Zwei einander sehr entgegengesetzte Lebenseindrücke sind es gewesen, die mich für die Begegnung mit Freuds Tiefenpsychologie besonders empfänglich machten: das Miterleben der Außerordentlichkeit und Seltenheit des Seelenschicksals eines Einzelnen – und das Aufwachsen unter einer Volksart von ohne weiteres sich gebender Innerlichkeit. Auf das Eine soll hier nicht zurückgegriffen werden. Das Andere war Rußland.
In Bezug auf den Russen hat man oft gesagt – und Freud selber tat es in der Zeit vermehrter Russenkundschaft, vor dem Kriege –, daß bei diesem »Material«, krankem wie gesundem, zweierlei aufeinandertreffe, was sich sonst weniger häufig gesellt: eine Simplizität der Struktur – und eine Befähigung, im einzelnen Fall redselig eindringend auch noch Kompliziertes aufzuschließen, seelisch Schwierigem Äußerung zu finden. Ganz ähnlich wirkte ja von jeher russische Literatur, und nicht nur bei ihren Großen, sondern noch hinabreichend bis in ihre Mittellage (die daran formlos wurde): letzte Grundaufrichtigkeiten reden fast kindhaft unmittelbar von Letztlichkeiten der Entwicklung, als wüchse diese hier direkter, unvermittelter aus Urhaftem empor zu Bewußtwerdungen. Denke ich an den Menschen, wie er mir in Rußland aufging, so begreife ich gut, was ihn solcher Weise für uns heute leichter »analysierbar« macht und was ihn zugleich sich selbst gegenüber aufrichtiger erhält: die Verdrängungsschichten bleiben dünner, lockerer, die sich bei ältern Kulturvölkern hemmend zwischen die Grunderlebnisse und deren Reflex im bewußten Nacherleben einschieben. Hieran läßt sich etwas leichter erklären, was der praktischen Analyse Haupt- und Kernproblem bildet: nämlich, wieviel vom infantilen Untergrund unser Aller das natürliche Wachstum dauernd bedinge und wieviel davon statt dessen krankhaftem Zurückrutsch diene, der von schon erreichtem Bewußtseinsniveau abfällt in unüberwundene Frühstadien.
Nun ist ja die Psychoanalyse ihrem historischen Werdegang nach praktische Heilmethodik, und als ich ihr beitrat, war gerade erst die Ermöglichung klar geworden, aus den Zuständen des Kranken auf die Struktur des Gesunden zu schließen, indem hier, wie unter einer Lupe, entziffert werden konnte, was unserm Blick innerhalb des Normalen sonst fast unlesbar bleibt. Mit unendlicher Umsicht und Vorsicht der methodologischen Hantierung hatte analytische Grabearbeit von Schicht zu Schicht Ursprünglicheres zutage gefördert, und vom allerersten der grandiosen Freudschen Spatenwürfe an bewährte sich die Unwiderleglichkeit ihrer Funde. Aber je tiefer man grub, desto mehr ergab sich, daß nicht etwa nur im pathologischen, sondern auch gerade im gesunden Menschen der psychische Untergrund sich als eine förmliche Ausstellung dessen erwies, was uns »Gier«, »Roheit«, »Gemeinheit« usw. heißt, kurz alles Ärgsten, dessen man sich am heftigsten schämt; ja, daß selbst von Motiven der leitenden Vernunft kaum Besseres auszusagen sei, als was Mephisto von ihr behauptet. Denn führt allmähliche Kulturwerdung – durch Nöte und Vorteile der praktischen Erfahrungen – darüber hinaus, so doch nur infolge von Triebabschwächungen überhaupt, also von Einbuße an Fülle und Kraft, so daß ans Ende schließlich ein recht ausgemergeltes Menschentier zu stehen kommt, demgegenüber die Kreatur in ihrer unbeschnittenen Kulturlosigkeit nahezu als Großgrundbesitzer imponieren könnte. Der trübe Ausblick von solcher Sachlage her – vom Gesunden aus demnach kaum angenehmer als vom Kranken, der doch wenigstens von seiner Heilung träumen durfte – stieß wahrscheinlich noch mehr Leute von der Tiefenforschung ab: weckte er doch einen ähnlichen Pessimismus wie den des hoffnungsarmen Neurotikers, den sie zu korrigieren unternahm.
