Nur eine Taste und zwei Knöpfe
Gleich geh ich die Treppe hinunter. Auf dem Rücken trag ich das Radio, das du vor vielen Jahren gekauft hast. Der Kasten hat nur noch eine Taste und zwei Knöpfe, er singt und spricht nicht mehr, aber sein honiggelbes Holz glänzt fast wie früher. Ich will es mit einem Stöckchen leicht schlagen, vielleicht springen dann ein paar Töne heraus.
Mit allen Körpern, die alt werden, sei es nicht anders, der Wind wühlt sie wie Schornsteine durch und klaut ihnen Worte, Laut für Laut, bis sie verstummen. Das hast du oft gesagt, immer öfter.
Damals war meine Freude so groß, dass ich noch nicht mal gemerkt hatte, dass Mutter ihre Halskette nicht mehr trug, und dass dort, wo euer lichtsattes Bild von Barbizon hing, nur die Umrisse einer dumpfen Fläche zu sehen waren. Wundspuren im Weißen.
Die einzigen Wertsachen wurden verkauft, damit dieses Wunderding in unser Haus kommt. Irgendwo im Gerät müssen ganz viele Zwerge Tag und Nacht sitzen, um uns mit schöner Musik und Geschichten zu versorgen. So versuchte ich mir das Unvorstellbare vorzustellen.
Wo ich jetzt hingehe, kann ich das alte Radio nicht mitnehmen. Ich kann es auch nicht zum Sperrmüll geben oder zwischen den wilden Gewächsen im Garten als Denkmal meiner Kindheit zurücklassen. Noch nicht einmal in einer Anderswelt wie deiner würde man ihm Platz machen. Der Himmel ist übersät mit Sternschalen und fremden Objekten, die herumirren. Morgen früh könnte ich es aber ins Boot tragen, es dem Fluss anvertrauen. Vielleicht schafft es der stumme Kasten bis zu der Insel, wo sich alle versammeln, die nichts mehr können. Eine Welle würde ihm beibringen, wie man schwingt.
Buchstaben wie Ameisen
Er zieht seine Windjacke an und steigt aus dem Zug.
Kein Koffer in der Hand, noch nicht mal ein Fernrohr. Nur die Mütze mit dem grau schimmernden Schirm. Trotz der Kälte setzt er sie nicht auf. Am Bahnsteig wartet niemand auf ihn. Vater und Bruder liegen ein paar Straßen weiter in einem Grab. Straßenlaternen verlöschen nach und nach. Noch gehüllt in gedämpftes Licht, geräuscharm, wie in dem Jahr, in der Stunde, als er diese Gegend verließ, wacht die Stadt wieder auf.
Die Druckerschwärze färbt ihm die Finger, während er im Park gegenüber dem Bahnhof in der Lokalzeitung blättert. Die ehemalige Stahlröhrenfabrik, die Namen und Besitzer mehrmals wechselte und nun Arcelor Products heißt, mit Aktien an der Börse, wird schon wieder vergrößert, liest er auf der Titelseite. Niemand scheint sich noch an die sehr jungen, besessenen Chemieasse zu erinnern oder an ihren naiven Versuch in den 50er Jahren (der nicht ungestraft blieb), einen Sprengstoff gegen diesen Koloss herzustellen …
Die Seiten mit den Berichten über Erfolge des Bürgermeisters und Parteipolitik zerknüllt er sofort. Auch von Mördern, Dieben, Betrügern und ihren Handlangern vor Ort will er nichts Näheres wissen, sonst würde er sich von den Menschen noch mehr fernhalten, und sein Bild von der Welt wäre noch grässlicher. Den Anzeigenteil dagegen behält er, vielleicht tauchen dort, unter irgendeiner Rubrik, Namen ehemaliger Spielkameraden, Nachbarn oder mancher Geliebten auf. Interessant auch die Reklamespalten von Immobilien und einige Verkaufsangebote. Ihn beschäftigt die Bewegung so vieler Dinge, ihr stetiger Wechsel von hier nach da und in alle möglichen Richtungen. Letztlich ist das nichts anderes als der Verzicht auf eine zu lange Vertrautheit mit alldem, was einen umgibt, ein gelegentliches Aufbäumen gegen jenen Teil des Ichs, dem es gefällt, so gut wie nichts zu ändern (er kennt das von sich), um je nach Bedarf in eine neue Beziehung zur dinglichen Welt einzutreten.
