Es gibt zahlreiche Interviews mit dem weltberühmten, 1986 verstorbenen argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges, aber nur jene sieben Gespräche, die er mit Ernesto Sábato auf Anregung und unter der Regie des Journalisten und Hispanisten Orlando Barone zwischen Dezember 1974 und März 1975 geführt hat. Barone leitet die Gespräche ein, indem er ein Thema vorschlägt, dass die beiden Autoren mit gewissen Abweichungen behandeln. Er greift nur dann behutsam in den Dialog ein, falls einer der beiden vom Thema abweicht. Er ist es auch, der die veröffentlichten Texte mit kurzen Kommentaren versieht, sei es um seinen Lesern einen Einblick in Mimik, Gestik und Stimmung der beiden literarischen Großmeister zu geben, sei es um nach der Vorgabe der Themen: Zeit, Literatur im Kino, Kindheit, literarische Vorbilder und Textstrategien sowie die Funktion von Wirklichkeit im literarischen Text zuweilen auch den Dialog zu steuern.
In seinem ausführlichen Nachwort bewertet der Übersetzer und Herausgeber Frank Henseleit den besonderen Charakter der Gespräche unter Verweis auf die Quellenlage wie folgt: „… die Frage (ist), ob man die ‚Gespräche’ als freie Rede, unverstellt, spontan bezeichnen kann, ob Unfreiwilliges gleichermaßen unfreiwillig gesagt ist. Auch wenn als Quelle meiner Herausgabe das im Januar 1976 erschienene Buch Dialogos Borges-Sábato dient, wurden den dort enthaltenen Gesprächen Argumentationslinien und ganze Absätze aus früheren Interviews, Essays und Schriften beigefügt, welche in späteren Interviews als scheinbar spontane Äußerungen Verwendung finden.“ (S. 187) In seinen weiteren Ausführungen verweist er auf Transkriptionsfehler und unkorrekt wiedergegebene Zitate wie auch auf die in der Zwischenzeit nicht mehr auffindbaren Originaltonbänder. Ob die von Barone nach dem Tod von Ernesto Sabato am 30. April 2011 angekündigte neuerliche Publikation der Gespräche einen höheren Grad an Authentizität besitzen werde, sei deshalb zu bezweifeln. Nicht zuletzt aufgrund dieser Informationen ist auch der im April 2007 in der Dresdner Literaturzeitschrift „Ostragehege“ abgedruckte Auszug aus den Borges-Sábato-Gesprächen mit gewissen Vorbehalten zu versehen.
Vorbehalte sind aber auch aus methodischen Überlegungen gegenüber den Nachbemerkungen des Herausgebers anzumerken. Der 15 Druckseiten umfassende Text unter der Fragestellung „Sehen wir uns am Sonntag?“ begibt sich in medias res, indem er im Detail die philosophischen und lebensweltliche Gegensätze zwischen den beiden Gesprächspartnern benennt, ohne deren Persönlichkeit und die Spezifik ihrer Werke vorzustellen. Erst in einem zweiten Anlauf unternimmt er den Versuch, die Gegenpole Borges-Sábato einzuordnen: “Obwohl Antagonisten, sehen Borges und Sábato in ihren Gesprächen von ihrem Stadtteil (in Buenos Aires, WS) aus dasselbe Universum, welches – und das lassen sie in ihrer geteilten Skepsis gegenüber literarischer Erziehung den Leser ihrer Gespräche intensiv fühlen (sic!) – sich zu schließen scheint.“ (S. 177) Danach springt der Text zur Funktion des Buches, die von beiden Autoren sehr unterschiedlich bewertet wird. Während Sábato sich zunächst als Wissenschaftler profilierte, nachdem er 1945 sein erstes Buch „Der Einzelne und das Universum“ publizierte und erst in den 1950er Jahren im literarischen Metier Aufmerksamkeit erregen konnte, hat Jorge Luis Borges bereits seit Mitte der 1920er Jahren mit einer Reihe von Erzählungen, Essays und Romanen den Grundstein für seinen weltweiten Ruhm gelegt.