Wenn ich von mir persönlich was dazu bemerken soll, so muß ich zunächst feststellen, etwas wie Wichtiges ich gerade dieser schon frühen Geisteshaltung der Psychoanalyse verdanke: diesem Sich-nicht-stören-lassen von allgemeinen Erwägungen über unerfreuliche Endergebnisse, dieser unverkürzten Bezugnahme auf exakte Untersuchung des jeweiligen Einzelobjekts und Sonderfalles, welches auch immer deren Resultat sein möge. War es doch eben dies, dessen ich bedurfte. Meine Augen, noch ganz erfüllt von den vorangegangenen Eindrücken, die an einem primitivem Menschentum wiederzuerkennen glaubten, was tieferhin unser aller unverwischbare Kindlichkeit sei und – als heimlicher Reichtum hinter aller Reife – auch verbliebe, mußten sich zwingen, davon hinwegzusehen und statt dessen sich mit rationaler Kleinarbeit am gegenständlich Menschlichen abzugeben; sie mußten dies, um sich der Gefahr zu entziehen, in einen bloßen blinden, weil blickblendenden Schwarm zu geraten: in den der »angenehmen Psychologie«, aus der kein Zugang zur Wirklichkeit führt, sondern die uns nur in unserm eigenen Wunschgarten herumtummeln läßt.
Mir ist kein Zweifel, daß es – wenn auch von ganz verschiedenen Stellen aus – Analoges war, was uns Gegner schuf und Anhänger abfallen ließ: dies an sich ganz natürliche Bedürfnis, nicht so grundsätzlich in der Schwebe lassen zu müssen, was man am liebsten beantwortet sehen möchte, oder richtiger: dessen erfreuliche Beantwortung man eigentlich schon vorweg weiß. Das wird vermutlich auch dann noch so bleiben, nachdem die »anstößigsten« der psychoanalytischen Enthüllungen sich durch Gewöhnung den Menschen längst verharmlost haben werden. Es erscheint ja auch so gerechtfertigt, wenn man zwar »triebrein« zu denken versucht in Fragen bloßer logischer Denkanwendungen, jedoch in den sogenannten »Geisteswissenschaften« – unausweichlich gespalten in Beobachter und Gegenstand sich versucht fühlt, ins Denkergebnis ein wenig eigenen Senf hineinzutun, um es mundgerechter zu machen.
Um dessentwillen war es ja, daß die Psychoanalyse so lange Zeit auf ihren Begründer hat warten müssen – als auf denjenigen, der imstande war, sehen zu wollen, was auf dem Wege vor ihm immer vorsichtig umgangen worden war. Nur er brachte den Grad von Unbefangenheit dafür auf (nicht etwa gar erkämpfte Überwindung oder umgekehrt Lust am Widerwärtigen), sich nicht drum zu kümmern, ob er dadurch an Anstößiges oder Abstoßendes geriete; dies sanktionierte sich ihm durch den Umstand, daß es sich als Tatsache und Vorhandenheit auswies; – was einfach heißt: seine Denkfreude, seine Forscherneugier bezog aus seinem Wesen ein so mächtiges Stück seiner Liebesfähigkeit, seines Bemächtigungsdranges, daß ihm nicht im mindesten zur Frage ward, an welche Stelle menschenüblicher Wertung oder Urteilerei es etwa zu stehen käme. Die Reinheit (d. h. die Unvermischtheit mit Nebenfragen und Nebenregungen) der sachlichen Hingegebenheit gerade ergab das Rückhalt- und Rücksichtslose exakter Erkenntnisweise, auch vor dem respektvoll Verborgenen nicht haltzumachen: und so geschah es, daß es ein dem Rationalen restlos Ergebener, der Rationalist in ihm, war, der dem Irrationalen auf diese indirekte Weise auf die Schliche kam. So taufte er das ihm neu aufgehende Element des » Unbewußten« ostentativ auf den Namen einer Negation. Mir sind die drei bescheidenen Buchstaben dieses »Rufnamens« als » Ubw« in diesem Sinn immer ungemein positiv bezeichnend vorgekommen, als persönliche Abwehr gegen Hineingeheimnißtes,gegen alles, woran Entdecker zu Erfindern werden können.
