Jede fiktionale Form bringt ihre eigene Erfüllung mit sich – bei der Erzählung ist es das Gewicht der Sätze, da es nicht viele davon gibt.
El Doctorow
Es ist sicher kein Zufall, daß ich nach dem Hören von Reinhard Meys Das Narrenschiff an Herrn Nipp denken mußte. „Liebevolles Verstehen“ möchte man diesen beiden Eigenbrödlern nur zu gerne unterstellen, doch nicht nur Herr Nipp würde unwirsch abwinken. Das absichtlose Herumstromern in den eigenen Befindlichkeiten und den Bequemlichkeiten der Anderen ist im Prinzip ein Akt fortgesetzter Selbstvergewisserung. Mit Luhmann’scher Akribie betreibt Hieronymus eine Art von Mikro-Ethnologie, er fügt anschließend die Satz- und Wahrnehmungssplitter in Die Angst perfekter Schwiegersöhne zu etwas zusammen, das entfernt einem Handlungsablauf ähnelt. Sich dem Jetzt aussetzend, ohne die dahinter liegende Geschichte zu vergessen.
Haimo Hieronymus verknappt grosse Gesellschaftsromane zu schlanken Storys.
Einer Welt gegenüberstehend, die nicht immer verständlich ist, einer Gesellschaft angehörig, die gebrochen erscheint. Kommentierend und hadernd, reflektierend und feixend geht Hieronymus daran, in Die Angst perfekter Schwiegersöhne diese Welt zu erschließen, versucht er sie zu hinterfragen und zu verstehen. Streut dabei fast schon natürlich Salz in die Wunden und lächelt uns dabei freundlich zu, als könne er keiner Fliege etwas tun. Früher hat Hieronymus die Strukturen der Natur untersucht, über zehn Jahre lang versuchte er die Beziehungen und Fraktale zu verstehen, seit einigen Jahren geht es ihm um die Strukturen der Gesellschaft und auch hier arbeitet er gewissenhaft, geht auch kleinen Verästelungen, geht den Beziehungen zwischen Menschen und ihren kleinen Sorgen nach. Kommentiert mit spontanen Texten, Fragmenten und Wörtern. Zunächst ist diese Prosa ästhetisches Erlebnis, dann sickert langsam ein Erkennen ein. Die Geschichten von Herrn Nipp wollen nichts erzwingen, sie verführen uns zum Denken.
Präzise Schilderungen sezieren das normierte Leben in der Provinz.
Herr Nipp gerät, je weiter der Erzählungsband voranschreitet, in ein dichtes Gewebe möglicher Motive seines Handelns. Wir Leser gewinnen in diesem Update des alten Modells Kurzgeschichte sehr präzise Einblicke in das Leben in der vermeintlichen Provinz – aber auf Kosten der Rätselhaftigkeit, Leere und des Unheimlichen, die Herrn Nipp an die Seite der Figuren von Franz Kafka rücken. Hieronymus treibt in Die Angst perfekter Schwiegersöhne ein vertracktes Spiel. Zwischen Selbst-Befragung und schwarzen Sarkasmus entlarvt er das äußere Bild als Schema, die Oberfläche der Haut als verletzbare Hülle des Eigentlichen. Schreibend sucht er nach den gesetzten Normen und weiß, daß man sie nicht überschreiten muss, um Grenzgänger zu werden. Herr Nipp sucht in einer entgrenzten Welt Grenzen in sich. Es bleibt eine Vorstellung, die betreten werden kann. Man kann diesen Raum durchschreiten, die Welt da draußen vergessen, sich einfach auf die Situation einlassen, mit eigenen Bildern, den Gerüchen und dem leicht gedämpften Klang der Außen- und Innenwelt. Im Zeitalter der kulturellen Globalisierung und Traditionsverschiebungen bleibt der Mensch als strauchelndes Wesen auf den Straßen der Zivilisationen zurück und sucht nach den Bruchstücken seiner selbst. Der allseits flexible Mensch des 21. Jahrhunderts in seiner Geworfenheit ist das Thema von Hieronymus.
Das Glück ist nur eine Frage völlig beliebiger Umstände, die wir dann schicksalhaft nennen.
Peter Meilchen
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muß man keinen Falken mehr verzehren, um novellistisch tätig zu sein. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter kann Mikroblogging zu einer Form der Literatur mutieren. Haimo Hieronymus dampft die Gattung der Novelle zu Twitteratur ein.
Wenn die Novelle aus dem Italienischen übertragen als Kleine Neuigkeit übersetzt werden kann, dann liegt Herr Nipp wohl richtig, denn kurz sind seine Texte nun wirklich. Zwischen zwei bis vier Sätzen spielt sich alles ab. Da können Welten, Landschaftsgemälde und weltgeschichtliche Ereignisse entstehen und uns in die Vergangenheit oder Zukunft mitnehmen. Er macht weder halt vor Märchen und Bibel, noch vor aktuellen Ereignissen oder Legenden des Films. Die Naturbeobachtungen treffen immer nur den Kern, nachdem das Fruchtfleisch entfernt und von andern gegessen wurde. Ohne auf die Erfordernisse der Twitteratur zu achten wird ein eigener Weg verfolgt, der trotzdem oder gerade deshalb in diese Zeit passt. Entweder es entstehen heute unendliche Geschichten mit tausend Seiten oder kürzeste Textfragmente mit zehntausend Reflexionen. Da Herr Nipp als virtuelle Figur das Schreiben nicht studiert hat, sondern der von Hieronymus geschaffen Legende nach über seine Zufallsnotizen und Tagebücher zum Verfassen kam, mag man ihm einige Ungereimtheiten verzeihen. Es natürlich kann auch sein, dass alles geplant ist. Hier geht es nicht um intellektuelle Komposite, sondern das Hintergründige wird nach vorne geschoben und auf der Straße breitgewalzt. Zur Not auch eine Eidechse. So wird das Buch zu einem großen Krabbeln, einer kitzligen Verameisung.
Germanistischer Exkurs
Alle Forderungen der Literaturwissenschaft werden in wenigen Wörtern eingehalten: Zentraler Konflikt, Leitmotiv oder Dingsymbol, straffe und vorwiegend einlinige Handlungsführung, das pointierte Hervortreten eines Höhe- und Wendepunktes, stark raffender Handlungsbericht, besondere Vorausdeutungs – oder Integrationstechniken, Zurücktreten ausführlicher Schilderungen äußerer Umstände oder psychischer Zustände, hohes Maß an Objektivität, doch trotzdem subjektive Erzählhaltung usw. (siehe Metzler Literatur Lexikon, 1984. Seite 308ff).
Tatsächlich kippen die Kurznovellen zwischen Schwank und Philosophie, zwischen ernsthafter Weltbeschreibung und banaler Posse. Dabei nehmen sie sich Themen an, die manchmal auch unangenehm sind und zeigen an jedem Falkenmotiv eine neue, zumindest aber eigene Perspektive auf, die verblüfft oder nachdenklich stimmt.
Haimo Hieronymus hat in seinem 64-seitigen Band einige Texte des Blogs von Herrn Nipp zusammengefasst. Auch wenn man dieses Buch in einer halben Stunde durchlesen kann, lohnt es sich und manchmal kann man sich ein gemeines oder schadenfrohes Schmunzeln nicht verkneifen.
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Weiterführend →
Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist Mikroblogging eine auflebende Form. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeit ist erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421