Privatsphäre
Privatsphäre ist ein kulturelles Konzept. Verkürzt dargestellt entstand es parallel zur Kulturtechnik „Gedrucktes Buch“.
Die vollständige Interferenz aller Relationenfelder im Datennetz – alle können im Prinzip an alles Wissen über alle gelangen – ist totalitär.
Die vollständige Interferenz vorausgesetzt wird implizit akzeptiert, dass ein privates Leben mit dem Netz – also unter Einbeziehung der telematischen Möglichkeiten, über geographische Gegebenheiten hinweg – gar nicht möglich ist. Ich will aber die Möglichkeit haben, und zwar ebenso, wie ich die Möglichkeit habe, über eine öffentliche Straße zu gehen, ohne angefahren zu werden. Ich will im Netz private Dinge tun, private Relationenfelder pflegen, Freundschaften schließen und Allianzen bilden können, und natürlich ebenso, Dinge öffentlich machen, etwas von mir preisgeben. Kann ich dies nicht, dann beraube ich das Konzept der Privatsphäre der Chance einer echten kulturellen Transformation ins Netz. Die Folge wären angstbesetzte Vermeidungsstrategien, ein Verhärten der Privatsphärengrenzen auch in der Offline-Welt, wie sie aus totalitären Regimes bekannt sind oder von Menschen, die sich länger in Gefangenschaft befunden und daher schizoide Verhaltensprofile entwickelt haben, deren Kernelement das Misstrauen gegenüber der Umgebung ist.
Für eine offene, freie Persönlichkeit jedoch ist Privatsphäre ein durchaus dynamischer Bereich, eher eine Überlappung von Bereichen mit vielen graduellen und qualitativen Unterschieden, deren Umgrenzungen durch Membranen gebildet werden, die eine eigene Kulturgeschichte haben.
Unsere letzte und innerste Grenze ist die körperliche zwischen Innen und Außen, also die Haut. Da wir aber als Menschen “Kulturtiere” sind, gehört dazu, dass wir unsere Membranen zum “draußen Halten von Welt” – anders wären wir gar nicht in der Lage, die Signale der Welt zu prozessieren – erweitern und um uns herum weitere Membranen und Grenzen ganz wie die Schalen einer Zwiebel ziehen, die auch Teile unseres Relationenfeldes umfassen. Diese Membranen können sich überlappen und durchdringen; das Beispiel der Zwiebelschalen hinkt daher etwas.
Nun sind alle höheren, komplexeren Lebewesen immer einer mehr oder weniger ausgeprägten Neotenie unterworfen. Das heißt, wir sind gezwungen, den Uterus zur Vervollständigung der Entwicklung des Nachwuchses „nach draußen“ in die Wiege und die Wohnung zu verlagern, da unsere Nachkommen nach der Geburt noch nicht alleine lebensfähig sind, eine Art Conditio cultura.
Öffentliche Scheiße und private Wissenschaft
Das lässt sich bereits an Gorilla-Familien beobachten, die sich durch den Urwald bewegen. Hier bilden die jungen Männchen die lebendigen Palisadenzäune um die Weibchen und die Kinder herum, die später bei den Menschen der Jungsteinzeit durch die Holzpalisaden des Dorfes ersetzt sind. Dies ist die Privatheit der Familie und des Stammes.
Noch im Mittelalter – und in ländlichen Regionen sogar in der frühen Neuzeit – haben Männer und Frauen die Tagesereignisse rekapitulierend gemeinsam auf dem Donnerbalken gesessen und in den Dorfgraben geschissen. Die Privatheit des Individuums, die später zum Fanal der bürgerlichen Gesellschaft wurde, war hier lediglich dem Blutadel und den Mönchen in den Lese- und Singzellen der Klöster [[i]] vorbehalten, wo letztere sich nach und nach anstatt vor Gott über die Dinge beugten, die allmähliche Geburt der Wissenschaft im Abendland.
