S. Lublinski ist von Geburt Ostpreuße. Er hat mir oft von seiner Heimat erzählt: dort sind noch die Wälder so finster und verwachsen wie kleine Urwälder. Zwischen knolligen Wurzeln und Stämmen ist sein Nest; knollig ist auch er an Leib und Seele, ein Knollengewächs, aus dem jäh eine leuchtende Blüte aufsteigt. Zusammengekauert in seinem Korbstuhl sitzt er, wie in einem großen Pflanzenkübel, und grübelt, ob er den Entschluß, den er zunächst erst in einiger Perspektive wohlwollend betrachtet, wirklich fassen soll oder nicht … Wir beide haben manchen Abend bei schweigender Dunkelheit zusammen auf der Veranda des Kaffeehauses gesessen. Die Gäste sehen nach der Richtung unseres Tisches und lachen über das Holpern seiner Stimme; jedoch die Kellner, vom allerdicksten bis zum blaßwangigen Groom, haben sich schon an die eigentümliche, stoßende Hornsprache S. Lublinskis gewöhnt; sie harren aufmerksam seinem Wink und entreißen raubtierartig den lesenden Gästen Journale und Zeitschriften, die er verlangt. S. Lublinski schiebt seine Brille vorsichtig höher auf den Nasenrücken – der kleine Literat und der phlegmatische Baccalaureus-Referendarius nähern sich unserm Tisch. Mit außergewöhnlicher, liebenswürdiger Handgebärde fordert er die beiden jugendlichen Opfer auf, sich an unsrer Seite niederzulassen. Ich weiß: S. Lublinski ist in Kampfstimmung, er hat tagsüber Aufsätze schreiben müssen, und ihn ärgert die Erde mit den vielen Tintenfässern; und ohne jede Veranlassung, oder auf eine geringfügige Bemerkung hin, überfällt er den Nachbar – sein Herz jedoch schlägt Kobolz dazu. Mich interessiert die Strategie seines Angriffs – der arme Gegner, der an den Zorn seiner rollenden Augen glaubt und ihn gutmütig besänftigen will. Ihn reizt der bequeme Widerstand. Worte werden Kugeln, Bomben explodieren, der Kampf wird ernst. S. Lublinski schlägt mit der Faust dröhnend auf den Tisch; seine Augen bluten … Gold hat sein Vater in der Jugend aus Kanadas Gefilden gegraben … und die Lust nach Abenteuern hat sich in S. Lublinski vergeistigt. Aber der Freund kennt ihn auch im Zelt; er hat seine träumende Stirn gesehen mit dem poetischen Schneehauch. So gerne jauchzen möchte S. Lublinski! – Selten sehnte sich ein zweiter tiefer nach dem bübischen Lenztag, hinter dem Horizont auf der blauen Wiese nach dem fröhlichen Ringelrangelspiel, wie er. Aber der große Ungeschickte fürchtet, zu stolpern; und es ist ihm nichts beschämender, als lächerlich zu wirken – er würde eher mit einem Gänsekiel Verse schreiben. Unschönheit ist S. Lublinskis Kinderkrankheit … Wie auf gerosteten Geleisen bewegt er sich vorwärts; seine Arme schleudern beim geringsten Außertaktkommen. So ist auch der Rhythmus seiner Seele, seiner Novellen und Dramen. Ich würde jede andre Fassung für unecht betrachten … Aber da steht kein Tor, daran er nicht rüttelt. »Ich habe Prinzessin mein neues Buch: ›Gescheitert‹ mitgebracht« … S. Lublinski beobachtet mich mißtrauisch unter seiner Brille – er weiß, mich interessieren eigentlich nur meine eigenen Dichtungen; aber ich bitte ihn auf seine stumme Voraussetzung, mir selbst eine Novelle seines Buches vorzulesen. Er liest die Geschichte des gehänselten Knaben – er öffnet seine Seele. Schwerer als jedes Kind, dessen Eigenart sich abhebt vom Durchschnitt, hat er gelitten – aber aus der dumpfen, beklemmenden Nacht seiner Leiden recken sich eiserne, kleine Fäuste, grauenhaft verzerrte Fratzen, aus denen klagende Kinderaugen blicken. Endlich von seinen peinigenden Altersgenossen befreit, den folgenden Schultag vergessend, führt er Kriegsspiele auf, allein, hinter den Hecken seines Gartens. In Reih und Glied tausend gehorchende Soldaten –: »Vorwärts marsch!« Und er an ihrer Spitze, als Befehlshaber, als Feldherr! Aus kleinen Steinen besteht in Wirklichkeit das tapfere Heer …
