Von Sappho zu Sophie

 

Nicht nur Gott, auch die Lyrik ist oft für tot erklärt worden. Von der Sporaden-Insel Lesbos, dem kulturellen Zentrum des 7. vorchristlichen Jahrhunderts bishin in die pannonische Landschaft des 21. Jahrhunderts hat die Lyrik diverse Überformungen erhalten.

 Wortkonzentrate

Wenn man sich den Ursprung der Lyrik ansieht, so kommt der Begriff selbst von „Lyra“, Leier, sprich, Lyrik war auch Wort in Verbindung mit Klang und Rhythmus. Das bedeutet, in gewissem Sinne ist die Wurzel der Poesie ja schon „interdisziplinär“, wenn man so will. Ich denke aber, dass doch eine Tendenz besteht, mehr und mehr auch andere Medien wie Videokunst und Live-Elektronik einzubeziehen.

Sophie Reyer

Photo: Konstantin Reyer

Wie präzise Sophie Reyer mit der Sprache zu arbeiten vermag, blitzte bereits in binnen auf. Ihre Lyrik ist intelligent und spielerisch. Die Bezeichnung miniaturen erscheint mir mehr als zutreffend, diese Eingeneinschätzung trifft sich sehr gut mit dem, was wir in diesem Online-Magazin redaktionell ausloten. KUNO hat ein ausgesprochenes Faible für diese Art des Textens. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder.

Technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der Aphorismus, sind literarische Kurzformen, wie beispielsweis der Haiku, in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Bestand die Modernität der lakonischen Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Reyers Miniaturen ist Twitteratur im besten Sinne.

Sie spricht mittels fragiler lyrischer Partituren das „Gewicht der Welt“ in all seinen Erscheinungsformen (Gesellschaftskritik, Alltag, Geschichte, Innerseelisches, Körperhaftigkeit, Schreiben, Reisen) an, um sich nachdrücklich (eine Nachdrücklichkeit, die aus einer Zartheit im Umgang mit den Dingen heraus entsteht) zu positionieren.

Petra Ganglbauer

Und wenn man es so liest, ist Sophie Reyer eine Vorschreiberin der Kunstform der Twitteratur. In binnen reichen ihre poetische Gedankenfragmente meist nicht über mehr als zwei Zeilen hinaus. Andere Wortfelder sind dagegen länger, sie erstrecken sich über sieben, acht, oder neun Zeilen und werden im Querformat über die ganze Seitenbreite gezogen. Was diese lyrischen Miniaturen gemein haben, ist eine extreme Verknappung, Dichtung im eigentlichen Sinn. Damit schafft Reyer Bilder, klare, scharfe Eindrücke. binnen ist gegliedert in die Zyklen, Reise (außen), Trip (innen) und Netz (spinnen) drei zeitgenössischen österreichischen Autorinnen widmet: Margret Kreidl, Olga Flor, Petra Ganglbauer. Die drei Kapitel arbeiten mit einer Reduktion auf die Themenfelder Schreiben, Schauen, Stadt, Armut, Schmerz, Kindheit und den Wortserien Blick, Schlaf, Schreiben, Sommer, Erinnern, Fahrtwind. Das Bildnerische und das Musikalische kann man zu Reyers Haupt-Motivquellen zählen. Es finden sich literarische Skizzen von Stadttopographien und persönliche poetische Erfahrungen. Mit diesen MiniaturenTexten werden Bilder erzeugt, welche Räume öffnen. Ein Bedürfnis verknüpft den Zyklus, der Wunsch zu betrachten. Die Symbolik des Schauens und teilnehmenden Beobachtens zieht sich daher durch den ganzen Band. Diese Gedichte gewähren überraschende, aufwühlende, befreiende Blicke auf das Dasein.

Konzentration auf das Wesentliche

In drei Zyklen versuche ich, mich aus der Vogelperspektive an den Planeten Erde und seine Bewohner anzunäheren. Aus wenigen Wörtern entsteht ein atmosphärisch dichter Mikrokosmos, der sich nach und nach zu einem Makrokosmos auswuchert, sowohl formal als auch inhaltlich.