Nichts verdeutlicht die Sachlage von Freud aus mehr, als sein Bemühen, dem Ansatz zur psychologischen Forschung bis dahin nachzugehen, wo das Unbewußte, der Bewußtheit als solches unzugänglich, von dieser im Leibhaften erlebt wird, demnach noch nicht willig ist, unserer gewohnten zensurierenden Denkungsart zu folgen. Wahrscheinlich ist auch dementsprechend die ärgste empörte Verunglimpfung der damit betonten »Sexualität« von dorther entstanden, daß dies uns, außerordentliche Menschlein, zu stark an das erinnerte, wo wir höchst unordentlich gemeinsam sind mit jeglichem, was als außengegeben unserer bewußten Innerlichkeit gegenübersteht; denn der Leib ist ja gerade das unabweisliche Stück Außentum an uns.
Denn immer scheint mir: zutiefst liegt all dem Verunglimpfenden zugrunde, daß der Mensch sich überhaupt Leiblichem zugewendet sieht, das zwar seine Existenz ausmacht, mit dem er sich aber seinen geistigen und seelischen Äußerungen nach keinesfalls identisch nehmen mag. Zu je geschärfterm Bewußtsein wir uns entwickelten, desto unabweisbarer ward uns ja alles zu einem Gegenüber, dem eben nur von außen, als einem Andern, beizukommen ist, – also auch unserer eignen Leiblichkeit nur so: worin dadurch schon prinzipiell eine Entwertung ihrer für uns eingeschlossen liegt. (Alle Art ältester Metaphysik hatte es darin wahrlich besser: indem Innerhalb und Außerhalb sich ihr noch nicht ebenso unwiderruflich zu einem bewußtseinsbefohlenen Gegenüber festlegen mußten, sondern noch Verwechslungen unterlagen, wie das Kleinkind sie auch bei uns vollzieht.)
Eben deshalb wurde Freud vollends und endgültig mißliebig, sobald er auf die Bedeutung der infantilsten Vorstufen für unser gesamtes Geistestum und Seelentum hinwies, zurückwies. Nicht nur wegen der befehdeten kindlichen Pansexualität: nein wegen der Aufdeckung ihrer als der letzten Quelle, aus der dauernd unsere innere Gesamtentwicklung sich nährt. Weswegen wir uns auch zu Heilzwecken zu diesem Anfang zurückwenden müssen: zum Primitiven im einzelnen Seelenerleben, wo es im Zeitablauf historisch erkennbar wird; zum Primären, dem wir uns auch an unsern gesunden Volleistungen nirgends entheben – wie gern wir sie uns auch als darüber schwebende »Sublimationen« vorstellen.
