Vor der Postleitzahlenkarte sind alle gleich. Vor dem Geburtsregister ebenfalls. Lassen wir mal den Reiseführer zu Hause und begeben uns aufs Geratewohl auf eine Bahnfahrt quer durch die deutschsprachige Lyriklandschaft.
Carsten Schwedes
Während man gerne in Dekaden denkt, ist das Lustrum eher die kleine Stiefschwester. Kaum eine Anthologie bietet seit fünf Jahren einen so guten Überblick über aktuelle lyrische Tendenzen wie Versnetze. Es ist ein Abenteuer, sich in diese regionalen Sprachlandschaften hinein zu begeben. Axel Kutsch ist eine Wahrnehmungsinstanz, seine Anthologien sind eine leselustvolle Entdeckungsreise durch das mentale Hinterland der deutschen Sprache.
Die herausragenden Talente haben ihre eigene, oft artistische Diktion entwickelt. Und wenn man genau hinschaut, wird man erkennen, dass auch sie in ihren Gedichten die Realität keineswegs aussparen – wenn sie auch nicht so nah am Leben schreiben wie beispielsweise Jörg Fauser oder das ungestüme Genie Rolf Dieter Brinkmann. Nebenbei: Genies sind knapp. Das war schon immer so.
Axel Kutsch
Neue Lyrik erreicht seit jeher ihre Leser vorzugsweise über Sammelbände, und immer wieder leisten diese zusätzlich Erweckungsdienste für junge Autorinnen und Autoren, die hier Vorbild und Meister entdecken und hoffentlich auch die Erkenntnis, daß fast noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Versnetze_sechs demonstiert ähnlich wie die Vorgänger: Lyrik ist nie homogen, resultiert sie doch aus zahllosen Stimmen und Stilen, die hier eine Reihe von Berührungspunkte aufweisen, dort aber auch kaum eine Ähnlichkeit aufweisen. Wahrnehmende und Wahrgenommenes gehen eine Liaison ein. Der Weltzugang ist für einen Dichter im 21. Jahrhundert zugleich hochkomplex, kann aber durch die sprachliche Präzision und Reduktion zugleich auch von einer bestechenden Einfachheit sein. Diese Lyrik bewegt sich auf dem Grat zwischen der Fülle und dem Halt in einem Koordinatensystem, das oft überbordende, in Kaskaden, zuweilen Kavalkaden und Wortspielen aufscheinen läßt. Die Methode dieser Dichter ist das Aufspüren eines poetischen Augenblicks, sie beschreiben eine Begebenheit, umtasten eine Situation, um das lyrische Brennglas darauf zu richten.
Versnetze über den Sprachraum legen
Theo Breuer
Ziel der Anthologien, die Kutsch gelegentlich auch thematisch bzw. als Überblick über die gesamte deutschsprachige Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart oder eine Epoche anlegt, ist es, die Entwicklung des zeitgenössischen deutschsprachigen Gedichts in seiner Breite zu dokumentieren. Dieser Herausgeber legt großen Wert darauf, eine Übersicht über Inhalte, Formen und Schreibweisen der facettenreichen aktuellen deutschsprachigen Lyrik quer durch die Generationen und Regionen zu vermitteln. Dies wurde durch die aktuelle Ausgabe Versnetze_sechs beeindruckend eingelöst, man findet die introspektive Lyrik ebenso wie Neologismen, Sprachspiele oder Verssetzung und Metrik, es geht um exakte Erlebnisbeschreibungen, um Berichte, die sich zu einem Moment der Spiritualität innerhalb des einfachen Daseins hinaufsteigern. Die Gebundenheit, Gereiftheit und Konzeptionalität im lyrischem Schaffen erschließt sich durch Gedichte, die ganz in der Welt sind, weil sie sich nicht aufdringlich mit Phänomenen des urbanen Alltags auseinandersetzen und auf einen eigene Sichtweise beharren.
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Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.
Trivia: KUNO traut jedem über 30 und empfiehlt die von Axel Kutsch edierten Lyrik-Anthologien 1983 – 2013
1 ∙ Die frühen 80er. Lyrik und Prosa · 1983
2 ∙ Keine Zeit für Lyrik? · 1984.
3 ∙ Lebenszeichen 84. Lyrik · 1984.
4 ∙ Gegenwind. Neue Gedichte deutschsprachiger Autoren · 1985.
5 ∙ Ortsangaben. Lyrik · 1987.
6 ∙ Lyrik 87 · 1987.
7 ∙ Wortnetze I. Neue deutschsprachige Lyrik · mit Michael Rupprecht · 1988.
8 ∙ Wortnetze II. Neue deutschsprachige Lyrik · 1990.
9 ∙ Wortnetze III. Neue deutschsprachige Lyrik · 1991.
10 ∙ Zehn. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en · 1993.
11 ∙ Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre · 1994.
12 ∙ Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Mondlyrik vom Barock bis zur Gegenwart · 1995.
13 ∙ Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1996.
14 ∙ Orte. Ansichten. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 1997.
15 ∙ Das große Buch der kleinen Gedichte. Deutschsprachige Kurzlyrik der Gegenwart · 1998.
16 ∙ Reißt die Kreuze aus der Erden! Lyrik in den Zeiten der Revolution von 1848 · 1998.
17 ∙ Der parodierte Goethe. Neue Texte zu alten Gedichten · 1999.
18 ∙ Unterwegs ins Offene. Erste Gedichte aus einem neuen Jahrtausend · mit Anton G. Leitner · 2000.
19 ∙ Blitzlicht. Deutschsprachige Kurzlyrik aus 1100 Jahren · 2001.
20 ∙ Städte. Verse. Deutschsprachige Großstadtlyrik der Gegenwart · 2002.
21 ∙ Zeit. Wort. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2003.
22 ∙ Lunas kleine Weltrunde. Das Mondkarussell der Poesie · 2003.
23 ∙ Spurensicherung. Justiz- und Kriminalgedichte · mit Amir Shaheen · 2005.
24 ∙ 47 & 11. Echt kölnisch Lyrik · 2006.
25 ∙ Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik · 2008.
26 ∙ An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes · 2009.
27 ∙ Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2009.
28 ∙ Versnetze_drei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2010.
29 · Versnetze_vier. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2011.
30 · Versnetze_fünf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2012.
31 · Versnetze_sechs. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart · 2013.