Sophie Reyer

Mit dem nachfolgenden Band flug (spuren) setzt die Lyrikerin Sophie Reyer fragile und doch kraftvolle, sinnlich konkrete Miniaturen vor und vertraut auch hier auf die Überzeugungskraft leiser Töne. Auch in diesem Band findet sich eine formale Vierteilung. Sie beginnt mit miniaturen (froschperspektive), setzt sich fort in kleinzeiler (parallelprojektionen), unter denen sich die größte Anzahl von Lyrismen findet und schwingt sich schließlich auf zu stream  (vogelperspektive), dem abschließend in einem epilog: froschperspektive sind sieben ganz kurze Gedichte nachgeordnet, die man als eine Art geläuterte Rückkehr zum Ausgangspunkt verstehen kann. Diese Lyrik führt oft Geistergespräche, sie erhört die Stimmen der Vergangenheit, lauscht dem Kommenden seine Geheimnisse ab und gibt dem Hier und Jetzt eine Gestalt.

Reyer ist ein Wortspielerin, eine Fährtenlegerin, eine Wörter– und Kleinigkeiten–Sammlerin. Es gelingen ihr Momentaufnahmen einer beschädigten Welt und zarte Skizzen der Hinfälligkeit. Ihre Gedichte sind nie schwer und schwarz, sondern bei allen Melancholien immer licht und transparent. Es ist ein postminimaler Sound mit Gespür für Tiefe und Eleganz, eine Leichtigkeit, mit der Reyer Dinge zu verknüpfen versteht, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören, das Jonglieren mit verschiedenen Partikeln, die, einmal in die Luft geworfen, ein paar unerwartete Drehungen vollführen, bevor sie an unvorhergesehener Stelle wieder aufgefangen werden. Man muß als Leser ständig mit dem Unerwarteten rechnen. Als ausgebildete Musikerin weiß die Lyrikerin genau wo ein Kontrapunkt zu setzen ist oder wo sie hinter dem Beat bleiben kann. Aus wenigen Wörtern entsteht in diesem Band ein atmosphärisch dichter Mikrokosmos, der gänzlich frei von den üblichen lyrischen Klischees vielerlei poetische Verblüffungen birgt. Eine Verunsicherung im heilsamsten Sinn.

Onomapoetisches Zirpen

In „die gezirpte zeit“  thematisiere ich bewusst Verletztheit und Unbehaustes. Erinnerungssplitter und atmosphärische Momente sollen einer unsentimentalen Sicht auf die Welt und ihre Bedingungen gegenüber gestellt werden, ohne sie gegeneinander auszuspielen.

Sophie Reyer

Aus meiner Leseerfahrung vollzieht sich mit diesem Band ein Zirkelschluß mit der die Autorin ihr lyrisches Frühwerk abschließt. Mit die gezirpte Zeit stellt sich Sophie Reyer in eine Tradition, bei der Zikaden eine bedeutende Rolle spielen. Es gibt wohl kaum anderes Geräusch, das so unmittelbar das Bild mediterraner Glücksseligkeit und Entrücktheit hervorruft und sofort an Ausstieg aus Zwängen und das Sich–Verlieren in lauen Sommernächten denken läßt, als das Zirpen der Zikaden. Meist wird auf die Zikaden als Sänger oder als Sinnbilder für Musik und Kunst aber auch als Lärmverursacher. Die sogenannten Singzikaden und ihre Gesänge werden bereits in den frühesten schriftlichen Werken, der Ilias von Homer erwähnt, sie holt somit das Strandgut der Sporaden-Insel an das Ufer des Neusiedler Sees, ein gelungener Fischzug. Die Aspekte der griechischen Zikaden-Mythologie sind in dem Gedicht An die Zikade von Anakreon verarbeitet. Der melodische Rhythmus von Reyers Gezwitscher spannt sich von den russischen Konstruktivisten um Majakowski zur Wiener Schule bis zum Hip-Hop von Die Antwoord.

Dem Gesang der Zikaden aber kann sich auf jenem Eiland keiner entziehen.

