Der Verfasser zahlreicher Biographien deutscher Philosophen, darunter zuletzt „Schopenhauer oder die Erfindung der Altersweisheit“ (2010), der Autor von Erzählungen und Romanen wie auch Radiobiografien zu Herder, Kant, Schiller und Novalis hat sich in der vorliegenden philosophischen und biographischen Studie zu Sören Kierkegaard (1813-1855) ungewöhnlicher analytischer und beschreibender Verfahren bedient. Bereits der erste prüfende Blick auf das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht seine Intention. In der einleitenden Studie unter der Überschrift Er oder Ich geht es um die Klärung von zwei Arten der Selbstfindung, die Therapie am unglücklichen Bewusstsein und, hier zögert der Autor in seiner Zuweisung, die Frage danach, „wer das Selbst, das da sucht und findet, überhaupt erst ermöglicht hat.“ (S. 14) Für Kierkegaard habe es nur eine Antwort gegeben: „Es ist Gott, der hinter allem steht; er kommt zum Vorschein, wenn das Ich sich durchschaut hat und begreift, dass es sich im Normalbetrieb zwar ganz bei sich selbst sein kann, in Erst- und Letztbegründung jedoch an seiner Urheberschaft hängt, die sich der Einsichtnahme entzieht.“ Und der Ausweg aus dem Dilemma? Selbstfindung verlange eine Entscheidung: „Genügt mir mein Ich, oder öffne ich mich für das Umgreifende (Karl Jaspers)“ (S. 14) Und dieses „Umgreifende“, das bei Böhmer nur eine vage Umschreibung erfährt, komme von weit her und brauche keinen Namen, um anwesend zu sein. Der an dieser Stelle folgende Verweis auf Exodus 3,13 verwirrt insofern, als er keine Deutung des biblischen Zitats liefert, sondern wieder auf Kierkegaard zurückführt, für den der Weg der Selbstfindung „beschwerlich“ gewesen sei, der aber die Gewissheit besessen habe, dass es einen Gott gäbe. Und wir armen, meist gottlosen Zweifler zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Böhmer hat für uns einen kleinen Trost bereit. Er besteht darin, dass Selbstfindung auch für uns noch lohnend sei. Und dann folgen noch zwei Texte: ein biografisch orientierter aus dem Nachlass einer guten Bekannten aus dem Hause Agerskov, Henriette Lund, die den kleinen Sören oft getröstet hat, und ein Text von Kierkegaard, in dem dieser die Ausweglosigkeit im Ergebnis von Handlungen in einer Art Reuebekenntnis beklagt.
Sind beide Texte ein hinlänglicher Nachweis für das dialogische Prinzip, mit dessen Hilfe sich der deutsche Philosoph dem Kernbereich der Kierkegaardschen Selbstfindung nähern will? Zunächst gibt uns die Zeittafel (S. 17-20), in der die zweiundvierzig Lebensjahre von Sören Kierkegaard, unterteilt nach biografischen Daten und der Liste seiner Werke, aufgelistet sind, Auskunft über den dänischen Philosophen, dessen Werk erst am Ende des 19. Jahrhunderts nach Übersetzungen ins Deutsche und Englisch zur Kenntnis genommen wurde. Wäre es nicht die Aufgabe der vorliegenden philosophischen Schrift gewesen, mit dieser verspäteten Rezeption einzusetzen, die jähe Anerkennung des Werkes von Kierkegaard als Beginn der Existenzphilosophie zu kommentieren und dann erst mit der dialogischen Auseinandersetzung zu beginnen? Stattdessen setzt die in vierzehn Abschnitte unterteilte Abhandlung unter der Überschrift Bis zur Unsichtbarkeit entfernt mit einer Reflexion ein, in der die unsichtbare Präsenz Gottes als zentrales Problem im Denken von Kierkegaard aus dessen schuldbeladenen Verhältnis zum Vater und dem Widerwillen gegenüber der dänischen Staatskirche abgeleitet wird. Es sind vielmehr zwei Denkfelder, auf denen der meist unter Pseudonym publizierende Philosoph sein frei von Abstraktionen entwickeltes