Nun hatte ja Freud das Wort Sublimierung seiner Terminologie gleich eingefügt (unachtsam für den allzuleicht darein eingeschmuggelten Wertbegriff), und auch er meint damit durchaus: Ablenkung vom sexualen Endziel. Schon lächelte man ihn auf das einverständlichste an. Doch bereits stand eins seiner stärksten Worte da (eins von denen, die mit einem Schlage mit allem Mißverstehen hätten aufräumen müssen): wonach selbst verpönteste Sexualperversionen »trotz ihres greulichen Erfolges« als Sublimationen anzusprechen seien – indem sie, bei sexuellen Infantilphasen aufgehalten, dem leiblichen Reifeziel abgekehrt blieben. Denn diese Abkehrung findet ja noch an der gleichen Stelle statt, wo auch die hochgeschätztesten Sublimationen sich einstellen (die zu den geistigen Erfolgen führen, zu den sozialen, künstlerischen, forscherischen) – nämlich von Seiten des gleichen noch unausgegebenen Infantilen. Ist doch dies Infantile, bis in alle menschlichen Höchstleistungen hinauf, nur eine andersartige Methodik, mit Hilfe des Eros dem Urfaktum besser gerecht zu werden, das uns und die Welt-außer-uns in eins bindet und die Spaltung überbrückbar macht, die uns als Einzelwesen allem sonst scheinbar gegenüberstellte. Auch was wir »Sachlichkeit« anstatt »Liebe« nennen, ist ja nichts als die Tatsache, daß unser Bewußtsein mit seinen Methoden willig dem Aufschluß des Unbewußten sich öffnet, worin wir nie aufgehört haben, unsere Vereinzelung zu leugnen und an das gemeinsame Wurzeltum mit Allem zu rühren. Darum geht uns das am nachdrücklichsten auf am sogenannt »Überpersonalen« unserer Interessen, die das uns am intimsten und unwillkürlichsten Persönliche mit dem unsere Person allerseits Übersteigenden sozusagen vermählen. Darum »sublimieren« wir unter Umständen was draus, d.h. geben die Kraßheit leiblicher Sexualziele dafür auf, – man könnte es etwa so schildern: als seien auch Sexualziele im Grunde doch nur eine Art von Verlegenheit des leiblich vereinzelten Menschen, die an einem andern Vereinzelten sich einzureden sucht, sie umfinge in ihm das Ganze, – während er doch nur in der Sphäre seiner Leiblichkeit uns wirklicher gleich ist und nur innerhalb derer die Vermählung auch allein gefeiert und Wirklichkeit zeugend vollzogen werden kann.
Es ist deshalb überaus natürlich, wenn wir gewöhnt sind, dem Sublimiertesten das »Göttlichere« in die Schuhe zu schieben; denn dieses Wort meint für uns immer in irgendeinem Sinn das uns Intimste und das uns Übersteigendste zugleich. Aber das eben ist nur ein Notgriff für das Unterirdischste, welches wir bloß deshalb nicht »irdisch« nennen, weil das bereits zu spezifiziert klänge, da es uns in der Tat übersteigt, und gerade damit uns stärker ausdrückt als in der gewohnten Gegenüberstellung von Innen und Außen. Man kann nicht als wichtig genug betonen: die Kraft zur Sublimation hängt direkt davon ab, bis wie tief sie garantiert ist in diesem Urboden unseres Triebwerks, wie weit dieses wirksame Quelle geblieben ist in dem, was wir bewußt tun oder lassen. Je kräftiger erotisch jemand veranlagt ist, desto größer auch die Möglichkeiten seiner Sublimierungen, mit desto längerm Atem hält er die an sie gestellten Ansprüche aus, ohne Triebdurchsetzung und Realitätsanpassung in Zwiespalt miteinander geraten zu lassen. Desto weniger ist er Asket im Sinne des Trieb dünnen, der aus der Not eine Tugend zu machen strebt, oder im Sinne des krankhaft Reduzierten, den das Wort vom »Sublimieren« tröstet. Nicht asketische »Überwinder« gehören dazu, sondern im Gegenteil solche, die auch bei widrigsten Umständen noch Witterung behalten für ihre geheimen Zusammenhänge mit dem ihnen Entlegensten; Wünschelrutengänger, denen noch im scheinbar trockensten Boden Quellpunkte spürbar werden, – Erfüller, nicht Abstinenzler – und dadurch abstinen fähiger auf um so längere Strecken, als sie sich innerer Beheimatung und Erfüllung dennoch nahe wissen. Denn das Wesentliche daran ist, daß sich ihnen Leiblich und Seelisch nicht ins Begriffliche gespalten haben, sondern im Menschen sich runden zu einer wirkenden Kraft – wie der Wasserstrahl aus der Fontäne niederfällt in das nämliche Becken, aus dem er gestiegen ist.
