Die Erfahrung, Auszug

 

Als er nach Hause kam, zuckte sein linker Mundwinkel. Sie saß am Tisch, das Ultraschallbild zwischen den Fingern herum drehend. Sie starrte ins Leere. Betrachtete danach für einige endlose Momente die rote Glasvase, in deren Innerem kleine Tropfenformationen zu sehen waren. Luftblasen, dachte sie. Dann fiel die Tür ins Schloß. Er setzte sich ihr gegenüber hin, der Blick seltsam gläsern. Ihr Lächeln fror ein. Sie hat mich gebeten, dir nichts zu erzählen, sagte er.

Sie nickte. Der Kehlkopf schwoll an, bauschte sich auf zu einem riesigen Knödel, das sie nicht mehr hinunter schlucken konnte. Er stand auf, bewegte sich in ihre Richtung, seltsam motorisch. Umarmte sie. Kalte frostige Kuppen, die ihren Hals berührten. Sie aufzucken ließen. War Mama besorgt? fragte sie tonlos.

Ja. Ich glaube.

Aber es war richtig, nicht hinzugehen, sagte sie.

Er ließ die Arme belanglos von sich herunter baumeln, blickte sie an.

Ich weiß nicht, meinte er.

Du hast sie doch auch nicht gemocht, antwortete sie, auf einmal verärgert. Sie spürte, dass ihr gleich die Stimme umkippen würde. Sie schob das abgegriffene Ultraschallbild von sich, nestelte an ihren eigenen Fingern herum, hilflos. Stille. Sie blickte unverwandt auf den Fötus, den das Bildchen zeigte, dann auf die kleinen Bläschen im Inneren der roten Vase. Sie begann, diese zu zählen. Verlor sich in Gedanken. Hörte auf, fing wieder an: Eins, zwei, drei….

Ich hab ihren Daumennagel gestreichelt, sagte er irgendwann.

Sie hielt inne, griff nach dem Ultraschallbild und drehte es zwischen den Fingern hin und her. So sah es also aus in ihr. Die Gebärmutter ein enger Wohnraum, dachte sie. Der Raum würde wachsen und das Kind mit ihm. Die erste Erfahrung des Kindes würde also sein, dass das Außen mit ihm gemeinsam größer würde. Und immer größer.

Du sagst gar nichts, meinte er.

Sie stand auf. Ich mach dir einen Früchtetee.

Am nächsten Morgen putzte sie sich die Zähne versehentlich mit ihrer Handcreme. Spuckte plötzlich aus, in einem Schwall. Trank Wasser nach. Spuckte wieder aus. Blickte dann auf die Tube, verdrehte die Augen und lachte sich selbst ein bisschen aus. Sie wollte nicht an den Tod der Mutter denken. Und auch nicht daran, dass es jetzt zu spät war. Sie gurgelte, spülte sich den Mund aus. Immer wieder. Ihre Augen röteten sich, kleine feine Äderchen begannen, das Weiß des Augapfels zu sprenkeln. Sie seufzte, ihre Füße waren nackt. Sie schob den Bauch vor sich her, streifte durch die Wohnung, ziellos, paralysiert. Wusste nicht, ob sie sich auf die Geburt des Kindes freuen oder es sich eher weg wünschen wollte. Die Tagesstrukturen waren Halteseile, die sie vergessen ließen, dass sie schockgefroren war. Sich in einer Art Kühle durch die Tage bewegte, sich selbst von Außen zusah.

 

***

Die Erfahrung von Sophie Reyer, SuKuLTuR, 2013

Weiterführend →

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier.

Ein Kollegengespräch zwischen Sophie Reyer und A.J. Weigoni findet sich hier.