Ingeborg Bachmann

Bei einem Titel wie die gezirpte Zeit liegt eine onomatopoetischer Assoziation nahe, besonders in diesen Tagen, da ein neuer Zikadensommer anbricht. Analog zu ihrer Arbeit auf der Bühne versucht Reyer die Sprache nicht in abbildender beziehungsweise inhaltlich-bezeichnender Funktion, sondern auch als Lautmaterial anzuwenden. Bei allen Vorgängern bedient sich Reyer mit der Ungeniertheit des Naturtalents und macht daraus etwas ganz eigenes. Sie experimentiert quasi mit ihren eigenen Erfahrungen. Im Prozess des Ausformulierens kann sich Reyer schon mal verlieren, daher holt sie sich für ihre Live-Auftritte auch Gäste hinzu. Wie in der Lautpoesie, die gleichzeitig die Töne aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, macht sie in ihren Gedichten Techniken aus, die nach dem Prinzip des Collagierens und der Simultaneität verfahren. Ihre Lyrik nähert sich in dem Maße, in dem Semantik verschwindet und der Klang in den Vordergrund tritt, der Musik an.

Zu der Tulpe Füßen spielte/ der tonkundigen Zikaden/ auserwählte Kapelle/ Stücke von den besten Meistern…

Karl Leberecht

Jede Dichtung spricht über die Situation ihrer Herkunft. Natürlich vernetzt sich Sophie Reyer mit Ingeborg Bachmann (Die gestundete Zeit) und beispielsweise Paul Celan (Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun) oder Rainer Maria Rilke (Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt in euch?). Und selbstverständlich ist die Gutenberg-Galaxis ein Referenzuniversum, das Schreiben wird durch das schreibende Analysieren gebrochen. Wie jeder Lyriker erschafft Reyer eine ganz eigene Wahrnehmung, eine Beobachtung, die sich sowohl aus dem kollektiven wie auch individuellen Bewußtsein speist. Die Generation um Sophie Reyer setzt auf die Intelligenz der Menge, auf die Selbstorganisation des Schwarms, auf die Macht derer, die sich selbst erkannt und aus freien Stücken miteinander verbunden haben. Es geht ihnen nicht mehr darum, dass die Einzelnen in einem grossen Ganzen vereinheitlicht werden und ihre eigenen Ideen, Geistesblitze und ihre Kreativität einem fertigen Weltbild unterordnen. Diese Generation kann viele werden und dabei Einzelne bleiben, die mit all ihrer Eigenständigkeit, Verrücktheit und mit ihrem individuellen Eigensinn dazu beitragen, die Idee einer Poesie immer wieder neu entstehen zu lassen. Reyer bricht die Idee vom objektiven Ich und vom subjektiven Ich auf und thematisiert in ihrer Poesie Verletztheit, es ist eine wohltuend unsentimentale Sichtweise auf die Welt und ihre Mechanik. Auch die Mechanik der Liebe. Sie mißtraut dabei jedoch den Heilversprechungen ebenso, wie den Momenten des aufrichtigen Glücks. Gelegentlich öffnen die Gedichte den Vorstellungshorizont geradezu unmerklich und doch unabweisbar aus dem Intimen ins Historische. Reyer hat einen charmanten Spleen, ein Gefühl für schräge Situationen und einbrechende Absurditäten. Mit ihrer Wahrnehmungslyrik werden die existentiellen Abgründe durch ein absurdes Element geradezu abgemildert und dem Intellekt erträglich gemacht. In diesem Kontext wirken ihre Liebesgedichte fragil, berührend, beinahe tröstlich. die gezirpte Zeit ist eine feinziselierte Sprachpartitur mit überraschenden Überlappungen und Überlagerungen. Dieser Band bietet eine weitere Facette einer Schriftstellerin, die noch lange nicht an die Grenzen ihres Talents gestoßen ist.

Literarische Splitscreen–Technik

Das Prosaprojekt versucht, ausgehend vom Körper und den in ihm gespeicherten Daten, über Generations- und Geschlechtsdifferenzen der beiden Proponenten hinweg an dieses ‚utopische ZWISCHEN‘ zu kommen und dort eine mögliche neue Form von Sprache zu finden.

