„ICH BIN MIR SELBST BEGEGNET“

TheatronToKosmo im Dialog mit Werken von Anselm Kiefer

Anlässlich seines 20-jährigen Bestehens bot das Ludwig Museum Koblenz eine Reihe ansprechender, breit gefächerter Kunstveranstaltungen. Der Höhepunkt des Programms im bereits vergangenen Jubiläumsjahr hieß „Memorabilia“.

„Memorabilia“, weil es sich um eine geschichtsträchtige Kunst handelt, aber auch Mythen, Religion oder Mystik und wirkungsvolle Einfügung von Versen der mit Anselm Kiefer seelenverwandten Dichter prägen seine Werke. Unser Auge fühlt sich quasi aufgefordert, intensiv hin zu schauen, zu erkennen und zu speichern.

Die Auseinandersetzung mit der sinnbildlichen, manchmal überfrachteten Darstellung von erschütternden Ereignissen, Schicksalen und Gestalten der Vergangenheit führt eher zu einem Wachrütteln unserer Mentalareale als zur Erzeugung tiefer Emotionalität. Vielleicht ist dies auch die Intention des Künstlers gewesen: Keine neu aufgerollte/entflammte Geschichtsaufarbeitung, sondern ein eindringlicher, an die Betrachter ausgerichteter Wunsch, dem Erinnern Raum zu gewähren. Anders als Martin Walser oder Henryk M. Broder (in seinem Buch mit dem Titel „Vergesst Auschwitz! …“), hält Kiefer ein ritualisiertes Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und überhaupt an jedes vernichtete Leben für notwendig.

Großformatige Bilder hängen an den weißen Wänden wie Überbleibsel einer verwundeten Landschaft, erkennbar und undefinierbar zugleich; der Blick stößt auf festgehaltene Vergänglichkeit. Naturelemente und Symbolobjekte, aus verschiedensten Materialien komponierte Details, haften an den dick aufgetragenen Farbkrusten oder erheben sich, um das jeweilige Erzählbild zu vollenden oder es fast zu verdecken. Die Geschichte der Menschheit ist zweifelsohne eine endlose Abfolge von gewaltsamen Handlungen, aber sie besteht auch aus Hoffnung und positiver Verwandlung. Eine solche Dialektik von Unheil und Heilungspotential, die Wahrnehmung einer wundersamen, mitten in der Tragik keimenden Schönheit, weisen nicht nur auf Kiefers Einblicke in die Seelenabgründe hin, sondern auch auf seinen Glauben an die Aussagekraft der Kunst und überhaupt an einen Sieg des Lebens, auch wenn er noch so zart weht wie ein Halm und so ambivalent, wie in einem Satz des Künstlers („Gras wird über eure Städte wachsen“) zu klingen vermag.

Die Atmosphäre dieser Exponate bleibt dennoch vorwiegend düster, bedrückend. Erde und Himmel scheinen sich noch anzuschauen, und dennoch wirken sie und andere Bildkomponenten nicht selten wie entseelt.

 Die Werke von Anselm Kiefer sind sicherlich souveräne Kunst, die viel Spektakuläres und Reizvolles, Einzigartiges in sich trägt. Wenn es aber primär nicht um den kontemplativ-ästhetischen Wert geht, sondern um wichtige Inhalte, die sich nicht immer so leicht entschlüsseln lassen, dann könnte das Eintreten der Bilder in einen multimedialen Kunstdialog ein viel versprechender Akt und letztlich ein Gewinn für das Publikum bedeuten.

So dachten auch die Mitglieder des TheatronToKosmo, als sie sich nach einem Gespräch mit der Direktorin des Museums, Dr. Beate Reifenscheid, für eine Performance zu Kiefers „Memorabilia“ entschieden.