Nicht umsonst verlangt ja die Tiefenforschung, daß, wer andere soll analysieren dürfen, sich persönlich erst selbst mit-hineingestellt habe in die Erfordernisse ihrer Methodik: in die brutale Redlichkeit der Untersuchung, wie es mit ihm selbst gerade hierin bestellt sei. Die intellektuell zu vollziehende Grabearbeit am lebendigen Material erreicht ihr Ziel – sowohl das der Forschung wie der Heilung – nur durch dies eigene lebendige Mittun.
Wenn öfters das törichte Gerede aufkam, die Freudianer bildeten eine sektiererische Gemeinschaft hinter ihrem Anschein bloßer Wissenschaftlichkeit, so steckte das einzige Körnlein Wahrheit hierin: daß Tiefenforschung nicht gänzlich abzulösen sei von diesem irgendwie Gesinnungsmäßigen, weil ihr Material selber angrenzt an den Punkt, wo Bewußt und Unbewußt miteinander zu tun bekommen. Das verbündet in der Tat die Psychoanalytiker; dieses Stückchen nicht »bloßen« Wissens, bloßer Wissenschaft ist es allein, was die Wichtigkeit herabmindert, zu welchem Analytiker der Analysand sich gefunden hat. In eines Jeden tiefste Verantwortung ist es dauernd gestellt, der eigenen Selbstanalyse sein Unbewußtes so hinzuhalten, wie er vom Analysanden verlangt, sich dem aussetzen zu lernen. Man verwechsele ja nicht beim Lehrer (Analytiker) mit interessanter oder vergnüglicher Selbstzerlegung, was als Sache der Überwindung das Ernsteste in sich einschließt: den gleichen Kampf für den gesundesten Behandelnden wie beim behandelten Leidenden: deshalb nur ermöglicht so vielfach auch die sogenannte »Lehranalyse« eine ebensolche persönliche Erneuerung, als wäre sie therapeutisch gerichtet gewesen.
So enthält in der Tat die tiefenforscherische Situation etwas aus dem Wissenschaftsbetrieb sonst Auszuschaltendes: dort wird ein Zuschuß an Gesinnungsmäßigem unter Umständen der wissenschaftlichen vollen Hingebung nebenher günstig sein – hier hingegen wäre sein Fehlen der verhängnisvollste Kunstfehler bei Forschung wie beim Heilzweck. Die Passivität objektiven Forschens muß unsere innere Aktion zum Mittun aufrufen, um sich daran erst zu vollenden. Die Redlichkeit und Strenge des Denkens wird begleitet von der Zuwendung des seelischen Menschen dazu, ohne die das eigentlichste Material selber fehlen müßte. – Ich erwähne dies etwas kräftig, weil mir scheint, daß es hie und da zu unbetont bleibe, um ja nicht das Vorurteil zu wecken, es handle sich um ein sektiererisches Treiben.
Doch noch ein anderer Grund liegt vor, uns des tatsächlichen Verhaltens in der tiefenforscherischen Situation zu erinnern, und der betrifft deren Schöpfer selbst. Denn Freuds Werk, Freuds Funde beruhen darauf, daß er sich ihrer Durchforschung so restlos menschlich hinhielt; sein ursprüngliches Augenmerk galt nur dem forscherischen Wege und hielt ebenso eisern-zäh an dessen Richtung fest, wie er sich zugleich willig, ohne Abstrich, dem erschloß, was an des Weges Ende sich als dessen letztes Ziel darstellte und dem Erwarteten durchaus zuwiderlief. Beides in eins zu fassen, enthielt eben jene innere Drangabe, die über das erkennerisch Gerichtete allein hinausreicht.