offenes Konzept ausbreitet: die Anthropologie und der christliche Glaube, in der „die Menschen jenseits der Menge wieder zu Einzelnen werden, aber nicht zu Einzelnen für sich, sondern zu ‚Einzelnen vor Gott’. (Hans Joachim Störig) Erst im Abschnitt Ein Zeichen von Liebe setzt sich Böhmer mit der spezifischen Auslegung des Christentums Bei Kierkegaard auseinander. Es sei eine scharf gewürzte Speise, das auf keiner Speisekarte aufgeführt sei, „um in seinen Genuss zu kommen, muss man ausgehundert sein, ergeben und willig wie ein Kleinkind, das, ohne (es) zu wissen …, in die Kunst der geregelten Nahrungsaufnahme eingeführt wird.“ (S. 61) An dieser Stelle erfolgt ein gedanklicher Sprung in den Zweifel, der als Bedarfswürze einer Speise definiert wird, bei deren Herstellung man keine Kompromisse eingehen sollte. Böhmers Erkenntnis, dass Kierkegaards Christentum nur echt sei, „wenn es nach der von ihm lizensierten Originalrezeptur angerichtet wird“ (S. 62), erweist sich als kulinarischer Trick, der den Leser ebenso wenig überzeugt wie der angefügte Kierkegaard-Text über ein unvergessliches Kindermädchen, eine stille Nymphe.
Andere Passagen in der biografisch-philosophischen Schrift, wie der Bericht über Kierkegaards beide einzige Auslandsaufenthalte in Berlin (1841 und 1843), die erhellende Beschreibung des großstädtischen Milieus, der Besuch der Schellingschen Vorlesungen, die wertende Betrachtung der junghegelianischen Schriften aus der Sicht von Kierkegaard und dessen Interpreten erweisen sich als übersichtlich und folgerichtig in der Argumentation, selbst der diesem Abschnitt zugehörige Originaltext über das Unvermögen Schellings (vgl. S. 117f.) fügt sich in diesen Abschnitt ein. Er ist ein Beispiel für eine gelungene dialogische Auseinandersetzung zwischen dem denkenden Subjekt und dessen Interpreten!
Und die immer wieder thematisierte Aktualität des Kierkegaardschen Denkens, wie sie seit den 1990er Jahren in zahlreichen Biographien und Einführungen hervorgehoben werden? Böhmer thematisiert sie vor allem in dem Abschnitt In Ferne und Verborgenheit (vgl. S. 119-137). Dort spricht er von Hektik und Schnelllebigkeit, die Kierkegaard als Kennzeichen der vorausgeahnten Moderne erkannte, dem Verlust elementarer menschlicher Fähigkeiten, die, so Böhmer, den Menschen gleichsam in eine Kunstfigur verwandele. Diese Urteile untermauernd setzt er sich auch mit dem Stellenwert des bereits verflossenen Existenzialismus auseinander, der angesichts der sich abzeichnenden Revolte des Individuums durchaus eine Wiederauferstehung erleben könne.
Trotz solcher in sich überzeugender Passagen bleibt ein vager Gesamteindruck von einer Publikation, in der die Grundzüge des Denkens von Sören Kierkegaard weniger „plastisch und klar“, wie auf dem Klappentext angekündigt, als dialogisch verwirrend nachgezeichnet werden. Sind die Ursachen dafür in der Verinnerlichung des Kierkegaardschen dialogischen Denkens zu entdecken, von dem der Autor sich nur dann lösen kann, wenn er die biografischen Fakten und einige der Texte „seines“ Philosophen stringent mit dem Konzept der Selbstfindung bündelt. In solchen Passagen zeichnet sich für den Leser auch ein Zugang zu einem Werk ab, das in den letzten drei Jahrzehnten eine so differenzierte Rezeption erfahren hat, wie die repräsentative Auswahl der Biografien und der Sekundärliteratur (vgl. S. 168f.) nachweist.
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Reif für die Ewigkeit, von Otto A. Böhmer. Sören Kierkegaard und die Kunst der Selbstfindung. München (Diederichs) 2013, 173 S., 17,99 €, ISBN 978-3-424-35075-3.