Leben oder Schreiben

Warlam Schalamow hat fast 20 Jahre in Lagern verbracht und über seine Erfahrungen in „Erzählungen aus Kolyma“ berichtet.  Die Kolyma ist ein Fluß im Nordosten Sibiriens, der nach rund 2000 Kilometern ins Ostsibirische Meer mündet. Nach ihm ist auch eine riesige Region Rußlands benannt. Vor allem wegen ihrer Bodenschätze wurde sie in der Zeit des Stalinismus unter gewaltigem Einsatz von Zwangsarbeitern und Häftlingen industriell erschlossen: In weniger als einem Jahrzehnt wurde ab 1929 ein gigantischer Komplex von Bergwerken, Industrieanlagen und Konzentrationslagern errichtet, in dem Millionen Menschen extrem ausgebeutet wurden.

Der eindrucksvollste literarische Zeuge aus dieser Landschaft der Abweisung, der Kälte, der Sümpfe, aus dieser menschlichen Verlorenheit im Raum, aus der Kolonie der Verfehlungen, der Willkür, des Strafens um seiner selbst willen, aus dem grausig-praktischen Reich des Geheimdienstes ist Warlam Schalamow (1907-1982).

Seine in der deutschen Übersetzung von Gabriele Leupold vier Bände umfassenden „Erzählungen aus Kolyma“ gehören zu jener Weltliteratur, die sich den Lagern, dem Zerbrechen der Humanität, dem Regime des Bösen als anthropologischem Exerzitium widmet. Warlam Schalamow gehört in die nächste Nachbarschaft von Primo Levi, Jorge Semprún und Imre Kertész, deren Berichte aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz zu den Menschheitszeugnissen über den Terror gehören. In dieser Bibliothek erscheint Schalamows Werk als unerbittliches Dokument, das den Leser einem Praktikum an menschlichem Horror, Verlorenheit, Verrat am Menschentum aussetzt, ihn aber auch mit den Siegen des moralischen Überlebenswillens und dem Glück des rettenden Zufalls vertraut macht.
Mehr als vierzig Jahre und verschiedener Anläufe hat es bedurft, diesen Schriftsteller mit seinem Werk in Deutschland einzubürgern. Da mit den „Erzählungen aus Kolyma“ und autobiographischen Zeugnissen aus anderen Lebensperioden Schalamows Hauptwerk auf Deutsch weitgehend vorliegt, wird es Zeit, sich seinem persönlichen Umriß vor dem Panorama der geschichtlichen Wenden zu widmen, wie es nun die von Wilfried F. Schoeller und Christina Links realisierte Ausstellung unternimmt, für die zahlreiche russische Archive und Museen Leihgaben zur Verfügung gestellt haben.

Warlam Schalamow hat erkannt, daß Auschwitz mit dem Gulag zusammenzudenken ist. Nicht gleichzusetzen, vielmehr: dem Vergleich auszusetzen und die Perspektive zu benennen, unter der dies geschieht. Es gilt, was die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ 2007 an „Thesen über das Jahr 1937 und die Gegenwart“ veröffentlicht hat: „Gulag, Kolyma, 1937 – das sind ebensolche Symbole des 20. Jahrhunderts wie Auschwitz und Hiroshima. Sie gehen über die Grenzen des historischen Schicksals der UdSSR oder Rußlands hinaus und werden zu einem Zeugnis für die Brüchigkeit und Labilität der menschlichen Zivilisation, für die Relativität der Errungenschaften des Fortschritts, zu einer Warnung vor der Möglichkeit künftiger katastrophaler Rückfälle in die Barbarei.“


Für Leihgaben und Mitwirkung ist zu danken: insbesondere dem Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI), „Memorial“ Moskau, dem Staatlichen Literaturmuseum Moskau, dem GULAG-Museum Moskau, den GULAG-Gedenkstätten Perm 36 und Jagodnoje (Iwan Panikarow), dem Schalamow-Museum und dem Archiv Wologda; Tomasz Kizny, Andrej Krassulin, Nikolai Nassedkin sowie Anna Gawrilowa, Valeri Jessipow, Jan Machonin, Alexander Rigosik und Sergej Solowjow.

 

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Die Ausstellung dausert noch bis 8.12.2013 
dienstags bis freitags: 13 bis 19 Uhr 
samstags, sonntags und feiertags: 11 bis 19 Uhr geöffnet 
Eintritt frei


Das gleichnamige, von Wilfried F. Schoeller geschriebene Begleitbuch zur Ausstellung enthält Beiträge von Irina Scherbakowa (Memorial), Valeri Jessipow, Franziska Thun-Hohenstein u.a. sowie einige hier erstmals in Übersetzung veröffentlichte Texte Schalamows: 24,90 Euro, zahlreiche, z.T. farbige Abbildungen (Verlag Matthes & Seitz Berlin).