Alle, die inseriert haben, sind ihm fremd. Weniger die Objekte. In der Liste der Toten erkennt er keinen Namen. Er steht auf, will auch diese Seiten wegwerfen, als ihm eine alleinstehende Zeile, mit Buchstaben wie Ameisen, ins Auge fällt. In einer Jackentasche findet er die Leselupe und hält sie über die unscharfe Schrift. Er meint, die ungewöhnliche Platzierung eines Zitats aus Joyce’ Ulysses sei ein witziger Zufall und lächelt in sich hinein: Wegen der weißen Dachziegel seines Wohnhauses nannten ihn die Mitschüler „Rick von Casa Blanca“. Später hieß er nur noch Ulysses, der Klassenheld. Er war der einzige unter ihnen, der sich traute, die Schuljacke ohne die obligatorische Nummer auf dem Ärmel zu tragen. Zwei Mal lief er von Zuhause weg (während die Braven seines Jahrgangs Flüsse und Berge in Erdkunde paukten), um mit dem Fischerboot des Großvaters ans Meer zu gelangen und weiter, viel weiter zu rudern, begleitet von den fliegenden Fischen und Brummlauten der Wale. Er wollte Seefahrer werden, war zu jung und inbrünstig, um sich darüber Gedanken zu machen, ob er den Krallen trügerischer Sirenen entkäme.
Joyce’ Worte lassen ihn den ganzen Tag nicht mehr los. Rein oder Nichtrein. Klopfen oder Nichtklopfen … Hinein, nicht hinein. Nichtklopfen, jedenfalls nicht hier am Schultor.
Kurz nach Mitternacht will er zurückfahren, mit dem letzten Fernzug. So lange wollte er in der Stadt bleiben, zu Plätzen gehen, wo er sich damals aufhielt, und dort das Gleiche wieder tun. Oder einfach den Füßen gehorchen, ohne einen bindenden Plan.
– Rick?
Die Stimme, die ihn ruft, klingt verschleiert, sie lässt sich nicht genau orten. Zu sehen ist auch niemand außer dem grasgrünen Frosch; der quakt nicht, glotzt ihn bloß an. Da Rick aber ahnt, was nach dem kehligen Ruf folgt, antwortet er, noch bevor die Frage auftaucht: Ja, hier war es. Neben dem Weiher. Hier haben sie meinen Vater hingeschleppt und noch mehr verhöhnt, dann abgeknallt. Die Einweisung in die Irrenanstalt schien ihnen eine zu milde Strafe. Angeblich erfüllte er zu beherzt seinen Auftrag als Anwalt politisch Verfolgter. Sie gingen danach so, wie sie kamen mit ihren schallgedämpften Gewehren auf der Schulter, als hätten sie eine Wachtel oder Wildente erlegt.
Wieder schaut er zum Weiher und schüttelt zweifelnd den Kopf: Wem erzähle ich das alles? Doch nicht nur dem Frosch …
– Rick?
Wieder die kehlige Stimme, nur lauter. Ach, du bist es, Vater, tot und nicht tot! Kannst du mich hören? Mit den Ohren der Gräser vielleicht? So sangst du jedes Mal, als wir im Garten miteinander spielten. Es steht auch im Tagebuch.
Damals lauerte ich hinter der Weide. Ich sah dich zu Boden fallen und ich schrie und schrie. Und neben mir blähten die Frösche ihre Schallblasen, als wollten sie dich zurückrufen.
– Rick?
Wieso höre ich ihn und er mich nicht, und warum hält der grasgrüne Frosch nun still, statt zu quaken? Spürt nicht nur der Mensch, dass man nirgendwo mehr sicher sein kann?
Er streicht mit der Hand übers Wasser und Gras und ringt sich zu einem Entschluss durch. Nicht rein, nicht noch mehr klopfen. Dann läuft er weg. Nach hundert Metern bleibt er verdutzt stehen: Egal, wo er hinliefe, die Vergangenheit läuft mit. Selbst hinter dem Mond gäbe es keine Verstecke. Seine Augen starren den Himmel an, als erwarte er von dort eine Antwort. Den Zeitlauf scheint er nicht wahrzunehmen. Erst beim Läuten der alten Turmglocke. Noch zwölf Stunden, bis mein Zug kommt, rechnet er und eilt zu einer achtarmigen Krake aus Stahl. Aus der neuen Fontäne der Stadt springt aber kein Wasserstrahl, der Sommer ist vorbei … Weil gerade ein Bus hält, steigt er ein, ohne vorher nach dem Fahrtziel zu schauen. Von allen Seiten gequetscht, atmet er den Geruch aller Reisenden ein. Unwillkürlich erinnert er sich an den Anhänger, wo für den Schlachthof vorgesehene Schweine aus den umliegenden Dörfern eng zusammengepfercht wurden. Als der Transporter an ihm vorbei raste, sah er auf dem obersten Deck, wie ein kotbeschmutztes Ferkel, das nach Luft rang, auf die siechen Leiber der anderen kletterte. Wenig später lagen sie überall auf der Landstraße. Rote Hügel von Leichen und ein immer leiseres Quieken. In der Schlucht der Anhänger. Bis in den Traum verfolgten ihn diese Szenen, noch lange danach. Klopfen, Nichtklopfen, Nichtrein. Dieser Tod war nicht rein. Am Rande eines Maisfeldes betete er für die umgekommenen Rüsseltiere.
