakl, sondern ebenfalls solche Geheimtipps wie Ferdinand Hardekopf: „Doctor Schein und Doctor Sinn / gingen ins Café: / Schein bestellte Doppel-Gin / Sinn bestellte Tee.“
Aber da kommen wir dann schon wieder ins Auszählen und schweifen unwillkürlich zurück – zu Richard Dehmel und Lilienkron – und dem unermüdlichen Experimentator Arno Holz, den ich schon in frühsten Jünglingsjahren in mich aufgesogen habe, wobei auch das damals so genannte „Neues Deutschland“ (Freiligrath und Georg Herwegh) eine eigene prägende Rolle spielten. O – Fontane als Lyriker hab ich völlig vergessen. Bisschen schneidig-preußisch, aber allzeit auf dem Kiewief. Absolut exzellenter Techniker und – als Bewidmer – immer allererste Meisterklasse.
F. Ricinski: Welche Begegnungen haben in besonderer Weise Ihre schriftstellerische Entwicklung befruchtet? Hat man als Dichter, besonders wenn man erfolgreich ist, noch Freunde?
P. Rühmkorf: Ja, die Tagebücher. Damit wechseln wir allerdings zu einer ganz anderen Gattung über. Im Allgemeinen lese ich solche autobiographischen Lebenszeugnisse lieber als lang-und-dicke-Romane. Eine absolut überragende Nummer schon seit Uni-Zeiten: der geliebte Karl Philipp Moritz. Eine behutsam als Roman getarnte Autobiographie. Und dann das ganze Riesenkonvolut von Tabus, angefangen bei Samuel Pepys bis zu dem schon weniger bekannten James Boswell und – später, später – den schon ziemlich rücksichtslosen Selbsteröffnungen von Franz Kafka und, na, wie hieß er noch – ah ja! diesem schon bemerkenswert abseitigen Paul Léautaud.
F. Ricinski: Einerseits verurteilen und verabscheuen Sie die Aktionen der RAF, andererseits waren Sie damals wegen der Verhaftung Ihrer Pressekollegin Ulrike Meinhof erschüttert. Eine nicht so leicht auszuhaltende Spannung, ein kompliziertes Mühlwerk, das sich in Sätzen wie diesem verrät: „Ich? Kloß im Kugelschreiber“.
In Bonn hat Kresniks Choreographisches Theater Sequenzen aus der Biographie von Meinhof tänzerisch überarbeitet und aufgeführt. Denken Sie vielleicht auch, diese brutale „Reality-Show“ in ein Bühnenwerk einzusiedeln? Verwandelt in Sprache, würde selbst eine solch schreckliche Wirklichkeit über sich selbst hinauswachsen und läutern.
P. Rühmkorf: Ich kannte Ulrike Meinhof (recte Ulrike-Marie Röhl) zu gut, um mich außer in einem psychologischen Medaillon in ihr Leben und Ableben einmischen zu wollen. Alle literarischen oder bühnenmäßigen Aufwirbelungen waren mir obsolet und schienen mir eher in das Fach der Verspektakualisierung zu fallen. Ich habe mich da eher keusch und unauffällig auf der Seite gehalten.
F. Ricinski: Ihre Minnesänger-Nachdichtungen und auch Rühmkorfs meisterhaft gereimte Gedichte erinnerten die Zuhörer, was Poesie ursprünglich war: Rhythmus und Melodie. Warum gerade Walther von der Vogelweide? Aus philologischem Interesse, einem Gefühl der verwandten Spiritualität und Sinn für die Sprache, aus einer tief empfundenen Verantwortung für das poetische Erbe heraus? Wollten Sie nur mal sehen, ob die Sterne dieses mittelalterlichen Dichters, um Sie zu paraphrasieren, noch leuchten, ob man sie in der Ferne etwa gar vermisst?
P. Rühmkorf: Um es mal der Reihe nach nachzuerzählen. Eigentlich, heißt zuerst, hatte ich an eine Art Minnesangoper gedacht. Persönlich nicht unberührt, weil ich diese seltsamen Troubadoure – heute von Hof zu Hof und morgen von Kloster zu Kloster – irgendwie als Reisesingergenossen empfand. Allerdings erinnerte ich mich dann zunächst an den mir seit Uni-Zeiten wohlbekannten Walther, und das war dann schon eine ziemlich aus der Richtung weisende Extranummer. Bloß, wenn man sich schon mal in Opernnähe wagt, sind die Solopartien schon eine Herausforderung der besonderen Art, und wer sich da mit Uhland und Simrock und Genossen in den Ring begibt, der muß schon ein bisschen unbefangener und kollegialer vorgehen, als die Herren Altertumswissenschaftler. Zwar hatte ich mir bereits ein paar tüchtige Vertoner herangebeten – den damaligen DDR-Komponisten Thilo Medek und den Schwiegersohn von Hans Hanney Hann, meinen Freund Yngve Trede. Aber dann drängte die Zeit. Und dann waren beide mit völlig anderen Sachen beschäftigt, und so können hochfahrende Pläne leicht im Sturzflug auf dem Erdboden landen. Lassen wir das. Ich habe mich dann an einem biographischen Medaillon versucht, wobei ich mir von niemandem reinreden lassen musste und dann ist es bei dieser ja nicht ganz charakterlosen Faustskizze geblieben.
F. Ricinski: Was bedeutet Sprache für Sie? Wird die Reimlyrik eine Renaissance erleben? Hat das poetische Wort überhaupt eine Chance in dieser kurzlebigen Zeit der digitalisierten Mitteilung?
