Cleopatra

Man kann so viel reden wie Schnee fällt das Wirkliche fehlt der Mund lässt mich allein wenn er mein Leben erzählt.

Herta Müller

 

Ein Freund, Liebhaber und Kenner der Literatur, schrieb mir vor Jahren einen Brief, in dem er eine Geschichte festhielt, die ihm an der Küste der Nordsee ein anderer Kenner und Liebhaber der Dichtung einmal erzählt hatte, noch in der Zeit, als die berühmte Mauer Deutschland zerschnitt und die ganze Welt teilte, als der Ostblock noch existierte und der Kommunismus mehr bedeutete als Papier und Druckerschwärze und das Reisen von Ost nach West und von West nach Ost keine leichte Sache war. Von Ost nach West noch viel schwieriger als von West nach Ost, weil die Herrscher des Ostens befürchteten, dass die in den Westen Reisenden nicht wieder zurückkamen wie die Zugvögel, sondern bestrebt waren, im Kapitalismus ein schöneres Nest zu bauen. Bei den Dichtern kam es allerdings darauf an, ob man froh war sie loszuwerden oder als Besitz betrachten wollte, weil sie der kulturellen Reputation nutzten.

Ich habe den Brief meines Freundes immer wieder gelesen, und ich fragte mich oft, ob es sich um eine Legende handelt, oder um die Legende einer Legende, denn der Bekannte meines Freundes stützte seine Erzählung auf eine ungenannte Quelle, die jedoch, so versicherte dieser, absolut rein und glaubhaft sei; die Geschichte habe einen wahren Kern, der nur aus politischen Gründen habe verkleidet werden müssen, um den ersten Erzähler nicht zu gefährden. Und ich deute jetzt schon an, dass ich inzwischen mehr erfahren habe …

Ich zitiere nun den Brief meines Freundes, um keine weitere Eintrübung oder Verschleierung zu erzeugen, und ich verzichte deswegen auch auf jede Erläuterung oder gar Deutung.

Eines Tages, so heißt es in dem undatierten Brief meines Freundes, sei aus den Niederungen der ungarischen Tiefebene die Dichterin Leonie Herz nach Deutschland gekommen, wo sie an einer Literaturtagung im hohen Norden teilnahm. Sie war weit gereist, von einer Tiefebene zur anderen. „Lieber Béla“, schrieb er, „Leonie sagte mir gestern, als wir von Cuxhaven zurückkamen, wo wir einen Nordseekrabben-Teller im ‚Wattenkieker’ verzehrten, das Meer verwandele die terrestrische Tristesse in auflebende Farben, die Erde steige und sinke, die Bodenwellen flimmerten im Märzlicht: ‚Es ist schön unter diesem rauhen Himmel, hier will ich mich verlieben.‘ Ich dachte, ich höre nicht recht. Sie sah mich an, spürte genau, was ich dachte und sagte: ‚Es wird bald Frühling, ich ertrage die Blüten nicht, wenn ich selber nicht blühe.‘ In der Sonne wolle sie sein und nachts als Mondholz geschlagen werden. ‚Dann kann ich auch wieder schreiben. Jetzt muss ich schweigen und warten.‘ Und stell dir vor, heute hat sie einen Mann kennengelernt, einen blassen Herrn, sagt sie, als sie durch die Stadt lief und vor einem Geschäft der Königlich Preußischen Manufaktur stehen blieb. In der Schaufensterscheibe spiegelte sich, indem sie die weißen, halb chamoisfarbenen Mokkatassen betrachtete, das Gesicht des Mannes, in das sie sich sofort verliebt habe. ‚Weil es so blass war‘, sagte sie, ‚wie die Mokkatassen, die allerdings vor lauter Weiß strahlten.‘ Und schon habe sie den Titel für ihren neuen Gedichtband im Kopf gehabt. Leonie wohnte zu der Zeit bei zwei Frauen in B., deren eine die Literaturtage des Nordens organisierte und schon oft Autoren aufgenommen hatte. Peter Rühmkorf zum Beispiel, der bei den beiden Damen dionysische Abende des Geistes feierte, und das nicht nur einmal. Die Frau aus der balkanischen Tiefebene blieb, als die Tagung mit dem Thema Die Poesie im Handgemenge vorbei war, noch einige Wochen länger – eben wegen dieses blassen Herrn, der bald immer mehr Farbe bekam. Das merkten auch die zwei gastfreundlichen Frauen, als sich ihr Haus von Fall zu Fall als Liebesnest entpuppte, jedenfalls nachmittags. Der blasse Herr aus W. kam fast jeden Tag, aber abends musste er wieder nach Hause. Wenn er kam, erschien er in den spätwinterlichen Tagen fahl und kalt. Aber war er wirklich so blass wie in der Schaufensterscheibe? No, Blässe oblige, dachten die beiden Frauen, wenn er ihr Haus wieder verließ, den Hut zog, wie ein Kavalier alter Schule grüßte und mit starkem Schritt zum Auto ging.