Sophie Reyer

In ihrer Prosa betätigt sich Reyer quasi als DJ. Vertrocknete Vögel und mehr noch Baby Blue Eyes ist quasi Technopoesie auf mindestens 150 beats per Minute. Seit Thomas Bernhard hat wohl niemand mehr Prosa derart auf die Überholspur gebracht, wie diese Autorin. Reyers Prosa ist atemlos und taucht gleichwohl tief in die Eingeweide, um sich zum Sprechen zu bringen. Laut Judith Butler ist der Stuhlgang eine Grenzübertretung vom Innen ins Außen, also vom Subjekt zu den Anderen. Narben und Verletzungen markieren den Erfahrungsstand eines Leidens, das sich im Schmerz vergegenwärtigt, was Sprache sein kann: Ein Unterschied, der formt, was ansonsten verschwindet; eine Narbe die blüht. Eine Form, das zu überleben, was sprachlos zu machen versteht. Inhaltlich geht es um eine Reise nach Griechenland, an den Strand. Eine junge Frau, dorthin mit Freunden gereist, bricht zusammen. Drei Stimmen sprechen parallel von diesem Zusammenbruch. Eine führt Tagebuch mit immer gleichen Datumseinträgen, eine zweite versucht den Ereignissen erzählend zu folgen über die Zeit, die letzte verdichtet vielleicht einen inneren Monolog der Protagonistin. Drei Stimmen, die nicht präzise gegeneinander abgeschlossen sind, sich an den Rändern vermischen, wie auch die junge Frau im Text sich vermischt, manche Grenzen überschreitet und andere an sich nicht überwindet. Ihre Gestimmtheit ist ein Mischmasch aus Ennui und Euphorie, aus Lakonie und abrupter Verquatschheit. Die Frau wird zum Körper des Textes, der sie durchfließt und durchdringt, um sich von innen nach außen zu schreiben.

Cuntzilla vs the Cockocracy

Lydia Lunch

Sophie Reyers Beobachtungen des gesellschaftlichen Lebens sind scharf, ihre Dialoge haben, mit all ihren Auslassungen, Andeutungen, fragmentierten Sätzen, einen authentischen, auch einen popmodernen Ton. Ihre frühe Prosa zieht den Leser auf einen Grund, an dem wir nach Luft schnappen, die unter der Oberfläche knapp werden wird. Sowohl Vertrocknete Vögel als auch Baby Blue Eyes umkreisen, mit unterschiedlichsten Versuchsbedingungen einen Zustand, den man als Unbehaustheit im eigenen Körper bezeichnen kann. Beide Bücher legen nahe, daß solche Unbehaustheit gerade in den sogenanntenm ’sozialen Netzen‘ gepflegt wird, den sogenanten „Freunden“. Die Grenzen zwischen den Identitäten verschwimmen im Netz und auch in dieser Prosa. Alle Stimmen fallen auf ein Ich zurück, welches wiederum ein role-model ist. Dieses Ich ist weiblich und reflektiert seine Weiblichkeit auf Schritt und Tritt. Und dieses Ich ist dreckig dran. Bis zum Schluss. So hätten die Feuchtgebiete ausgesehen, wenn die Autorin hätte schreiben können. Es ist wie in der Popmusik, die AdeptInnen sind bei jeder neuen Welle als No. 2 zur Stelle. Keine kommt hier lebend raus.

Aus dem Jenseits der Erzählung

Was an dem Thema so spannend ist, ist die Tatsache, dass wir von den Frauen dieser Gesellschaftsschicht zwischen 1500 und 1800 nichts wissen würden, gäbe es nicht diese „Täterinnen“. Die Geschichtsschreibung war ja eine, die von Adeligen betrieben wurde und sich demnach nur um Adelige drehte. Das „gemeine“ Volk kam nur vor, wenn etwas nicht funktioniert hat. Nämlich dann, wenn zum Beispiel Verbrechen begangen wurden. Diese Gerichtsakten sind das Einzige, was von den Mägden, den Dienstbotenmädchen geblieben ist. Unterschrieben wurden sie – da diese Frauen alle Analphabetinnen waren – mit einem X. Diesen Menschen im Nachhinein eine Stimme zu geben, war mir wichtig.

