In diesem Jahr jährte sich die Machtergreifung durch die NSDAP in Deutschland zum 80. Mal, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler durch Hindenburg und die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch den Deutschen Reichstag. Ein Prozess strebte seiner Vollendung zu, der in der Pervertierung des Nationalstaatsgedankens im deutschen Kaiserreich schon angelegt war. Gleichzeitig stellt diese Vollendung aber auch einen Einschnitt dar, der demokratische Prozesse in Deutschland unterbrach und abbrach und die Deutsche Kultur durch Ermordung und Vertreibung großer Teile ihrer Protagonisten gewissermaßen auslöschte, zumindest aber auf Eis legte. Ich glaube, wir haben uns bis heute nicht davon erholt.
Das Buch „Pariser Romanze“ führt uns an einen entscheidenden Punkt der Europäischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Der Erzähler schreibt aus einem deutschen Feldlager im ersten Weltkrieg Briefe an einen französischen Freund, in denen er das/sein Paris vor dem Ersten Weltkrieg wieder aufleben lässt. Und das Buch erzählt die Beziehung zu Lotte, mit der der Protagonist die nähere Umgebung und die verschiedenen Treffpunkte der Pariser Boheme erkundet. Wir begleiten das Paar zu den Festen seiner Künstlerfreunde, Nachmittagstees und Drogenorgien. Aber auch auf Spaziergängen, auf denen sie die Angestellten der Pariser Modeläden bei ihrer Mittagspause beobachten. Wie später Walter Benjamin in seinem Passagenwerk begibt man sich auf Entdeckungsreise in die Hauptstadt des IXX. Jahrhunderts, die eine enorme Modernität ausstrahlt, und findet sich in einer Gemeinschaft von Entdeckungsreisenden aufgehoben. Zumindest so lange, bis der 1. Weltkrieg beginnt. Im Episodischen dieser Romanze spiegelt sich letztlich auch der episodische Charakter der politischen Situation vor Ausbruch dieses bis dahin größten Schlachtens, der ersten Auseinandersetzung, deren Vernichtungsorgien industriell geprägt waren.
Dabei geschieht in diesem Buch etwas ganz Außerordentliches. Mit der Erinnerung an das Vorkriegsparis lebt im Text ein auch sprachlicher Duktus wieder auf, der mich bei der Lektüre zunächst irritierte, den ich aber, je mehr ich mich darauf einließ, umso mehr genoss. Es ist eine Sprache, die letztlich mit der Zerstörung Europas ihr Ende fand und nur noch als Echo durch die Texte weht. Eine außerordentliche Erfahrung, die mir auf eine eindringliche Art und Weise klar macht, wie viele Formen von Vergangenheit es gibt und wie verflochten Sprache mit Politischem aber auch dem – nennen wir es – Tagesvisionären ist. Denn die Handelnden in diesem Text leben zunächst in einer Art utopischen Blase, die letztlich der politischen Entwicklung nicht gewachsen war.
Das zwanzigste Jahrhundert war ein kurzes. Im Grunde begann es erst 1914 mit dem ersten Weltkrieg und endete mit dem Zusammenbruch des Kommunistischen Systems zehn Jahre vor dem groß gefeierten Milleniumswechsel. Im Nachhinein könnte man es vielleicht als ein Jahrhundert der Größe und des Verfalls der Nationalstaaten und als das der industrialisietten Vernichtung sehen. Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus erreichten zumindest in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland ihren Höhepunkt.
Dass die Zerstörung sich letztlich auch gewissermaßen rückwirkend, also auf die Geschichte ausgewirkt hat, auf die Rezeption all dessen, was in der Zeit voran ging, bedeutet, dass auch die kulturelle Überlieferung im 20. Jahrhundert wenn nicht unterbrochen, so doch massiv gestört und abgelenkt war, und deshalb immer wieder Dokumente neu- oder wiederentdeckt werden. Das liegt zum einen an der enormen Zerstörungskraft, die der Faschismus entfaltete, aber auch an den Versuchen in den Staaten nach 1945 eine eigene reine Überlieferung und Tradition zu begründen.
Dabei gewannen zwei dominierende Prinzipien die Oberhand, in Ostdeutschland der sozialistische Realismus, der die Weltgeschichte und mit ihr die Literatur als Vorlauf einer finalen proletarischen Revolution sah und alles an dieser bemaß und in ein totalitäres Fortschrittskonzept presste, und otherwise die von der Gruppe 47 dominierte sogenannte Suhrkampkultur, in der sich die Deutschen Intellektuellen letztlich zu Opfern umdeuteten, die sich aber die Kraft erhalten hatten, sich am eigenen Schopfe aus dem Schlamm zu ziehen, und ihr Pferd gleich mit.
Der vorliegende Text ist in der Bibliothek Suhrkamp in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts schon einmal erschienen. Das zeigt, dass es eine gewisse Beharrlichkeit braucht, derartiges wieder im gesellschaftlichen Gedächtnis zu verankern.
Diese ganze Rede ist nötig, weil sie darauf hinweist, welch wichtige Arbeit der Lilienfeld Verlag heute leistet, in dem er vergessene oder fast vergessene Texte, die aber im Grunde zentral sind für das Verständnis unserer Literatur und Geschichte, wieder zugänglich macht, und auch noch in dieser ansprechenden Form (im vorliegenden Fall grünes Halbleinen, der Einband ist unter Verwendung einer Arbeit von Simone Lukas gestaltet).
Besondere Verdienste erwirbt der Verlag sich unter anderem eben bei der Pflege des Werkes Franz Hessels. An anderer Stelle habe ich bereits über seinen Roman Der Kramladen des Glücks geschrieben. Wie zu diesem steuert Martin Flügge auch zur Pariser Romanze ein schönes und kenntnisreiches Nachwort bei. Und ja; im Grunde handelt es sich bei Pariser Romanze um einen vollkommen entgegengesetzten Weltentwurf zu dem, den Ernst Jünger in „In Stahlgewittern“ präsentiert. Und es ist kein Wunder, dass Jünger in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Feuilletons wesentlich präsenter war als Hessel.
Für Hessel ist der Krieg das Ende einer Gemeinschaft von Menschen und für Jünger der Beginn einer Gemeinschaft von Helden. Franz Hessel, der jüdische Autor, starb auf der Flucht vor den Nazis in einem Internierungslager, während Jünger als Offizier der Besatzungstruppen sein Pariser Tagebuch verfasste. Und bei Hessel erfahren wir viel darüber, was uns in den „Stahlgewittern“ verloren ging.
Hessel lässt eine Vorkriegsutopie der Pariser Boheme erstehen. Ihre Protagonisten kamen aus den verschiedensten europäischen Ländern (Norwegen, Deutschland, Spanien usw.) und führten in Paris ein Leben, in denen diese Herkünfte im Grunde nur als kultureller Humus eine Rolle spielten. Keiner der Künstler beharrte auf einem besonderen Privileg, das er aus einer nationalen Herkunft ableitete. Mit dem Beginn des ersten Weltkriegs aber meldeten die Herkunftsnationen Anspruch auf das Menschenmaterial an, um die Freunde kurze Zeit später aufeinander zu hetzen. Und auch wenn Hessel eine Zeit beschreibt, die den blutigen Nationalismen vorangeht, weist seine Schilderung doch weit über diese hinaus.
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Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen von Franz Hessel. Mit einem Nachwort von Martin Flügge, Lilienfeld Verlag Düsseldorf 2012