Auch die Zukunft hat eine Herkunft

In den so genannten Reclam-Heften erscheinen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Klassikerausgaben, die durch ihren geringen Preis und ihre einheitliche Gestaltung auffallen. Sie ist die älteste deutschsprachige Taschenbuchreihe, und ihr liegt das Bestreben zu Grunde, einen einmal gedruckten Titel nach Möglichkeit lieferbar zu halten.

(Quelle: Wikipedia)

Sieht aus, wie Reclam, ganz anderer Inhalt. Was die Betreiber von SuKuLTur anfertigen erinnert mich spontan an den hervorragend edierten Band, den die beiden KRASH-Protagonisten Enno Stahl und Dietmar Pokoyski herausgegeben haben, die umfangreiche Festschrift „100 Jahre KRASH-Verlag“ zum Verlagsjubiläum.

Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Karl Riha von der Universität Siegen schreibt dazu in seinem Vorwort “Let’s krash” u.a.: “Hervorzuheben im Programm sind die Publikationsreihen und Zeitschriften mit sprechenden Titeln wie GOSSENHEFT, ZEILENSPRUNG und FLYER. Im übrigen reicht der Spannbogen der hier zur Lektüre offerierten Produktionen vom programmatischen ESSAY – sprich KRASH (CRASH) PROGRAMME – über diverse INNOVATIONSFORMEN von PROSA und LYRIK (etwa das EINBUCHSTABENGEDICHT, wie es mit seinem i-GEDICHT bereits Kurt Schwitters initiiert hat) bis hin zu allerlei PERFORMANCE und weiter zur Bildergalerie des COMIC StrIP und der VISUELLEN POESIE, eingeschlossen die neue Komunikationsform der MAIL ART. Mit ihr schließt die durch den hier präsentierten KRASH-(CRASH-)Almanach ausgeschilderte Kunst- und Literaturszene an markante internationale Tendenzen an, die Verbindungen nicht nur quer durch unsere Republik (von Berlin über Köln nach Weimar), sondern in alle Welt hinaus – von Japan über Rußland nach Amerika und Südamerika – herstellen. Der Name des Verlags hat alles Zeug zu einer zündenden Parole, in der die Herausforderungen einer aktuellen Programmatik der Künste kurzgeschlossen sind: LET’S KRASH.”

Perspektiven herausmodellieren

Die Betreiber von SuKuLTuR haben diese Tradition bewußt oder unbewußt weitergeführt. Im Dezember 2003 starteten sie ihr Projekt. Elf Berliner Vendingautomaten der Firma Quickland wurden mit jeweils fünf verschiedenen Ausgaben der SuKuLTuR-Leseheftreihe „Schöner Lesen“ ausgestattet. An diesen Automaten konnte man nun nicht nur Weingummi, Schokoriegel, Kaugummi, Marmorkuchen und sonstiges Naschwerk erwerben, sondern auch Literatur. Für einen Euro.

Wer hats erfunden?

Der Prototyp, ein ART-O-MAT von Haimo Hieronymus, Photo: Dieter Meth

Die Idee Kunst aus einem ART-O-MAT zu ziehen ist charmant. KUNO zitiert aus dem Artikel „Kunst aus dem Automaten“ aus dem Jahr 2007 von Achim Benke für die Westfalenpost:

Automaten ja, aber was ist ein Artomat? Der Neheimer Künstler Haimo Hieronymus hatte 1997 eine Idee, als neue Zigarettenautomaten aufgestellt wurden. Er fragte sich, was passiert mit den alten Geräten und wie kann man sie neu nutzen. …

… Er steckte kleine Kunstobjekte in bunte Schachteln und bestückte den Automaten. Für kleines Geld erwirbt man Kunst und hat ein Unikat.

Wie kamen Sie auf diese Idee?
Mir fiel 1997 auf, dass neue Zigarettenautomaten in der Stadt angebracht wurden. Da kam mir die Idee die “Alten” doch nutzen zu können, um kleine Kunstobjekte in Schachteln zu verkaufen. Außerdem ist Kunst in Schachteln gesünder als Zigaretten. Vielleicht hat man das große Glück gezogen, dass der Inhalt der Schachtel im Wert steigt – ganz im Gegensatz zur Zigarette.

Ist diese Idee irgendwie geschützt?
Von mir nicht. Meine Meinung ist, dass Ideen der Kunst allen offen stehen sollten. Nachahmung ist notwendig, um sie weiterzubringen. Sich alle Kunstideen registrieren und sichern zu lassen, finde ich nicht zielführend. Man muss Ideen spinnen, um sie weiter zu denken. Das können doch auch andere machen. Kunst hat immer Denkblockaden verhindert.

Was soll der Artomat bezwecken?
Künstler sollten die Möglichkeit erhalten, sich zu vermarkten. Vielleicht kann man dadurch einem Künstler ein kleines Einkommen verschaffen. Die Artomaten sollten an Orten (z.B. Bibliotheken, Museen) stehen, die etwas mit Kunst zu tun haben. Somit wird Kunst für jedermann zugänglich.“

Erreicht das Projekt wo es um die Wahrnehmung der Masse geht, nur Wenige – und die Falschen?