Sophie Reyer

Die Schriftstellerin Sophie Reyer, die sowohl Gedichte, Dramatisches, als auch Prosa schreibt, widerlegt eindrucksvoll das Vorurteil, eine derartige Konstellation sei nicht möglich. Ohne die Lyrikerin wäre die Dramatikerin und die Prosaistin nicht denkbar. Ihr Projekt Marias besticht eine hybride, grenzüberschreitende Sprache, gekennzeichnet von der Suche nach Spuren der mit der eigenen Biografie verknüpften Kulturgeschichte. Mit diesem Schreiben nach Authentizität, will sie das falsche gesellschaftliche Selbst bloßlegen. Ihr ist die Idee des Zu-den-Vielen-Gehens durch Walter Benjamin zugewachsen, die Quellen sind vielfältig, die Archiv-Recherchen führten in ein Frauen-Dokumentationszentrum und in eine Haftanstalt. In ihrem Text breitet Reyer einen nicht enden wollenden Katalog von Kindsmörderinnen aus. Auf verschiedenen Erzählwegen und aus mehreren Perspektiven aus jener der betroffenen Frauen selbst, jener eines religiös konnotierten Über-Ichs sowie aus jener einer urteilenden und strafenden Gesellschaft durchmisst die Reyer Seelentopographien jenseits landläufiger Täter-Opfer-Zuschreibungen. Bei Marias ist nicht der Plot entscheidend, der Text ist aufgespalten in Rückblenden, Splitter aus Krankheitsgeschichten und Beobachtungen der Erzählerin. Entscheidend ist Reyers Sprache; eine Sprache, die über ungeheuer viele Vokabeln verfügt; die die Sphäre des Literarischen so genau kennt wie die des Naturwissenschaftlichen. Eine Sprache, die so konkret wie abstrakt sein kann; die Brücken schlägt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Unterbrochen wird der derart mehrstimmig angelegte, von Anfang bis zum Ende durchrhythmisierte Erzählfluss immer wieder durch lakonische Kommentare aus dem Blickwinkel eines zeitgenössisch-aufgeklärten, Bewusstseins, das die zitierten Quellen sowie Verwendungsweisen des Medea-Motivs in der Hohen Literatur oder im Sensationsjournalismus kritisch hinterfragt. Roland Barthes’ berückende Formel: „Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der Objektivität“, läßt heilsam so machen Anspruch hinfällig werden.

In Phoneme zerlegte Texte

Mittels tektonischer Bezugnahmen auf die kirchenmusikalische Gattung des Requiems entwickelt Reyer die Marias. Sie trennt die Ober- von der Unterwelt, diese gottverdammte Linie, trennt die Erzählung über die Lebenden von der über die Toten. Ihr Ziel scheint das Abschütteln von Erwartungen, das Finden einer ästhetischen Form unabhängig von gesellschaftlichen und religiösen Zuschreibungen. Wie in den Hörspielen hat sie die Kunst entwickelt, Charaktere und Beziehungen zu entformeln. Diese Figuren sind Mischwesen, deren Motive in ihrer Beschränkung auf den allgemeinen Verkehr verwiesen. Und bei den unterschiedlichen Vorlagen meint man einen Chor von Stimmen zu hören, das kollektive Unbewußte. Bei Reyer gibt es nicht die Guten und die Bösen, vielmehr geht es um eine neurotische Struktur der Gesellschaft, um Leute, die es schaffen, zur richtigen Zeit am falschen Ort zu sein, dieselben Fehler immer wieder zu machen, sich zu binden, wo man sich lösen müsste, und sich vor der Bindung zu drücken, wo sie die Lösung wäre.