Für die Schöpfung der Psychoanalyse mußte deren Schöpfer diese zwiefache Erfahrung in sich selbst zu einer Leistung bringen – – nicht zu zweierlei Analytik, sondern zu persönlichster Synthese. Und es ist Zeit, daß man es endlich laut genug sagt, um auch von taubsten Ohren gehört zu werden. Denn diese synthetische Leistung ist identisch mit seinen Entdeckungen als solchen, mit der innern Reibung, aus der sie sich entbanden. Nur deshalb über das hinausführend, was personale Veranlagung, Wunsch oder Absicht ist – ja von dieser aus gesehen fast gleich mit Enttäuschung am Vorausgesetzten, mit Verzicht auf Erwartetes, Gemutmaßtes.
Neben der ungeheuren Gegnerschaft von außen her, die Freuds Werk so opfervoll gemacht, neben Hohn oder Zorn seiner Zeitgenossen, stand auch Freuds seelischer Kampf, unbeirrt und mit ganzem Einsatz nur dem zu folgen, was er einsah, auch entgegen seiner Natur, ja durchaus seinem Geschmack. Will man solches mit den andersgearteten Opfern vergleichen, die Forscher bei ihren Erkundungen an Leben und Leibesschaden brachten, so gleicht sich dem hier ein seelischer Vollzug an durch die Entschlossenheit, Bereitschaft, wenn es denn sein muß, sozusagen aus der eigenen Haut zu springen – ohne zu besorgen, ohne zu beachten, als was man hinterher hautlos zutage käme. Denn Freud der Denker und Freud der Mensch selber bleiben doch in ihrer personalen Auswirkung eben die Zwei, die nur das Opfer eint. Kaum würde er leugnen mögen, daß jederzeit seine Hoffnungen dahin gingen, allmählich werde seiner forscherischen Arbeit die biologische Wissenschaft nach- und entgegenkommen, oder daß es ihm eher Genugtuung als Einbuße gewesen sei, zu finden, als eine wie schwer zugängliche, spröde Schöne sein »Ubw« sich herausstelle, an der die Metaphysiker aller Zeiten sich höchst unerlaubt intime Berührungen gestattet.
So, als persönlichen Rationalisten, kennt fraglos jeder Freud aus seinen Schriften und nicht nur aus den Schriftteilen, wo er – ob philosophierend oder antiphilosophisch betont, das verschlägt nichts dabei – theoretische Folgerungen zieht, die er selber (unsere Autoren nicht immer) von den rein psychoanalytisch gefundenen klar unterschieden wissen will. Ihm persönlich wäre es gemäß, Abschätzungen, die über exakt und verbindlich Feststellbares hinausweisen, in rationalistischen Blickpunkt einzubeziehen – oder mit einem Achselzucken beiseite zu tun, das etwa bedeutet: »nicht allzu wichtig nehmen.«
Etwas in der Schwebe lassen können, anstatt vergeudendem Grübeln am Unzugänglichen, ist nicht nur Recht, sondern erstrebenswerteste Pflicht menschlichen Erkenntnisvermögens: – Sieg über das sich dreinmischende Nebenbedürfnis, all das wunschgemäßer unter Einen Hut zu bringen. Aber man könnte bedenken, ob nicht mit unserer Alleinbetonung des logisch formal Erkennerischen und mit dessen immer weiter gehender Unterscheidungsmethodik jenes andere Bedürfnis fast instinktiv zunehmen mag: nun wenigstens diesen vereinheitlichenden Gesichtspunkt (über Gebühr) zu verstärken? Bringen wir es doch nur in ihm zur letzten, einzig möglichen Art der Zusammenfassung – eben durch solche unangetastete Herrschaft des Zerlegens und Zerstückens im Erkennen. Rächt sich darin und damit nicht unser reinliches, affektfrei reingehaltenes, voraussetzungslos abstrahierendes Denken gleichsam an sich selbst infolge seiner sozusagen »unmenschlichen« Abstraktion? Wir werfen unser Denkschema wie ein unzerreißliches Netz über alle zerstückte Grenzenlosigkeit der sich uns aufdrängenden Tatsächlichkeiten: zwecks der Verständigung untereinander, zwecks der Gemeinschaftlichkeit in dieser für uns abgegrenzten Welt des Netz-Umfanges (– gleichviel wie jeder Einzelne in seinem Seinsgefühl sich dazu verhalten mag, dem doch schließlich sein Denken, sein Erkennenwollen nur eben netzhaft sich darüber breitet). Ist nicht dies selber doch nur eine gewisse versuchte Nachahmung dessen, woran wir uns in unserm Lebensgefühl in Ganzheit verwurzelt fühlen – gewissermaßen als Schleier von oben, imitierend die unerfaßliche Bodentiefe darunter, an die wir nicht erkennend heranlangen?