Auf diese so unterschiedlichen beruflichen Karrieren geht der Herausgeber sehr detailliert ein, wobei er vor allem das literarische Werk von Borges würdigt. Auf diese Weise wird der Leser zunächst mit der kritischen politischen Position Sábatos gegenüber dem argentinischen Staat in den 50er und 60 er Jahren vertraut gemacht, während er das Werk von Borges vor allem unter dem Blickwinkel der vielschichtigen ästhetischen und thematischen Bezüge kennen lernt. Unterschiedlich ist auch nach Ansicht von Henseleit die Wertschätzung des jeweils Anderen. Während sich Sabato seit den späten 1940er Jahren wiederholt mit den philosophischen und literarischen Positionen von Borges publizistisch auseinandersetzte, kannte Borges, so der Herausgeber, wohl nur das Erstlingswerk seines Gesprächspartners aus dem Jahr 1945. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Borges, da er seit seinen späten fünfziger Jahren an einer gravierenden Sehschwäche litt, die seit Anfang der 1970er Jahre in einen beinahe vollständigen Verlust seiner Sehfähigkeit überging, nur noch eingeschränkt lesen konnte. Ungeachtet dieses physischen Mankos ist während der Lektüre der aufgezeichneten Gespräche mit wachsender Faszination festzustellen, mit welcher Fülle an Autorennamen und Textbeispielen vor allem Borges aufwartete.
Mit welchen Vorurteilen sind sich hier auf Anregung des Hispanisten Barone zwei bedeutende argentinische Schriftsteller begegnet? Henseleit unternimmt leider erst auf den drei letzten Seiten seines Nachworts den Versuch, das Knäuel der gegenseitigen immanenten Vorwürfe zu lösen. Dabei bedient er sich einer komplizierten Argumentationsweise, die unter anderen den im argentinischen Exil lebenden polnischen Romancier Witold Gombrowicz (zwischen 1939 und 1963) mit einer Fülle von Beweisen für die Etikette des Stadtteildichters ins Spiel bringt. Der Begriff ‚Stadtteildichter’ wird dabei als Gegenpart zum Weltdichter verwendet, um die Verwandtschaft zwischen Borges und Gombrowicz zu belegen. Gombrowicz sitze, so Henseleit, in seinem Zufallsexil als Vertreter eines integralen Polen-Europas, und Borges lebe inmitten der jungen Kultur seiner Heimat im Exil auf einem falschen Kontinent. Bedauerlicherweise tragen solche typologischen und kultursemiotischen Einordnungen der Autoren nur wenig zur Einführung in die Gespräche bei. Dieser Vorwurf betrifft auch die Reflexionen zu den Leitmotiven in Miguel de Cervantes „Don Quichote“ und deren Umsetzung für die Modernität im 20. Jahrhundert.
Worin besteht der literarhistorische Wert der vorliegenden Publikation? Zweifellos in der Bewertung zahlreicher europäischer und südamerikanischer Autoren aus der Sicht von Borges und Sábato. Sie schlägt sich in den 176 Anmerkungen des Glossariums nieder. Außerdem wird der Leser in die Denkstrategien von Autoren eingeführt, deren Werk nicht nur extrem unterschiedliche ästhetische Positionen abbildet, sondern auch stark voneinander abweichende ideologische Einstellungen gegenüber den staatlichen Strukturen in Argentinien markiert. Ein besonderes Verdienst gebührt nicht zuletzt Orlando Barone, der aufgrund seiner zahlreichen Kommentare eine einfühlsame Vorstellung von beiden Schriftsteller-Persönlichkeiten vermittelt, die wesentliche ästhetische Positionen in der argentinischen und der Weltliteratur vertreten.
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Gespräche in Buenos Aires von Jorge Luis Borges – Ernesto Sábato. Inspiriert und transkribiert von Orlando Barone, aus dem argentinischen Spanisch übersetzt, mit Glossen versehen, kritisch durchgesehen und mit einer Nachbemerkung von Frank Henseleit. Berlin (Matthes & Seitz) 2013.
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Zwischen 1995 und 1999 hat A.J. Weigoni im Rahmen seiner Arbeit für den VS Kollegengespräche mit Schriftstellern aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz geführt. Sie arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache. Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch 1999 als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden. Dieser Band war als bibliophile, limitierte Vorzugsausgabe erhältlich über: Ventil-Verlag, 55116 Mainz
Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche zuerst ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.