Michel de Montaigne, ein Blogger aus dem 16. Jahrhundert

Nein. Lesen Sie ihn, um zu leben!

Flaubert

Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells „Wie soll ich leben?“. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert. An Variationen dieser Frage hangelt sie sich in folgenden Kapiteln entlang: „Wie entgehe ich der Todesangst?“, oder „Wie vermeide ich die Tücken der Mitmenschen, ohne ungesellig zu werden?“. Das Ich in diesen Fragen ist etwas irritierend, denn der Anspruch nach Allgemeingültigkeit war Montaigne eher fremd.

Richtig lebt man dann, wenn man der alltäglichen Lebenspraxis möglichst viel Aufmerksamkeit schenkt und Schicksalsergebenheit, lernt. Wie der Stoiker Epiktet schrieb:

Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, daß es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben.

Tradition der literarischen Selbstbeobachtung

Montaignes Versuche zogen Generationen von Lesern in den Bann. Diese Faszination ist leicht nachzuvollziehen, schwieriger ist es dagegen, den Ursachen für dieses Interesse auf die Spur zu kommen. Die amerikanische Autorin Sarah Bakewell versucht in „Wie soll ich leben?“ das Leben und Denken Montaignes mit leichter Hand in die Gegenwart zu transformieren. Immer noch ist es ein großes Projekt sich selbst befragen und betrachten, das Schwanken der Gedanken, den Zustrom der Erfahrungen und der Lektüren. Nicht das Sein darstellen, sondern das Unterwegs-Sein, von Stunde zu Stunde. Einen Menschen schildern, in allen seinen Widersprüchen. So wuchsen Montaignes Essais wie ein Korallenriff, so begründete der Schriftsteller und Philosoph nebenher eine Tradition der literarischen Selbstbeobachtung. Denn die „Essais“ sind beides zugleich: ein Handbuch des Lebenspraxis und große Literatur.

Die Essais sind der Schlüsseltext über die moderne Einsamkeit.

Vignette mit Michel de Montaignes Wahlspruch „Que sais-je?“ (Was weiß ich?)

Das Besondere ist der Sog seiner Sprache: Der Essayist ist erst bei sich, wenn er ganz in diesem Wasser fließt. Wenn Montaigne, der als Erster eine Sprache für die Peristaltik der inneren Organe und ihr Mitwirken am Ich gefunden hat, schreibt, dass wir alle nur „aus buntscheckigen Fetzen bestehen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will“Montaigne setzt in “An den Leser” zu einer Erläuterung seines Projekts an:

Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert. Ich will jedoch, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Meine Fehler habe ich frank und frei aufgezeichnet, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte […] Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigten Gegenstand verwendest.

Freundschaft und Einsamkeit als seelische Aufenthaltsorte außerhalb der Gesellschaft.

Obwohl Montaigne seine Leser gerne mit einem Augenzwinkern auf falsche Fährten führt, kann man diesen Auftakt durchaus ernst nehmen. Seine Essais gehören zu den erstaunlichsten Selbstportraits der europäischen Literatur. Die meisten Versuche beginnen mit dem Wort “Über”, über die Traurigkeit, über den Müßiggang, über die Lügner, über die Schulmeisterei …

Lebensgeschichte wird verdichtet anhand von biographischen Knotenpunkten

Wahrheit ist für Montaigne nichts Absolutes. Er findet sie gerade in der Bewegung des Geistes. Seine Gedanken folgen keinem thematischen Fahrplan, sondern nutzen jede Gelegenheit zu Abschweifungen und erkenntnisträchtigen Umwegen. Auch Bakewells Montaigne-Biographie „Wie soll ich leben?“ hangelt sich nicht starr chronologisch von der Geburt bis zum Grab. Die Lebensgeschichte wird verdichtet anhand von biographischen Knotenpunkten und literarischen Zentralthemen (Freundschaft, Ehe, Lebensgenuss, Tod, das Amt etc.), jeweils mit philosophisch gestimmten Antworten assoziiert. Das können eher klassische Maximen sein („Lebe den Augenblick!“), aber auch listige Leitlinien der Lebenskunst („Mache deinen Job gut, aber nicht zu gut!“). Zwar war Montaigne ein Autor, der unermüdlich seine eigenen konkreten Erfahrungen verarbeitete (bis hin zu den Nierenkoliken); zugleich bewegt sich das Schiff seiner Essais aber auf einem breiten ideengeschichtlichen Strom, allem voran die antiken Schulen der Skepsis, des Epikuräertums und des Stoizismus. Mit leichter Hand schildert Bakewell diese philosophischen Hintergründe, und zugleich erzählt sie von der mächtigen Nachwirkung der Essais im Lauf der Jahrhunderte: ein geliebtes, gehasstes, sehr lange von der römischen Kirche verbotenes und deshalb umso faszinierendes Buch.