Katharina Otte-Varolgil (Filmkonzept und Regie), Eva-Maria Kagermann (Tanz) und Thomas Kagermann (Klanginstallation) holten die Welt Kiefers Bilder und Skulpturen aus der scheinbaren Erstarrung heraus und brachten sie in einen natürlichen Fluss. Durch die multiple Vernetzung der Künste wie Malereifilm, Tanz, Rezitation, Gesang und Instrumentalmusik, die zugleich verschiedene Sinne ansprachen, wurden Gefühle leichter als sonst übermittelt bzw. mehr Emotionalität und Lebendigkeit erzeugt. Über Celans „Todesfuge“, deren letzte Wortfetzen synchron mit der Erstszene des Films ertönten, in der Eva-Maria Kagermann lebensbedrohende Milch würgte, wurde den Opfern der Shoa eine fliehende Wir-Stimme verliehen, die lange in unserem Ohr vibrierte – um hier nur einen solchen Ergriffenheitsmoment zu erwähnen.

Paul Celans exemplarische Antwort auf Adornos Frage, ob man nach Auschwitz Gedichte noch schreiben kann, ist implizit die Antwort von Anselm Kiefer gewesen, der in der metaphorischen, schwer aufzuhaltenden Durchkreuzung von Schönheit und Grauen dieser Verse Inspiration für seine Bilder fand: „Schwarze Milch der Frühe/ wir trinken sie abends/wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts/wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng/Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt /der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete / Dein aschenes Haar Sulamith …“

Die Antwort des Films, der Performance an sich im Dialog mit Kiefers Ursubstanz der Motive und Themen, konnte in diesem Zusammenhang auch nur ein Ja werden, ein sich ständig veränderndes, das sich zum Schluss als Pilgerweg von der unfruchtbaren zu einer blühenden Landschaft und als Chance, wieder zu sich selbst zu finden, als neue Lebensfuge verdeutlichte. Weder Gestik noch Schritt noch Naturbild und Symbolik wurden von den Performern beliebig oder rein illustrativ eingesetzt. Das effektvolle Eindringen und Fahren der Kamera in die Bilder und Skulpturen von Anselm Kiefer mit dem Pendeln zwischen Innen- und Außenwelt, bzw. die Wechselwirkung von konkreter und virtueller Körperlichkeit, von Wirklichkeit und Projektion, von Schweigen, Klageton und Anklage, das Gefüge des Ganzen, d.h. all diese Handlungen, Szenen, Reflexionen, intertextuellen Bezüge, Korrespondenzen, Assoziationen und synästhetischen Darbietungen auf und vor der Leinwand – machten aus der Performance NeuLand ein reizvolles Gesamtkunstwerk.

Das Spectaculum begann im zweiten Stock des Museums, dort, wo die kopflose Skulptur „Arria die Ältere“ mit der bleischweren Filmrolle, die sich über den weißen Gewandrock zum Boden schlängelte, ausgestellt war. Ähnlich bekleidet, näherte sich Eva-Maria Kagermann der von Kiefer gewürdigten Frau der Antike und, bevor sie, mit einer zweiten Filmrolle als Requisite in einer Hand und dem Pilgerstock in der anderen, das Publikum zur Bühne des „theatron“ (Raum zum Schauen) geleitete, blieb sie in einer mimetischen Haltung davor stehen. Als wollte sie sich in diese edle Gestalt der Römerin, die Selbstmord beging, hineindenken, den Kern ihres Seins begreifen.

 Wie eine Wegweiserin in die Geschichte beschritt sie anschließend den Saal, umgeben von den Bildern Kiefers mit biblischem Bezug „Maria durch den Dornwald ging“, „Die klugen Jungfrauen“ und „Vater, Sohn und Heiliger Geist“, die später auch als Kamerafahrten auftauchten.

Dann wurde es dunkel und der Macht der verdichteten Sprache Celans oder Ingeborg Bachmanns, der Verlesung von Namen der Dichterinnen und Malerinnen der Antike aus Kiefers Notizbüchern, den neuen Perspektiven des Kameraobjektivs setzte die Tänzerin authentische Körperreflexionen entgegen sowie Erfahrungen des Körpers als virtuell dynamisches Bild. Eine der eindrucksvollsten Sequenzen spielte sich auf dem realen Parkett ab. Dort öffnete die Darstellerin den mit weißen Blättern, Steinen und Fäden gefüllten Koffer, legte auf dem Boden acht Blätter als Platzhalter für namenlose Gesichter aus und darauf acht verschiedene Steine, die sie dann mit Fäden verband:

Faden und Tanz als rituelles Gedenken und vielleicht als Rettungsversuch aus einer gemeinsamen Ortlosigkeit.