Neuzeitliche Wissenschaft, Privatheit und Öffentlichkeit sind in ihrem Entstehungsprozess unauflöslich miteinander verknüpft in dem Sinne, dass die wissenschaftliche Denk- und Experimentier-Anstrengung des Autors, das Prozessieren von Welt in der gefilterten Privatheit des Studierzimmers, eine gewisse Ergebnis- und Erlebnisqualität erreicht, bevor man damit nach draußen tritt und das Erarbeitete durch Präsentationen rekapitulierend noch einmal öffentlich in einer Inszenierung prozessiert und damit dem kritischen Urteil einer Öffentlichkeit unterwirft.
Die frühen Humanisten etwa, Erasmus, Beatus Rhenanus, sowie die Großen des 17. Jahrhunderts von Descartes über Spinoza bis Newton und Leibniz sind hier gute Beispiele. Das heißt, die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit kann als eine Membran begriffen werden, deren Durchlässigkeit dem Willen des Urhebers unterworfen ist, wirtschaftliche Zwänge einmal außen vor, bestimmt allein er, wann er womit an die Öffentlichkeit tritt.
Ist aber etwas einmal öffentlich, dann ist es auch öffentlich. Das ist heute die Gnadenlosigkeit des Internet, einmal Öffentliches kann schlecht zurückgenommen werden.
Membranen, Prozesse und Veränderungen
Wir brauchen diese Membranen, denn Persönlichkeit von außen gesehen, so wird gesagt, sei ein Strom erfolgreicher Gesten, optisch-kinaesthetischer und akustischer in der physischen Präsenz z.B. einer Rede sowie schriftlicher und weiterer in medialen Produktionen.
Im heutigen Normalfall wird ein Individuum seine Gesten immer der jeweiligen von der aktuellen Membran umschlossenen Gruppe, dem Kontext, dynamisch anpassen, sich also an den Konventionen seiner Zielgruppe orientieren, wobei mit eben diesen Konventionen auch kreativ – evolutiv und/oder revolutionär – gespielt werden kann, um sie Veränderungen zu unterwerfen. Das produziert eine Vielfalt von Verhaltensweisen und Spielräumen, die im Falle einer vollständigen Aufhebung der Privatheit einem Gleichschaltungsdruck unterworfen wären.
Wollen wir das? Oder wollen wir vielmehr eine reiche Netzkultur, die vor Vielfalt, Ideen und kulturellen Konzepten nur so strotzt?
Die Öffentlichkeit im klassischen Sinne, die Agora-Öffentlichkeit des alten Athen, ist auch „offline“ stark auf dem Rückmarsch begriffen, wie Richard Sennett schon im auslaufenden 20. Jahrhundert sehr schlüssig belegte.[[ii]] Post-Privacy wäre also auch Post-Public.
Aktuell treten zu den starken Bindungen der Offline-Welt, die für den Einzelnen vielleicht jeweils zwei Dutzend Menschen umfassen, nun auch die von Mark Granovetter erstmals so benannten schwachen Bindungen hinzu, die weak ties der Online-Welt, die um ein vielfaches zahlreicher sein können.[[iii]] Die Leistungsfähigkeit dieser weak ties auch im politischen Raum hat sich jüngst in der arabischen Welt eindrucksvoll gezeigt. Hier sind Verschiebungen von Membranen und Sphären im Gange, die das nie wirklich existiert habende Gleichgewicht von den auferlegten, zum Teil angeborenen Bindungen hin zu gewählten Bindungen verschieben [[iv]], dank des weltumspannenden elektromagnetischen Feldes, ein Aspekt von Freiheit.
Und ich will, dass es hier eine Vielfalt von Membranen, Sphären und Zugehörigkeiten gibt, die zu schützen sind, und die sich aus sich selbst heraus dynamisch verändern können – ohne einem homogenisierenden Verflüssigungsdruck von außen unterworfen zu sein. Ein solcher ist bereits durch die technische Realität der Online-Varianten sogenannter sozialer Netzwerke gegeben. Social Networks wie Facebook benutzen in der Backline – hinter dem Bewusstsein des Nutzers – Algorithmen, die mein Kommunikations-Relationen-Feld manipulieren, meine Timeline verändern, ohne dass ich über die Regeln der Veränderung deutlich informiert werde.