Traumen, die sich über Generationen hinweg fortsetzen

Niemand kann diese Autorin lesen, ohne sich in sie zu verlieben. Sie hält nichts von Sentimentalität, aber viel von Engagement. Ihre Erzählung Die Erfahrung dreht sich um das Thema „Nachkriegsgeneration“ und der Art und Weise, wie sich Traumen über Generationen hinweg fortsetzen. Was sie beschäftigt, ist das menschliche Zusammenleben im Ganzen, und wie es sich die Menschen durch Herrschaftswillen und Ignoranz gegenseitig zur Hölle machen. In dieser Erzählung erweist sie sich als Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat. Reyer läßt den Ängsten schockierend freien Lauf, predigt dabei nie, vielmehr erforscht sie wie eine Ethnologin ihre Umgebung. Wenn man die entssprechende Verfilmung dazu anschaut, geht dem Betrachter auf: Reyer begreift  das Musikhören als kulturelle Lesetechnik und denkt in sonischen Bezügen. Diese Femme des lettres ist ungeheuer produktiv. Das Lesevergnügen stellt sich ein, wenn man an ein Stichwort anknüpfen kann. Ihr Denken und Sprechen bewegt sich in der Pop–Matrix. Ganz selbstverständlich bewegt sie sich in der Zeichensprache des Populären. Sie kann Dinge lesen, kann ihre Botschaften entziffern, interessiert sich für Geschlechterkonstruktionen und wie diese sich in der Szene, in Tanz– und Modestilen widerspiegeln oder gebrochen werden, als sexuelle Dissidenz, und klopft diese Zeichen auf ihren politischen Gehalt ab. Wenn Reyer nachdenkt, treibt sie die Selbstbefragung oft bis zur Selbstzerfleischung. Das macht Die Erfahrung nicht zu einer einfachen, aber lohnenden Lektüre.

Die fab4 der experimentellen Literatur

Ich habe immer gerne verschiedene Formen, Materialien und Medien ausprobiert. Wen ich damit erreichen kann, darüber habe ich in meiner Naivität nie nachgedacht. Ich war auch viel zu jung, als ich angefangen habe. Mich hat es da einfach hingezogen: Musik, Film, Text, und die Ränder dazwischen, die Überlappungen.

Sophie Reyer

Photo: Markus Jaroschka

Als multimedial arbeitende Autorin bewegt sich Sophie Reyer souverän zwischen den Genres. Mit dem Quartett Tonverbrechung sucht sie den Dialog sucht zwischen Wort und Ton, zwischen Poesie und Improvisation. In ihren Kompositionen und Bühnenarbeiten erweist sich Reyer Wahrnehmende und Wiedergebende, die sich interdisziplinär durch die Welt bewegt, zwischen Wort, Sound, Installation und Videoclip. Als Beispiel für ihre frühren Bühnenarbeiten sei hier die  Schneewittchenpsychose genannt, die Reyer gemeinsam mit der Performancegruppe „faimme“ erarbeitet hat (deren Name sich aus einer Zusammenziehung der französischen Worte für „Hunger“ und „Frau“ ergibt). Wie der Titel bereits erahnen läßt, bleibt sie in dieser Arbeit thematisch der Stoßrichtung ihrer Prosa treu. Auch Banana Boat (Drift Text) handelt von sprachlicher Interaktion. Es geht um Re-Reaktionen innerhalb eines Textes. Reyer verwendet, Feldmaterial, etwa Liedtexte und Schlagzeilen. Es geht ihr darum, wie sich Material im Dialog verwandelt und durch unterschiedliche Filter läuft.

Live-Loops in Sprache und Ton

Ich höre meine Texte immer innerlich, höre sie durch, trimme sie so, dass die einzelnen Worte lautlich wie auch rhythmisch zusammen passen. Aber man darf sich nicht zum Sklaven der Technik machen. Sonst werden die Texte zu „gerade“, zu „gebaut“, zu „konstruiert“.