Und so setzte sie auch andere hintergründige Inhalte oder Segmente der Bildergeschichten in choreographische Handlung um, tanzte mit ihren jetzt frei fallenden Haaren, mit verschiedenen Pflanzen der Erde, stand im Feuer, am Meer, im Flussbett, schrieb Namen der Sterne auf Wände und den Boden, schrieb Namen auf ihren nackten Körper, ritzte Zeichen der Kabbala in Sand, Körperzeichen, trat mit den Füßen auf Kohle und Asche, erlebte den Urknall, bestrich sich mit Lehm und tanzte zum Schluss mit der Erde wie in einem stets neu einsetzenden Aufbruch oder in einer nie enden wollenden Überlebensübung. Alles Sein besteht doch aus Erde, Wasser, Luft und Feuer, daher kehrten diese vier Grundelemente im Film immer wieder.

In einer weiteren Bühnenszene aß sie Sonnenblumenkerne. Irgendwann zeigte auch der Film eine Fahrt ins Sonnenblumenfeld. Zwar trafen manche Blicke im Saal immer wieder auf Kiefers mahnenden Schriftzug „Hebron, Samson auf Gewehr“, dennoch konnte man die Umwandlung des Szenarios zum Positiven nun immer deutlicher wahrnehmen. „Es grünt in Davids Land“ und „es sind noch Lieder zu singen“ schien die Tänzerin im Film mitzuteilen, während sie mit dem Stock über einen Feldweg, wie in einem Zweitleben – dem Horizont entgegen ging und Thomas Kagermann den neu vertonten Text von Hildegard von Bingen eindringlich sang: „Du mächtiger Weg, der alles durchzieht, / in Höhen, auf Erden, in Abgründen all, / du fügtest und schließt ja alle in eins.“

Eva-Maria Kagermann ließ Bewegungen, existentielle Körperskulpturen im Stil des japanischen Butoh-Tanzes entstehen. Ihre Mimik und Gestik als performative Aufführung drückten aus, was im Innern des Menschen – durch äußere Wirkung – geschah. Durch die kluge Regie-Entscheidung für eine seltene Parallelität oder Gleichzeitigkeit des real tanzenden Ich mit seinen wandelnden Erscheinungen auf der Leinwand erhielt diese komplexe Performance eine noch größere Spannung.

Musikalische Darbietungen wie Lieder und Psalme aus der Zeit der Vorgregorianik ließen den Atem in natürlicher Rhythmik fließen. Thomas Kagermanns Stimme, zwischen sanften und kraftvollen Klangfeldern wechselnd, und auch sein vielfältiger Instrumenteneinsatz haben es an jenem Abend geschafft, eine lebendige Beziehung zwischen dem Geschehen auf der Bühne, im Film und im Saal herzustellen.

„Vallejo hatte recht. Um mein Leben zum Ausdruck, vorwärts zu bringen, besitze ich nichts als meinen Tod, meine Todeserfahrung“, so ungefähr formulierte der bedeutende spanische Romancier Jorge Semprún (der selbst in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde) seine grundlegende Erkenntnis.

„Mit all diesem Tod muss ich Leben erzeugen. Und die beste Art, dies zu schaffen, ist das Schreiben“. Nicht nur das Schreiben besitzt diese Macht, sondern auch die anderen Künste, jeder kreative Prozess, würde ich, auch im konkreten Bezug auf die Performance „NeuLand“, behaupten. Die im Ludwigmuseum ausgestellten Werke von Anselm Kiefer – dunkel und feurig, kathartisch, befruchtend – bewiesen es ebenfalls.