Ein Blick nach draußen, mühsam geworfen über die Haare, Hüte und Mützen der Fahrgäste. Auf einmal winkt ihm Freude. Er hält sich fest an den Stangen und, fast über den Boden schwebend, schleicht er durch die schwitzende Menge zur Tür. Endlich weiß er wohin. Gleich aussteigen, am Kastanienpark. Denn da, in der Nähe des Flusses, half er seinem ehemaligen Freund eine Kopie des „Kusses“ von Brancusi und später den von zwölf Steinhockern umringten Tisch des Schweigens aufzustellen. Der Freund hieß auch Constantin wie Brancusi und kam zur Welt im selben Walddorf wie der vollbärtige Bildhauer. Das Geld reichte nicht aus für Gusseisenplatten und Stahl, sonst stünde dort auch ein Nachbau der Unendlichen Säule … Rick springt aus dem Bus und forscht mit den Augen nach dem kompakten Steinblock. Da sind sie, die zwei Liebenden, innig umschlungen und durch den Kuss zu einem einzigen Wesen vereinigt. Als gäbe es nur sie auf der Welt. Von Anfang bis Ende. Er wusste nicht, warum der Anblick dieser massigen, wenig anziehenden Körper ihn so fesselte.
Es genügte ihm davor zu stehen und sie zu betrachten. Vielleicht lag es an der Ähnlichkeit mit seinen Eltern. Fünfeinhalb Monate nach Vaters Tod am Weiher fand ein Nachbar die Mutter erhängt an dem hohen Holzgerüst, das für Vogelscheuchen aufgestellt war. Sie hat eine so kurze Zeit ohne ihren Mann ausgehalten.
Rick fasst die zwei Küssenden am Kopf, streift sie nochmals mit einem Blick, dann schließt er die Augen. Sein ganzes Gesicht scheint nun einem Traum nachzuhängen. Selbst der Tod müsste seine Ohnmacht gegenüber einer solchen schicksalhaften Liebesbeziehung eingestehen. Dieser Gedanke schwirrt noch in seinem Kopf herum, als er eine Allee weiter auf einem der zwölf Rundhocker sitzt.
Hier hat sich bislang nur ein einziges Mal jemand zu mir gesetzt, erinnert er sich. Die Frau mit schwarzgelben Augenringen. Ein müder Zugvogel wie ich. Es gab keinen Fingerzeig darauf, dass diese Schemel und der Tisch ein Ort des Schweigens sein sollen. Sie schwieg einfach, um den Zauber der Stille nicht zu brechen. Nach etwa einer Stunde zog sie aus ihrer bunten Stofftasche Schafkäse, mehrere Speckscheiben und ein Stück Maisbrot und legte alles auf den wuchtigen Tisch, dann winkte sie mir zu und forderte mich auf, mitzuessen …
Jetzt sehe ich zwei Kastanien auf dem Steinhocker ruhen und einen goldbraunen Star, doch bald könnten sich weitere Gäste dazu gesellen. Ein Kranich vielleicht. Ganz allein blieb ich noch nie. Im Waisenhaus aber, wo ich einen Teil meiner Jugend verbrachte, sehnte ich mich öfters danach, nur mit mir zusammen zu sein. In einer winzigen Ecke. Zwischen Schatten und Licht, im Wechsel von Stille und Schall.
Der Prügelknabe in ihm, das Straßenkind, wehrt sich. Sein Fuß weigert sich, die Schritte stocken. Rein oder Nichtrein. Klopfen oder Nichtklopfen.
Hinein oder nicht. Gibt es denn dieses Heim noch? Es kam das Gerücht auf, dass jemand in einer Julinacht Feuer gelegt habe. Die Einrichtung sei bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Er will es doch wissen und vielleicht ein Lied auf die Rückkehr des Lächelns anstimmen.
