Bacons Erben

 

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Der Mathematiker und theoretische Physiker Cédric Villani konstatiert in seinem Buch Das lebendige Theorem. dass man immer noch nicht das Rätsel der Änderung des Aggregatzustands erklären kann. Warum geht eine Flüssigkeit in ein Gas über, wenn man sie erhitzt, warum verwandelt sie sich in einen Festkörper, wenn man sie abkühlt? Der Eindruck, dass gerade Experten – Wissenschaftler, Politiker, Verwaltungsbeamte – die ›einfachsten Dinge‹ nicht verstehen, beruht auf einer Fehleinschätzung. Nur Experten wissen, dass oft die ›einfachsten Dinge‹ viel komplizierter sind als der Laie ahnt. Für alles, was überhaupt verstanden werden kann, gibt es unterschiedliche Tiefen des Verstehens. Von dem Physiker Richard Feynman stammt die Bemerkung: Wer glaubt die Quantentheorie verstanden zu haben, hat sie nicht verstanden.

 

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Vielleicht hängt es mit sehr frühen Erfahrungen unserer Spezies zusammen, dass uns nichts stärker beunruhigt als das Unvertraute. Es verliert erst dann seinen Schrecken, wenn wir gelernt haben, es zu ›verstehen‹. In diesem Sinne ist ›Verstehen‹ eine therapeutische Maßnahme (und die einzige Alternative ist Gewöhnung). Nun ist ›die Welt‹ (deren Teil wir sind) viel zu komplex und kompliziert, als dass menschliche Intelligenz sie in ihrer Totalität verstehen könnte. Die Strategie des abendländischen Kulturkreises, dieser Ausgangslage zu begegnen, hat sich seit frühen Anfängen nicht geändert, sie heißt: Reduktionismus. Vielleicht hat Newton die unverstandene Stabilität des dynamischen Universums als persönliche Zumutung empfunden, wie eine Krankheit erlitten, von der er erst geheilt war, als es ihm gelang durch die entscheidende Reduktion alles verstehbar zu machen: M1 x M2 / r2. Reduktion führt immer zum Einfacheren. Plötzlich ist auch der fallende Apfel nichts als M1 und verschwunden sind Baum und Garten, Fruchtfleisch, Botanik und der Beobachter, der rücklings im Garten liegt.

 Je einfacher eine Erklärung ist, umso eher empfinden wir sie als wahr. Gibt es mehrere mögliche Erklärungen / Theorien für ein Phänomen, einen Sachverhalt, so wählen wir  erfahrungsgemäß stets die einfachste. Damit folgen wir intuitiv einem nach Ockham benannten Prinzip der Theorienbildung. Es stammt aus dem Mittelalter, doch ist es immer aktuell geblieben und hat die Entwicklung der Natur- und Geisteswissenschaften entscheidend bestimmt. In gewisser Hinsicht ist Ockhams Regel ein ästhetisches Prinzip, und es war stilbildend

 Es gibt schöne und hässliche Theorien. Auch hässliche Theorien können nützlich sein, doch werden wir immer die schönen bevorzugen. Hässliche Theorien enthalten zu viele empirisch gewonnene Parameter, auch Einschränkungen und Zusatzannahmen. Sie sind aus zahlreichen Sachhinweisen zusammengeflickte Reportagen, keine großen Erzählungen, sie entfalten die Wirklichkeit nicht. Wenn der Physiker Paul Dirac zwischen zwei Theorien, die beide gleich gut mit der Erfahrung korrespondierten, wählen musste, entschied er sich für die Theorie mit den ›eleganteren‹ Gleichungen, der ›schöneren‹ Mathematik. Um die Schönheit von mathematischen Konstrukten nachempfinden zu können, muss man sehr viel Mathematik kennen, viel von Mathematik verstehen. Gilt das sinngemäß nicht auch, wenn wir von Musik, Bildern oder Gedichten sprechen? Ohne Übung, Kenntnisse, Erfahrung bleiben wir vor dem artifiziell Schönen  blind und taub.

 

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Man kann Theorien nach ihrem mehr oder weniger fundamentalem Charakter unterscheiden. Reduktionismus bedeutet dann, dass man Theorien A und B auf eine fundamentalere Theorie C reduziert. Umgekehrt lassen sich A und B aus C herleiten. Wird Theorienreduktion nicht nur innerhalb einer gegebenen Disziplin, zum Beispiel der Physik, betrieben sondern interdisziplinär, entstehen Fragen, die zumindest für den Insider interessant sind, etwa: Kann Chemie vollständig auf Elementarteilchenphysik reduziert werden? Diese Frage wird seit langem von Fachwissenschaftlern diskutiert und zwar mit einer Leidenschaft, die den Außenstehenden verblüffen muss. In populärwissenschaftlichen Büchern über ihr Fachgebiet haben ein Chemiker, Roald Hoffmann, und ein Physiker, Steven Weinberg, beide Nobelpreisträger, dieses Thema behandelt. In ihren Büchern gibt der Physiker dem entsprechenden Kapitel den Titel Lob des Reduktionismus, der Chemiker, Kampf dem Reduktionismus. (Eine sorgfältige Analyse des Problems hat der Zürcher Chemieprofessor Hans Primas durchgeführt). Kritisch wird es, wenn die Frage der Theorienreduktion sich auf Disziplinen bezieht, die, was Objekte, Methoden und Theorien angeht, weit voneinander entfernt sind, zum Beispiel Biologie und Elementarteilchenphysik. Die Diskussionen nehmen dann weltanschaulich-politischen Charakter an und erscheinen dem nüchternen Beobachter als absurd. Am Ende dieser umfassenden Theorienreduktion soll – wie die Befürworter hoffen – eine Theorie von Allem stehen, von der die Gegner prophezeien, dass sie nichts  als eine Binsenwahrheit sein wird.

 

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Literatur:

Cédric Villani, Das lebendige Theorem, S.Fischer Verlag, 2013

Roald Hoffmann, Sein und Schein / Reflexionen über die Chemie, Wiley-VCH, 1997

Steven Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, C.Bertelsmann Verlag, 1992

Hans Primas, Chemistry, Quantum Mechanics and Reductionism, Springer Verlag, 1981