Indem der Mensch, dies bewußtgewordene Etwas, sich im Denken vorliegt als ein zugleich Anderes, kehrt er diese Situation im Grunde ja nur nachahmend um: er kehrt gleichnishaft »nach außen«, was das Existenzgeheimnis seiner selber ist. Letztlich würde damit unser formales Denken eine Art von »Symbolisierung« – um Unaussprechliches mittels Umkehrung zur Sprache, zur Verständigung zu bringen. Verstand wäre unser Kunstgriff, dem die ungeheure Synthetik alles Existierenden sich hinhält: offen, aber – als unsere Analytik.
An dieser Stelle entschließen sich die meisten Menschen – die Wissenschaftsbeflissenen keineswegs voll ausgenommen –, ihr Wissen von exakt Nachzuweisendem zu ergänzen durch Für-wahr-gehaltenes, das sie sich gönnen oder befehlen. Als gehe es, ohne solchen Zugang zu gläubigem Optimismus, allzu gefährlich pessimistisch innerhalb unseres Menschentums zu. Ja, als fielen wir doch sonst einfach unter das »Tote«, von unserer Wissens- und Erkenntnisweise immer Zerstücktere, Entleibtere, Entseeltere, – dem Nichts überantwortet von Grund aus. Nun ist es bei Freud dem gegenüber ja so, daß er sich nicht bloß ablehnend verhält, nein: zweifellos gegnerisch, innerlich aggressiv. Und man verübelt ihm das, sofern sich’s dabei doch ums Menschsein handelt, um Nöte und Sehnsüchte des lebendig Stärksten im Menschen. Jedoch Freuds Haltung erklärt sich daraus, daß unsere Nachgiebigkeit in diesem Punkt – sagen wir summarisch-kurz: von Physik zu Metaphysik – diejenigen Erkenntnismittel dabei mißbraucht, die wir zur Anwendung in der Welt des Physikalischen schufen. An eben diesem Punkt, der beides trennt, kam ja Freud zu seinen Entdeckungen, die bis dahin größtenteils nur deshalb zugedeckt geblieben waren, weil man sie sich entweder voreilig versperrt hielt oder weil man voreilig metaphysische Voraussetzungen dazwischenschob. Was ihn da zum Kämpfer dawider, ja zum Angreifer macht, ist derselbe Ernst, ein Forscherernst ohne Abzug und Konzession, der seine von ihm so ganz unbeabsichtigten Funde unerbittlich ans Licht hob und keine Toleranz hinsichtlich ihrer Wiederverdeckung gestatten konnte. Man verwechsele das ja nicht mit Bekehreraggression, die etwa einem Überredungs- oder Belehrungsdrang entspräche (z.B. einem Nietzscheschen: »Bleibt mir der Erde treu!« oder sonstigem Verkündenwollen).