Facebook nutzen heißt, eine kommunikative Entmündigung zulassen, vermittels Algorithmen, die Lernprozesse behavioral auslagern in die Maschine. Behaviorales oder konditioniertes Lernen – richtig, Pavlov! – ist übrigens das einzige Lernen, das bislang in Maschinen erfolgreich simulierbar ist. Kurz: Facebook entmündigt. Ich nutze Facebook dennoch, aber sehr eingeschränkt.
Wenn wir uns diese technischen Realitäten nicht vor Augen halten, führt dies in informationelle Inkontinenz.
Nehmen wir – gewollte Exhibition außen vor – z.B. den Sex, der ist eine öffentliche Angelegenheit, bei Fischen. Nicht bei uns. Wir leben nicht im Wasser.
Jenseits technischer Möglichkeiten muss daher die Konsequenz eine vollständige und nachvollziehbare Transparenz des Umgangs und der Regeln insbesondere der Provider von Social Networks mit Nutzerdaten, Relationsdaten zwischen Nutzern sein.
Das ist eine politische Forderung!
Daran schließt sich die Notwendigkeit an, Sinn und Konzept der Privatsphäre unseren Heranwachsenden – die langsam ihrem sozialen Uterus, den Schutzräumen der Familie, der Schule und der jugendlichen peer-group entwachsen – konstruktiv und kritisch zu vermitteln, eine neue Aufgabe für die Schule.[[v]]
Der bisherige Umgang mit Datenschutz und Datenpreisgabe folgt jedoch einer bloßen Täter-Opfer-Logik, die es zugunsten nutzerbestimmter kreativer Gestaltungsmöglichkeiten zu überwinden gilt.
Privatsphäre und Datenschutz einerseits sowie Post-Privacy andererseits stehen auf dem Boden desselben Menschenbildes.
Dieses ist jedoch ein Kollateralschaden der Dominanz hierarchischer Strukturen, die an anderer Stelle schon kritisch hinterfragt werden.
Und für die sozialen Netzwerke, die Googles, Facebooks und andere, gilt es, aktiv die Frage zu stellen:
Wie sozial sind soziale Netzwerke? [[vi]]
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Weiterführend →
TRANS- … Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen, von Joachim Paul ist als ebook erschienen – nicht im epub-Format, sondern als pdf-Datei, die mit jedem gängigen pdf-fähigen Reader zu öffnen ist – zu beziehen hier bei epubli, exklusiv. Von einem Angebot auf anderen Verkaufsplattformen wurde abgesehen.
Die Totholz-Variante gibt es weiterhin, hier: TRANS- als klassisches Buch.
Lesen Sie auch das Porträt von Joachim Paul → Ein Pirat entert das Denken
Quellen:
[i] McL_DGG_1968, S. 116
[ii] Sennett, Richard; Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität; Berlin 1983/2008
[iii] Granovetter, Mark; The Strength of Weak Ties; Am. J. Soc., Vol 78, Issue 6, May 1978, p. 1360 – 1380
online: http://sociology.stanford.edu/people/mgranovetter/documents/granstrengthweakties.pdf, lA: 31.03.2012
[iv] Flu_IPR_1999, timecode 00:35:00ff
[v] Paul, Joachim; Das Verschwinden des Privaten, in: Medienbrief 2/2008, Hrsg.: Landschaftsverband Rheinland, Landeshauptstadt Düsseldorf, Medienzentrum Rheinland, Düsseldorf, August 2008, online: http://www.vordenker.de/jpaul/jp_verschwinden_des_privaten.pdf; und in diesem Band
[vi] Kaehr, Rudolf; Diamond Web2.0? – How social is social networking?; ThinkArtLab Glasgow 2008; online: http://www.thinkartlab.com/pkl/media/Diamond_Web2.0/Diamond_Web2.0.pdf, lA: 07.10.2012