Wieder angelehnt im Sofapolster, das Buch zugeklappt auf dem Tisch, beginnt S. Lublinski, in zynischster Weise seine Nachteulenähnlichkeit zu verspotten. Selten sehnte sich ein Zweiter schmerzlicher und unerfüllter nach Liebe wie der da … Hannibal (eines seiner wuchtigen Dramen), der schwermütige, schwerwütige Krieger, der erwachsene Feldherr seiner Spiele hinter den Hecken seines Gartens. Peter Hille sagte einmal: »Den Hannibal hat er aus gerostetem Eisen geschmiedet.« Aber nicht minder hart ist der zweite Akt seines Königinnendramas: Elisabeth und Essex. Ich habe oft S. Lublinski durch die durchsichtigen, großblumigen Gardinen seiner Fenster dichten sehen und hören. Die Kissen fliegen von den Sesseln, die Beine der Stühle und Tische knaxen, und ein Ertappter sitzt er nun wieder vor seinem Schreibtisch, die reine Stirn in die Hand gestützt. Leise fällt vom Himmel ein feiner Regen – gesponnenes Weinen –, mir ist, als ob auch seine Seele weine … S. Lublinski aber gibt sich nicht lange weichen Stimmungen hin – er rafft sich auf: »Frau Thormann, ich will noch fortjehen, ich habe ein wenig Kopfdruck.« »Aber Herr Lublinski, bei dem Regen?« … »Da ist mir nicht bange; aber ich fürchte, der letzte Akt des Zaren ist mir was in die Breite jejangen« … Frau Thormann, seine hübsche, muntere Wirtin, hat mir mal ganz vertraulich gesagt: »Mucken haben sie ja alle; aber er sieht immer wieder sein Unrecht ein, das muß man ihm lassen.« Und sie würde mich wahrscheinlich für eine Verleumderin halten, wenn ich ihr erzählen würde, daß ihr großer Pflegling gestern auf dem Rücken der Sphinx, am Eingang des Cafés, gesessen hat und den Vorübergehenden, im jubelnden und schwärzesten Pathos, den Schiller deklamierte: »Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen!« Aber in der Frühe brachte mir die Post einen Brief von ihm: die gotischen, getürmten Buchstaben seiner Schrift drohten über meine erschreckten Augen zu fallen: »Prinzessin, ich habe von meinem Freund, nachdem wir uns von Ihnen gestern abend verabschiedet hatten, erfahren, daß Sie noch immer mit dem Schwätzer nachmittags im Café sitzen – ich fordere Sie zum wiederholten Male auf, den Verkehr abzubrechen, andernfalls ich meine Freundschaft zurückziehen werde. Außerdem weiß ich, daß mein Freund unter Ihrer neuen Akquisition leidet. S. Lublinski.« Noch am selben Tag begegneten wir uns. S. Lublinski will an mir in zierlichem Bogen vorbei schlürfen – wir lachen – ich bemühe mich, ihm die Schweigsamkeit des Kaukasiers zu beweisen: »Ich rieche zu gerne Steppe, Herr Lublinski; aber Sie wissen doch, nichtsdestoweniger liebe ich Ihren Freund, den prinzlichen Tondichter; – und bringen Sie ihm meine tiefblonde Verehrung.« – S. Lublinski: »Scheusal!!« –
Alle Passanten haben es gehört – bis nach Hause haben mich die Straßenjungen begleitet. S. Lublinski muß sterben! … Ich trage meinen siebenläufigen, ungeladenen Revolver unter dem Mantel versteckt, und der Mond am Himmel ist wie eine brennende Kanonenkugel. Die Mamsell hinter dem Büffet ruft, als sie mich erblickt, Moloch, den Oberkellner, den unersättlichen Götzen (seine Augen sind blanke Taler). »Wo ist S., der Lublinski?!« »Herr Doktor sind soeben fortgegangen, haben aber für Sie einen Brief hinterlassen.« Und seine Aussage noch bestätigend, weist er auf den Tisch hin, an dem Herr Doktor zu sitzen pflegt: etliche Zündhölzer schwimmen, zerbrochen im Wasserbad auf dem Silbertablett … Sehr geehrte Frau, ich gebe zu, daß ich mich in der Erregung heute morgen im Ausdruck hinreißen ließ, und ich sehe es gern ein und bitte Sie um Entschuldigung; jedoch die Tatsache selbst bleibt trotzdem unverändert bestehen. S. Lublinski.
Zwei Jahre sind’s nun her, als ich vor dem Riesenfenster des Kaffeehauses saß und S. Lublinski in großen, feierlichen Buchstaben antwortete:
»Sire, ich erkläre hiermit unsere freundschaftlichen sowie diplomatischen Beziehungen für aufgehoben« …
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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.