Was Freuds Sache von uns verlangt, ist nur, daß wir an dem genannten Punkt der Entscheidung um ein wenig geduldiger und abwartender unserm Erkenntniswillen zu Gebote bleiben, daß wir, ohne Rücksicht auf uns selbst, in jener Redlichkeit des Denkens stillhalten, die wir Außendingen gegenüber mit so großem Erfolg von jeher erlernten. Man gebe insofern ruhig zu: Freuds Tendenz warf uns unter die Dinge! Daß wir uns vorerst das eingestehen, womit wir allem eingereiht sind als seinesgleichen, ehe uns lediglich interessiert, wie und wodurch wir uns gründlich genug davon abheben könnten. Denn gerade unser »Mehr« vor allem Sonstigen, mit dem wir uns befassen, liegt schlechterdings ím Bewußtwerden eben dessen, was auch uns Eingang läßt in die Bruderschaft allen Seins überhaupt. Was hierbei hemmend wirkt – und immer hemmender im Verlauf unserer Bewußtseinskultur –, ist das törichteste aller »Standesvorurteile«, das dem gleichen Urboden mit allem zu gern einen gedachten Luftbau vorzieht, um sich hinauszuretten. An dieser kitzligsten, durch unsere Überheblichkeit wund oder überempfindsam gewordenen Stelle kann auch durch keine noch so weit geförderte Denkfähigkeit was geändert werden, sondern nur durch eine Denkrevolutionierung, für die Erkennen Bekennen wird.
Nachdem hier Freud auch in bezug auf seine persönliche Geschmacksrichtung als ein Rationalist von Geblüt zugegeben wurde, so daß Gefolgschaft seiner Sache nicht notwendig die seines »Gesetzes, nach dem er angetreten« voraussetzt, muß ich noch einmal zu stärkstem Ausdruck bringen, was mir seit meinem »Erlebnis Freud« nie mehr aus Kopf und Herzen wich. Nämlich den Umstand, wie sehr erst seiner ratio-ergebenen Forschungsart, am End-Rand dieses unbeirrt verfolgten Weges, sich die Funde aus dem Irrationalen ergaben; man möchte sagen: ein so herrliches Lügenstrafen, daß es den Besiegten zum Sieger einsetzt, weil er sich treu geblieben! Ist diese Wendung nicht ein ausgleichender Schlußakt, bei dem ungewollt noch das mechanisierteste Außerhalb sich zugleich zurückfindet zur Einkehr in unser verborgenstes Innerhalb, von dem nunmehr erst ganz das Heraklitische Wort gelten darf von den nimmer zu Ende abzuschreitenden Grenzen der Seele?
Davor wird denn auch der häufigste Einwand gegen den Rationalismus Freuds hinfällig, der sich das unermüdliche Zitat zum Motto nimmt: alles Vergängliche sei doch nur ein Gleichnis – nicht das Wesentliche. Gewiß –, gewiß! Nun, so wurde denn an Freud das Gleichnis perfekt.
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Lou Andreas-Salomés oft gerühmte persönliche Ausstrahlung, ihre Bildung und intellektuelle Beweglichkeit, die Freundschaft mit namhaften Zeitgenossen und ihre unkonventionelle Lebensführung sicherten ihr einen Platz in der deutschen Kulturgeschichte. Ihr Leben war und ist Gegenstand von Biographien, Romanliteratur, Musiktheater (der Oper Lou Salomé von Giuseppe Sinopoli (Libretto: Karl Dietrich Gräwe) zum Beispiel, die 1981 in München uraufgeführt wurde) und anderen Texten, in denen ihre Kontakte zu Berühmtheiten der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte erörtert werden.
Verglichen damit fand ihr eigenes schriftstellerisches Werk seither wenig Beachtung – es verschwand hinter der außergewöhnlichen Geschichte ihres Lebens, dem will KUNO abhelfen. Als renommierte Autorin hatte sie an der Entwicklung der Positionen der Moderne um 1900 lebhaft mitgewirkt. In Romanen, Erzählungen, Essays, Theaterkritiken, zahlreichen Texten über Philosophie und Psychoanalyse, einem weitläufigen Briefwechsel beteiligte sie sich an den Diskussionen über grundlegende Fragen der Zeit.
Weiterführend →
Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.