Eines Nachmittags aber, um die Zeit, wo der blasse Herr aus W. sich eigentlich verabschiedete, schlossen die beiden Gastgeberinnen die Haustür auf, traten nur halb in den Flur und trauten ihren Ohren nicht, als sie den Lärm hörten, der aus der Küche kam – der Tisch schepperte über die Steinfliesen hin und her, begleitet von hellen Schreien in den Intervallen des Tischrhythmus … Ein starker Parfum-Duft verschlug ihnen fast den Atem. Die Frauen tappten rückwärts über die Schwelle nach draußen, zogen die Tür zu und unternahmen einen Spaziergang bis zur Weser und wieder zurück, um ihr Glück erneut zu versuchen, aber das Auto stand immer noch vor der Tür, so dass sie sich zu einem zweiten Spaziergang aufmachten. In der Dämmerung gelang ihnen die Rückkehr …

Am Abend langweilte sich Leonie und setzte sich zu den beiden Frauen ins Wohnzimmer, sie wartete auf ihn, der morgen wiederkommt, sie schnitt aus den Zeitschriften und Illustrierten, die sie im Wohnzimmer fand, ein Wort nach dem anderen aus, kleine Sätze, auch Bildchen und Symbole, farbig, schwarz, und grau und blass, klebte sie dann auf weißes Papier, und so entstanden kleine skurrile Texte, die sie da auf dem Teppich zurecht schnipselte, manche waren traurig, andere absurd. Gedichte aus lauter Sandkörnern. ‚Ich sammle das Strandgut aus der Zeit. Ich stehe am Sommerrand‘, las sie, ‚da kam ein aufgeräumter Mann, hatte kreideweiße Schuhe und pfiff ein Möwenlied‘ … Abend für Abend saß Leonie an ihrem Strand und das ganze Haus roch für sie nach Meer, den der Wind in alle Zimmer wehte. Es war aber ihr Duschgel, und ihr Parfum, das den Namen Cleopatra trug, ein süßes Gift der Verführung, das in der Erinnerung an den Nachmittag sie selbst ein wenig betäubte. ‚Im kleinen Rausch am Strand der Wörter entstehen die Dünen, sagte sie.‘“

 

Weiterführend →

Lesenswert auch Ulrich Bergmanns deutsche Seelenlandschaften im Postkartenformat. Mit seinen „Correspondenzkarten“ verschafft er den Lesern das Vergnügen von spezieller Twitteratur. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.

 

NACHTRAG:

Und hier ist das Dokument, das den Brief meines Freundes gewissermaßen verbrieft, so dass nun vollkommene Glaubwürdigkeit hergestellt ist. Es ist der Brief von einer der Frauen, bei der die Dichterin wohnte. Sie hatte den Brief vom 29.12.2009 an mich nicht abgeschickt, wahrscheinlich war ihr damals die Sache zu heiß. Heute ist sie tot, und so kann ihr nichts schaden, wenn der unabgesandte Brief nun bekannt wird, der mir nun aus dem Nachlass zugestellt wurde:

„Lieber Béla,

schon lange ist die Antwort fällig, aber die gegebenen Umstände haben es verhindert …

Vielen Dank für das Buch zu Weihnachten: Die blassen Herren mit den Mokkatassen sind ein Treffer ins Schwarze! Denn, was du nicht weißt: Herta, die Autorin der Schnibbelgedichte, wohnte bei uns, als sie an den Literarischen Wochen der Volkshochschule Bremerhaven teilnahm, und zwar im Juli 1989.

Die Zeit mit Herta war spannend und anregend, aber sie war auch sehr anstrengend. Denn sie hatte damals gerade einen neuen Lover, der in der Nähe wohnte (ich glaube Wilhelmshaven) und der kam oft und dann war unser Haus besetzt! Denn die beiden hatten keinen bevorzugten Ort für ihre heiße Liebe. Wir wussten schon an der Haustür, wenn wir von der Arbeit nach Hause kamen und die Haustür öffneten, ob es besser war, sie sofort wieder zu schließen und lieber in einer Stunde noch einmal vorbeizuschauen. Wenn dann Ruhe war, herrschte aber noch stark der Duft von Cleopatra … Herta benutzte die Marke als Duschgel, danach trug sie die Bodylotion auf und schließlich das Parfum … Herta hat ihre Spontangedichte bei uns erfunden. Sie hatte ja viel Zeit, wenn ihr Stecher nicht da war. Ich hatte damals die ZEIT abonniert, und Herta saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden und schnippelte interessante Wortfetzen aus und montierte sie dann zu skurrilen Texten, manche voller Wortwitz, manche absurd, manche traurig …“