Nirgendwo, nicht im Osten und nicht im Westen, leben die Menschen das Leben der Natur, um welches sich die Rebe schlingt und das die Ulme freundlich beschattet. Nicht Vergeistigung allein tut not, sondern auch Einwurzelung in die irdische Scholle. Die Winde müßten des Menschen Atem sein, die Jahreszeiten seine Stimmungen, und seine Heiterkeit müßte die Natur selbst beeinflussen. Hier oder nirgends ist unser Himmel.
Wir können uns nichts köstlicheres ausdenken als das, was wir wirklich erlebt haben. »Die Erinnerung an die Jugend ist ein Seufzer.« In den Jahren der Reife quält uns die Sehnsucht, die Träume unserer Kindheit mitzuteilen, aber sie sind halbvergessen, bevor wir sie aussprechen lernen. Wir müssen ebenso Erdgeborene wie Himmelssöhne sein, Griech. Wort fehlt, wie es in alter Zeit von den Titanen hieß; und in noch besserem Sinne als sie.
Wir brauchen um keinen höheren Himmel zu beten, als der ist, den die reine Sinnenwelt, ein rein sinnliches Leben gewährt. Unsere Sinne von heute sind das bloße Rudiment von dem, was sie zu werden bestimmt sind. Vergleichsweise sind wir taub und stumm und blind, ohne Geruch und Geschmack und Gefühl. Jede Generation macht die Entdeckung, daß ihre göttlichen Kräfte vergeudet, ihre Sinne, alle ihre Fähigkeiten mißbraucht und verdorben wurden. Die Ohren wurden nicht zu dem gemeinen Gebrauch, an den man meistens denkt, erschaffen, sondern um göttliche Musik zu hören; die Augen nicht für die unwürdigen Zwecke, in denen sie abgenützt werden, sondern um eine Schönheit zu sehen, die noch verborgen ist. Sollten wir Gott nicht sehen können? Sollen wir uns mit einem Amüsement abfinden lassen, als wäre das Leben eine bloße Allegorie? Ist die Natur für den, der richtig zu lesen versteht, nicht in Wirklichkeit das, als dessen bloßes Symbol sie gewöhnlich gilt? Was heißt also erziehen anderes, als diese göttlichen Keime, die Sinne genannt werden, entwickeln?
Freilich, es ist leichter, noch eine neue Welt zu entdecken, wie Columbus tat, als hinter eine einzige Hülle dieser Welt zu dringen, die uns so wohlbekannt erscheint. Aber ein Augenblick gesunden und natürlichen Empfindens genügt, um uns zu lehren, daß es eine Natur hinter der gewohnten gibt, auf welche wir bis jetzt nur ein unbestimmtes Vorkaufsrecht besitzen. Wir leben auf dem äußeren Saum dieses Gebietes. Treibholz und schwimmendes Astwerk und die Röte des Abendhimmels ist alles, was wir davon kennen. Laßt uns ein bißchen Geduld haben, meine Freunde, und keine Ausschußware hier kaufen; laßt uns vielmehr darauf bauen, daß fruchtbareres Land in kurzem zum Verkauf gelangen wird. Das Erdreich, auf dem wir stehen, ist mager; ich fühle, daß meine Wurzeln in fetteres hineinreichen, als dieses ist. Ein Büschel Veilchen in einer Glasvase habe ich gesehen, locker mit Stroh gebunden, und das gemahnte mich an mich selbst.
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Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Eine Einführung in Leben und Werk von Gerhard Gutherz findet sich hier. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.