Geisterwälder kannte er nur aus den Geschichten, die Großvater erzählte, meist mit den schönen Nymphen der Eichbäume. Aber nun sieht er einen wirklichen, skelettartigen Boden und dunkle Baumstümpfe, wie im endlosen Wald der tausend Augen, der (wie Großvater sagte) nur Untote beherbergte. Eher ‚Aussätzige’, denkt Rick im Rückblick auf sich und seine Leidensgenossen. Als er sich bückt, um seine Füße von den verrotteten, stark verfilzten Zaundrähten zu befreien, tritt ein Schatten hinter ihn und legt ihm die Hand auf den Rücken. Sperber, die Heimleiterin. Ein Schaudern durchläuft ihn wie damals. Wieder flüchten? Von dem Ganzen ist nur noch ein Fenster geblieben, schief eingeklemmt, mit der oberen Kante zwischen zwei Ästen. Kreischend und klopfend sägt der Wind aus dem übrigen Glas unbehagliche Töne.
Jetzt braucht Rick nur einen Bruchteil von Joyce’ schwebendem Satz aus der Zeitung. Er wählt: Hinein und Nichtklopfen. Endlich wird er die anderen, die nicht flüchten konnten, aus dem Sumpf jener Tage und Jahre befreien. Als ein Pfeifensignal die Nachtstarre bricht, lassen die Bäume seinen Zug vorbei rauschen. Er steht oben neben der Fensterscheibe und winkt.
In der Stadt brennen wieder, hier und da, die Straßenlaternen.
Umzüge …
Von der Sonne bekomme ich zwar umsonst milchwarmes Licht, aber der Sommer ist nur ein Vogel mit kurzen Flügeln. Und wenn ich auf den Kleinen Prinzen höre und nur langsam genug gehe, um immer in der Sonne zu bleiben? Dann wäre ich wenigstens meine Sorge um die hohe Drehzahl des Stromzählers los. Aber die Wände, das Dach hier, die Böden … Die Schnecke hat’s gut, überall wo sie hinkriecht, zieht ihr Häuschen mit.
Die umzugsfreien Zeiten. Unbeständig und dünn wie das Pflänzchen des Friedens zwischen zwei Kriegen. Klingt fast wie eine algebraische Gleichung. Kaum haben sich meine Bücher und Bilder an die neuen Wände gewöhnt, müssen sie wieder auf Wanderschaft gehen und letztlich in eine noch engere, mit Holzfries und schwerem Rollpanzer abgedunkelte Wohnung einziehen. Wenn Häuser in die Bäume wüchsen, und die Bäume in den Himmel! Auch das Bett hat’s nicht leicht. Noch hält es still. Seit dem letzten Umzug durfte es mitten im Zimmer allein thronen. Eines Nachts wurde ich ganz lange geschaukelt, als meinte jemand: Du Eule, jetzt wird endlich geschlafen!
Die Kartons stehen wehrlos herum und warten. Neben ihnen die geplünderte Münzkuh und ich, wir starren einander an.
Am liebsten würde ich nur den halb gepackten Koffer mitnehmen (die andere Hälfte hat sich mit hastigen Atemzügengefüllt) und so lange gehen, bis ich die spitzen Dächer nicht mehr sehe, kein Ortsschild. Erst am Fluss würde ich halten, ihm den Koffer geben und schauen, wie er ihn weiter trägt.
Wir werden schon an einem heiteren Platz ankommen.
* * *
Francisca Ricinski · Als käme noch jemand · Lyrische Prosa und Erzählcollagen · 168 Seiten · Broschur · Pop Verlag · Ludwigsburg · November 2013.
Da legt der schiffbrüchige Franzose Mallarmé mir den Arm um die Schulter und murmelt in die Ohrmuschel: „Na, hab ich zuviel versprochen? Franciscas Text ist aus Wörtern gemacht, n’est-ce pas?“ Je tiefer ich in das Wortbad eintauche, um so wohler fühle ich mich in den schaumigen Wortgebilden. (Theo Breuer)
Die Autorin schafft komplexe, bisweilen rätselhafte Texte, in denen Erdachtes, Erlebtes und Erlesenes symbiotisch ineinander greifen. Texte, die Geschichte haben und sich entwickeln, ohne strengen Handlungsströmen zu folgen. Ricinskis Prosa ist hochprozentig. Lässt man sie in sich aufgehen, kann es geschehen, dass man sich in Sätzen wie Dieser Körper ist mein Land, und die Stirn mein Himmelsgewölbe, diese winzige, unausgeschlafene Welt bin ich oder Warum wäscht dich der Regen nicht auch von innen, mein Kopf? plötzlich wiedererkennt und dabei feststellt, dass Ricinskis Fragen oft auch die eigenen Fragen sind, auf die man Antworten oder wenigstens einen Standpunkt sucht, von dem aus man sein Da- und Sosein betrachten und reflektieren kann. (Andreas Noga)