P. Rühmkorf: Strophisch und gereimt oder freirhythmisch organisiert, ich bin da eigentlich – seit meinen frühesten Schülerstücken – nicht festgelegt. Als ich meine speziell dem Reim gewidmete Poetologie „agar agar – zaurzaururim“ verfasste, schien mir das jahrtausend alte Anklangswesen der Poesie in der zeitgenössischen Lyrik allerdings fast sträflich vernachlässigt. Und dann hab ich dieses wirklich archaische Lautphänomen noch mal ziemlich tiefschürfend und raumgreifend analysiert und – wie soll ich sagen? – mittlerweile kann man beinah schon von einem Wiederauferstehungswunder sprechen. In den zahlreichen Anthologien, die ich in den letzten zehn Jahren zur Kenntnis gekriegt habe, seh ich die beiden Disziplinen im freundlich konkurrierenden Miteinander, ohne daß ich da einen A-priori-Vorzug erkennen kann. In den digitalisierten Hin-und-Her-Geschwätzen kann ich aber keine ernsthafte Nebenbuhlerschaft erkennen. Gedichte sind nicht zum Ablabern da, sondern zum Verfassen der von unterschiedlichen Zerreißkräften in Anspruch genommenen Person, und da heißt es Form halten und gestalten und nicht jeder Laune widerstandslos nachgeben. Aber wieso sollte nicht sogar so was mal wieder in Mode kommen, sich per E-Mail wechselseitig anzudichten?
F. Ricinski: Welche Bedeutung räumen Sie den vielen Literaturpreisen ein, die Sie bisher erhielten? Müssen die Dichter, die von Literaturjurys unberücksichtigt bleiben oder von den Mächtigen unter Kritikern und Meinungsbildern sich ungenügend beachtet fühlen, an ihre Begabung oder ihrem Können und Rang zweifeln?
P. Rühmkorf: Es hat lange gedauert, bis ich mal in den Genuß von Literaturpreisen gekommen bin. Ich hatte mich schon richtig arm geschrieben, weil meine mehrjährigen Versuche auf dem Theater mich nur die Arbeitszeit gekostet und mir kaum ein paar Mark Gewinn eingebracht hatten. Erst mit 46 Jahren hatte sich herumgesprochen, daß meine Gedichte doch wohl etwas über den Normalhorizont ragten, nun, und wenn Fortuna sich mal zu Gnadengüssen entschließt, dann beginnt es manchmal zu schütten. Kurz gesagt, es war meine Rettung. Und statt mich weiter auf journalistischen Nebenfeldern tummeln zu müssen, konnte ich mich wieder meinen eigentlichen Künsten zuwenden.
F. Ricinski: Haben Sie einen guten Rat für die jungen, ambitionierten Autoren?
P. Rühmkorf: Nach eigener Erfahrung: sich mit andern seinesgleichen zusammenzutun und – wie Sie es ja auch treiben – eine eigene Zeitschrift herauszugeben.
Wem die große Bühne für eine Weile versagt bleibt, sollte sich seine eigene kleine zusammen-zimmern. Auch gemeinsame Lesungen veranstalten. Am besten im Zusammenhang/Zusammenklang mit der Schwestermuse. Zunächst im alternierenden Vortrag und vielleicht läßt sich dann auch mal richtig zusammenmusizieren.
F. Ricinski: Was denken Sie über den Heine-Preis und Peter Handke?
P. Rühmkorf: Heine und Handke scheinen mir von ihren unterschiedlichen Signaturen kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Handkes politische Ausrutscher interessieren mich dagegen nur wenig und lassen mich kalt.
F. Ricinski: Es ist frustrierend zu sehen, wie jenseits der eigenen Grenzen die erstklassige Literatur und Kunst eines Landes wie Rumänien oder Bulgarien meist nur auf ein paar illustre Namen der Vergangenheit reduziert wird. Eine aufregende Podiumsdiskussion bei der Leipziger Buchmesse in diesem Frühling lief nicht zufällig unter dem Motto „Kleine Sprachen, große Literaturen“. Wie prognostizieren Sie die zukünftigen Chancen der südosteuropäischen Literaturen und Autoren in einem vereinten Europa und einer globalisierten Welt?
P. Rühmkorf: Keine Ahnung. Ich sehe nur, daß ost-, südost- oder südsüdosteuropäische Autoren hier überall ihre Bühnen finden, bloß, da müssen natürlich zunächst gute Übersetzer und Übersetzerinnen ran, sonst bleibt alles nur Schall und Rauch. Als ich zuletzt in Berlin mit anderen Autoren im Verein aufgetreten bin, sah die Reihenfolge haargenau so aus:
1.Lebogang Mashile
2. Adam Zagajewski
3. Rafael Urweider
4. Gülten Akin
5. Sainkho Namtchylak
6. Peter Rühmkorf
7. Gerald Stern
8. Jayanta Mahapatra
9. Hsia Yü
10. Sjón
F. Ricinski: Alles, was Sie geschrieben haben, ist, glaube ich, nicht nur für die Literaturgeschichte, sondern auch Ihnen wichtig. Gibt es dennoch darunter ein über alles geliebtes Buch? Vielleicht das nur im Kopf geschriebene?
P. Rühmkorf: Als Richter über den Dichter tauge ich nicht. Was mich lockt, ist, immer wieder mal was Neues auszuprobieren – eine Novelle z.B. – aber ob ich das hinkrieg? Fortuna muß segnen!
F. Ricinski: Herzlichen Dank, verehrter Peter Rühmkorf, für dieses nicht gerade kurze Interview. „Wollte nur mal fragen, wie’s so ist …“
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Das Gespräch erschien zuerst in Matrix 3 / 2006.