Im März 2004 konnten die Betreiber von SuKuLTuR den Vertrieb erheblich ausgeweiten, und mit der Berliner Firma Ackermann Automaten ein langfristiger Kooperationspartner gefunden werden.  Von 2003 bis 2006 vertrieb zudem die Firma Geile Warenautomaten GmbH die Lesehefte an Bahnhöfen in Nord- und Westdeutschland. Bislang wurden auf diese Weise bundesweit über 80.000 Lesehefte in Süßwarenautomaten verkauft [Stand: Oktober 2012 – Eigenauskunft der Herausgeber].

Im Sommer 2006 wurde in Zusammenarbeit mit dem Kunst:Raum Sylt-Quelle der erste reine Leseheft-Automat auf der Insel Sylt eingeweiht. 2007 wurde die Heftreihe „Schöner Lesen“ für den erstmals vergebenenen Innovationspreis „Vending-Star“ des Bundesverbandes der Deutschen Vending-Automatenwirtschaft e. V. (bdv) in der Kategorie „Produkte zur Abgabe aus bzw. zur Zubereitung in Automaten“ nominiert. 2011 wurde der SuKuLTuR Verlag mit dem V.O. Stomps-Förderpreis der Stadt Mainz für eine kleinverlegerische Leistung ausgezeichnet. Wie so oft in der Kunstgeschichte gehen Preise also nicht an die Erfinder, sondern eher an die Arrièregarde. Was die Leistung der Kollegen nicht schmälern soll, KUNO zieht den Hut vor dieser logistischen Leistung.

 Sie schob das abgegriffene Ultraschallbild von sich, nestelte an ihren eigenen Fingern herum, hilflos. Stille. Sie blickte unverwandt auf den Fötus, den das Bildchen zeigte, dann auf die kleinen Bläschen im Inneren der roten Vase.

Sophie Reyer

Da man in einen Artikel nicht auf alle bisher erschienenen 128 Ausgaben eingehen kann empfiehlt KUNO Die Erfahrung von Sophie Reyer. Niemand kann diese Autorin lesen, ohne sich in sie zu verlieben. Sie hält nichts von Sentimentalität, aber viel von Engagement. Ihre Erzählung Die Erfahrung dreht sich um das Thema „Nachkriegsgeneration“ und der Art und Weise, wie sich Traumen über Generationen hinweg fort setzen. Was sie beschäftigt, ist das menschliche Zusammenleben im Ganzen, und wie es sich die Menschen durch Herrschaftswillen und Ignoranz gegenseitig zur Hölle machen. In dieser Erzählung erweist sie sich als Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat. Reyer läßt den Ängsten schockierend freien Lauf, predigt dabei nie, vielmehr erforscht sie wie eine Ethnologin ihre Umgebung. Wenn man die entssprechende Verfilmung dazu anschaut, geht dem Betrachter auf: Reyer begreift  das Musikhören als kulturelle Lesetechnik und denkt in sonischen Bezügen. Diese Femme des lettres ist ungeheuer produktiv. Das Lesevergnügen stellt sich ein, wenn man an ein Stichwort anknüpfen kann. Ihr Denken und Sprechen bewegt sich in der Pop–Matrix. Ganz selbstverständlich bewegt sie sich in der Zeichensprache des Populären. Sie kann Dinge lesen, kann ihre Botschaften entziffern, interessiert sich für Geschlechterkonstruktionen und wie diese sich in der Szene, in Tanz– und Modestilen widerspiegeln oder gebrochen werden, als sexuelle Dissidenz, und klopft diese Zeichen auf ihren politischen Gehalt ab. Wenn Reyer nachdenkt, treibt sie die Selbstbefragung oft bis zur Selbstzerfleischung. Das macht Die Erfahrung nicht zu einer einfachen, aber lohnenden Lektüre.

 

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100 Jahre KRASH-Verlag. 304 S. – Darin finden sich Essays, Prosa, Lyrik, Bilder, Fotos, Comics von und mit Roland Bergère, Daniele Buetti, Karen Duve, Horse Cock Kids, Hadayatullah Hübsch, Anja Ibsch, Ilse Kilic, R. J. Kirsch, Reinita Kosmos, Marcus Krips, Stan Lafleur, John Lotter, Jörn Luther, Jürgen M. Paasch, Bert Papenfuß, Detlef Opitz, Parzival, Rolf Persch, Dietmar Pokoyski, Claudia Pütz, Karl Riha, Beate Ronig, Ro.Ka.Wi., Matthias Schamp, Klaus Sinowatz, Enno Stahl, Andrasz J. Weigoni, Fritz Widhalm, Erich Wilker, Frank Willmann, Harald ‘Sack’ Ziegler. Außerdem 100 Seiten Material zu & über mehr als 100 KRASH-Veranstaltungen!

Die Erfahrung von Sophie Reyer, SuKuLTuR, 2013