zu den Gedichten von Peggy Neidel
die idyllen schreddern, ja
klingt irgendwie passend
1
Lakonische Gebilde. Zuweilen Vierzeiler. Ein langer Text am Anfang. Stets ein hintergründiger Sound, als liefe da etwas mit. Ein kosmisches Rauschen vielleicht oder doch nur der Klang eines Aufnahmegerätes. Und Kraft. Das sind die Momente, die mich überzeugten, die mich von Anfang an für diese Texte einnahmen. Und diese einzigartige und eigensinnige Stimme.
2
Es sind Texte, die die Gegenwart auf den Punkt bringen.
Aber was heißt eigentlich Gegenwart? Wie bestimmt man sie, als Zeitraum oder Zeitpunkt? Liegt sie zwischen zwei Kriegen oder zwischen zwei Naturkatastrophen, oder befindet sie sich am Ende gar nicht zwischen den katastrophalen Ereignissen, sondern kommt unbemerkt, bleibt eine Weile und verschwindet dann wieder?
Letzteres würde mich noch am meisten beunruhigen. Man lebt in einer Gegenwart und bemerkt es gar nicht. Neidels Texte reißen am Vorhang.
Die großen Erzählungen sind im letzten Jahrhundert an ihr Ende gelangt und die Utopien haben sich in die Schneckenhäuser zurückgezogen.
Das heißt aber nicht, dass wir jetzt entspannter wären. Es herrscht eine merkwürdige Gereiztheit. Die Menschen bewegen sich durch postapokalyptische Landschaften, seltsam unsicher, stets auf der Suche. Vielleicht nach sich selbst und einer Idee, wie es sein könnte. Und offensichtlich mit einem Mangel, als fehlte ihnen die Rückbindung an etwas, »woran man sich halten kann«.
Peggy Neidel interpretiert dieses Nichts, das auch Brecht vor circa neunzig Jahren in seinem Lesebuch für Städtebewohner prognostizierte, auf gegenwärtige Art. Das Nichts wird zu weiß. Die Farbe, die zugleich alle Farben in sich vereint.
Die Gedichte dieser Autorin machen sie kenntlich, die Jetztzeit, jenen Moment, den ein Herzschlag ausmacht. Der sich bei näherem Hinsehen kaum verändert, aber an Dynamik gewinnt, je weiter man zurücktritt. Es ist ein Wassertropfen, von dem man sich entfernt und den man in einem Fluss findet. Sie selbst sagt: »Mir geht es darum, mit Gedichten Situationen und Begebenheiten zu filtern, zu analysieren und zu verhandeln. Dabei möchte ich in ein Gespräch mit dem Leser treten, ihn ansprechen und berühren. Kopf und Herz gehören unbedingt zusammen.«
3
Peggy Neidels Gedichte bleiben ganz nah dran, an den künstlichen Oberflächen, die uns mittlerweile umgeben, und vielleicht umgab uns noch nie etwas anderes als das: künstliche Gebilde, die uns zur Natur geworden sind. Und in dieser Nähe bleibt der Fluss, der Wald als Ahnung und als Zitat. Wer nach dem Ursprung sucht, verschwindet.
weil kein wort mich zu verstellen mag
und du auch längst erkennst
dass nie ein ort der welt mir zum verstecken taugt
Früher dachte ich, die Feststellung einer Tatsache macht diese handhabbar. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, sagte man mir und ich nahm es für bare Münze. Eine Erkenntnis der Welt ist die Bewältigung.
Allerdings lebt in diesem einfachen Reim ein Denkfehler. Eine erkannte Gefahr verliert das Gefährliche nicht, bleibt Gefahr und wird längst nicht zu einer banalen Situation. Peggy Neidels Flächen sind aufgeladen. Sie entwickelt eine einzigartige Lakonie, die eine Oberflächenspannung erzeugt, kurz vor dem Bersten. Die Gefahr, die in der Gegenwart liegt, wird damit weder heraufbeschworen noch gemindert, sondern erkannt und im Erkennen reflektiert. Das unterstreicht die Autorin: »Wir misstrauen den Idyllen. Wir sprechen ›über‹, aber nicht ›mit‹. Einsam und techniktreu verleugnen wir uns, schaffen uns ab.«
Peggy Neidel öffnet in ihren Gedichten die Gegenwart neu, als Kampfzone, als kalten und menschenfeindlichen Ort. Doch gerade in der Darstellung dieser Illusionslosigkeit bewahrt oder entwickelt sich eine Möglichkeit, vielleicht eine Utopie, die über die weißen und nivellierten Flächen hinausweist.
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Reihe Neue Lyrik – Band 5 Kulturstiftung des Freistaates Sachsen . Herausgegeben von Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt und Ralph Lindner
poetenladen 2013
Gebundene Ausgabe 72 Seiten | Euro 16.80 978-3-940691-46-0