Sophie Reyer

Die Combo Tonverbrechung beschäftigen sich gezielt mit der Auslotung des Grenzbereiches zwischen Sprache und Musik. Die Muiker versuchen in ihren Stücken ein harmonisches Miteinander dieser beiden Kunstformen zu erzeugen, die jeder ihre Freiheit lässt. Dafür sind besonders die Verfremdung der Sprache durch den Computer und entsprechende Musikprogramme entscheidend. Diese Musiker öffnen der Sprache den Weg zum Raum der reinen Klanglichkeit / Geräuschhaftigkeit und verschwistern sie so mit der Musik. Auf der anderen Seite nehmen die Musiker in ihren Improvisationen einen starken Bezug auf Reyers Texte und nähren sich so dem Raum der semantischen Bedeutungen an, lassen die Musik zu mehr als einer Reihe von affektgeladenen Klängen werden. Reyer setzt die musikalischen Eindrücke in vibrierende und zugleich körperhaft genaue Sprachbilder um. Die Musik entfaltet sich darin zur synästhetischen Erfahrung, wahrgenommen mit allen Sinnen. Die Lyrik und Prosa diese Autorin und Komponistin werden mit akustischen und elektronischen Klängen improvisatorisch vertont. Zudem werden die Texte dafür dem Moment entsprechend zusammengesetzt und kommentiert. Das Programm entwickelt sich gelegentlich auch in die Richtung eines trashigen Songs oder klangpoetisch kommentierten Märchens. Die Musiker von Tonverbrechung (Elisabeth Fügemann – Cello; Nicola Hein – Gitarre; Lukas Truniger – Elektronik) versuchen ein harmonisches Miteinander der Kunstformen zu erzeugen, die jeder Gattung ihre Freiheit läßt. Niemals bleibt Poesie in ihrer Reinform bestehen, immer wird sie verfremdet, erweitert, unterwandert. Der Sound ist Gegenstand eines Prozesses, Teil der Auseinandersetzung der einzelnen Artisten. Auf dieser Basis suchen die Musiker permanent nach Positionen zu der sie umgebenden Gesellschaft und präferieren das Grenzüberschreitende, das Unbehauste, Vermischung und Unreinheit: im Sound, in der Sprache, im Leben.

Es gibt kein Conclusio, Deutungsmöglichkeiten sind grundsätzlich vielseitig

Ich erlege mir selbst eine Form auf und versuche dann das, was herauskommt, aus dem Korsett seiner Form zu befreien. Das ist immer eine Gratwanderung. Es bleibt wahrscheinlich auch immer ein Versuch. Aber wenn man arbeitet und sich Zeit nimmt, werden die Versuche besser.

Sophie Reyer

Sophie Reyer ist eine schöpferisch Ver / rückte, sie kann gar nicht anders, als das, was ihr begegnet, zu verknüpfen und in ein Kunstganzes zu überführen, buch / stäblich alles: Menschen, Bücher, Töne, Mythen. Unbekümmert, mit einem feinen stilistischen Gespür mischt sie Genres, verbindet Analysen mit Impressionen, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Reyer schreibt Lyrik, Prosa, Drama, und nun auch Essays. Es ist ihre Konsequenz, die beeindruckt, ihre Zerrissenheit, die sie nicht versteckt, sie bleibt widerborstig und verwundbar, angriffslustig und anschmiegsam; diese Autorin hat keine Angst vor dem Leben. Der Preis ist Zerbrechlichkeit, Dünnhäutigkeit. Diese Poetin ist in ihrer abgeklärten Coolness und der gleichzeitigen Verletztlichkeit ein Versprechen auf etwas wirklich Neues in der deutschsprachigen Literatur.

 

 

***

Baby Blue Eyes von Sophie Reyer, Ritter Literatur, 2008

binnen von Sophie Reyer, Leykam Verlag, 2010.

flug (spuren) von Sophie Reyer, edition keiper, 2012

MARIAS von Sophie Reyer, Ritter Literatur, 2013

Die Erfahrung von Sophie Reyer, SuKuLTuR, 2013

die gezirpte Zeit, von Sophie Reyer Neue Lyrik aus Österreich Band 2., 64 Seiten, 12 x 19 cm, franz. Broschur. 1. Auflage 2013

Wortspielhalle, eine Sprechpartitur von Sophie Reyer & A.J. Weigoni, mit Inventionen von Peter Meilchen, Edition Das Labor, Mülheim 2014

Cover: Frühlingel von Peter Meilchen

Weiterführend → Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfiguration entdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. Ein weiterer Blick beleuchtet die Inventionen von Peter Meilchen. Ein Essay fasst dieses transmediale Projekt zusammen. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht Sophie Reyer der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können hier abgerufen werden. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.