Unser Rechtsanwalt Hugo Caro

 

Er kam immer im letzten Augenblick, auch zum Termin, wie jemand, der noch in den sich fortbewegenden Zug springt. Wie oft gingen wir zur Verhandlung ins Kriminalgericht, den Rechtsanwalt Caro verteidigen zu hören. Unseren lieben, frohen Rechtsanwalt, der uns immer wieder durch seinen Frohsinn aufrichtete, abends im Café des Westens. Er gönnte sich dort Rast zwischen Künstlern, bis er von irgend einem Hilfesuchenden gefaßt, um Rat gefragt wurde. Für Jeden hatte unser Rechtsanwalt ein liebenswürdiges Verständnis. Er betrachtete das Café des Westens als den Garten unter den Straßen Berlins, darin man ausruhe, ohne den Zusammenhang mit der Übrigkeit zu verlieren, mit all den Menschen, deren Geschicke er führe. Er war der, welcher ohne zu erschaffen, die Kunst hoch und liebend achtete; vielleicht erlangte er doch selbst das Glücksgefühl des Schaffenden in der Ausführung seines verantwortlichen Amtes: dem frischen Aufbau seiner Verteidigungsreden, oft in Berliner Dialekt gehalten, sicher anzunehmen. Er war der Fritz Reuter unter den Juristen.

In seinem Hause fiel von dem Eintretenden die Fremdnis der großen Hauptstadtangst. Wie oft plauderten derRechtsanwalt, seine wunderschöne Frau und ich bis spät in die Mondnacht vertraulich dreieinander … Der Krieg brach aus, Rechtsanwalt Caro meldete sich freiwillig; er liebte Berlin, es war seine Wiege, seine Primanerliebe, sein Berlin trug seine rote Studentenmütze. Er war eben der fahrende Schüler geblieben, sang seine Maienlieder, wenn er nach anstrengender Arbeit zwischen uns ausruhte: »Und laßt uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai«. Unser Rechtsanwalt war immer guter Laune, auch als er eines Abends in Uniform schwer ermattet vom Marsche unter uns Freunde trat; wir erkannten ihn nicht, seine straffen Haare waren abrasiert, vor seinen Augen trug er eine mächtige Hornbrille. Die jungen Soldaten seiner Kompagnie nannten ihn: Vater Justizrat. Weil er so gütig zu ihnen sprach, sie ermutigte. In seiner kleinen Bureauwohnung in der Nürnberger-Straße pflegte der Rechtsanwalt, bevor er in Herrgottsfrühe nach Döberitz zum Dienst eilte, sich seinen Tee zu brauen; Müdigkeit übermannte ihn, ein kleiner, listiger Zugwind löschte die Flamme unter dem brodelnden Wasser, und unser lebensfroher Rechtsanwalt erstickte.

 

 

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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.