Erschütterung aller geistigen Fundamente

Montaigne auf einem zeitgenössischen Gemälde

Sich systematisch Montaigne zu nähern, ist schwierig. Diese Autobiographie in Versuchen schließt das Scheitern im Denken ein. Nicht selten wird ausprobiert, weshalb man zu vielen Fragen keine konsistenten Antworten erwarten darf. Montaigne führt eher eine Art des Denkens vor, die sich nicht nur durch Skeptizismus auszeichnet, sondern auch durch große Freiheit. Leider gibt es, wie bei anderen Denkern, auch bei ihm eine große Ausnahme: der katholische Glaube. Bei Montaigne, der äußerlich an der katholischen Ordnung der Dinge festhielt, wird die menschliche Existenz erstmals im modernen Sinn zum Problem – aber sein gelassenes Temperament und seine Ironie verhindern die Zuspitzung ins Tragische. Bakewell verdeutlicht, inmitten welcher geschichtlichen Stürme er arbeitete und schrieb. Während seiner Zeit als Bürgermeister von Bordeaux raffte die Pest ein Drittel der Einwohner dahin; der schier endlose Krieg der christlichen Konfessionen führte zu zahlreichen Exzessen und Pogromen, darunter die Bartholomäusnacht, bei der allein in Paris 10.000 Protestanten massakriert wurden. Dem Ton von Montaignes Prosa sind diese Verstörungen nicht abzulesen; die Erschütterung aller geistigen Fundamente dagegen schon. In den verbissenen religiösen Zwistigkeiten nimmt er eine grundsympathische Position ein: Toleranz nach allen Seiten; dabei mehr Neugier auf das Diesseits als Sehnsucht nach dem Jenseits. Montaigne schreibt über seine Erfahrungen, seine Gedanken und sein Leben. Ein weiterer roter Faden sind zahlreiche aus seinen Bücher bezogene Beispiele, Geschichte und Geschichten, welche den einen Punkt belegen, dem anderen Aspekt widersprechen, kurz zu verschiedensten rhetorischen Zwecken eingesetzt werden. Wobei es Montaigne mit dem Zitieren nicht übermäßig genau nimmt. Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen und ab und zu sogar gegen ihre ursprüngliche Intention verwendet, wenn man sich den Kontext des eingefügten Textschnippsels ansieht. Das Ergebnis dieses von Montaigne entwickelten Kompositionsverfahrens ist ein vielschichtiges, originelles und bedenkenswertes Werk.

Wenn wir uns nun also vornehmen, allein zu leben und uns der Gesellschaft zu entziehen: stellen wir uns so an, dass unsere Zufriedenheit nur von uns abhängt; lösen wir uns von den Banden, die uns an andere ketten; gewinnen wir es über uns, wirklich allein zu leben und uns dabei wohl zu fühlen.

Ein pädadagogisches Anliegen

Angesichts der verschmitzten Klugheit des Autors sollte man seine zahlreichen Aussagen, er schreibe gedächtnis- und planlos ins Blaue hinein, keinesfalls ernst nehmen. Zumindest verfolgt er ein pädadagogisches Anliegen und will seine Leser zum kritischen Denken erziehen. Es ist kein Zufall, daß Sokrates einer von Montaignes Geisteshelden ist, auf den er immer wieder referenziert. Neue Wendungen des Blicks, überraschende, verunsichernde Perspektiven auf Dinge, die wir gut zu kennen meinen, sind Markenzeichen des Philosophen der französischen Renaissance. Er zog alles in Zweifel, vor allem sich selbst. Dem Erforscher der Seele erschien das gestaltlose und bedrängend instabile Etwas in uns als unheimlicher denn alle Darbietungen der grausamen Shows seiner Zeit:

Ich habe auf der ganzen Welt bisher kein ausgeprägteres Monster und Mirakel gesehen als mich selbst. Zeit und Gewöhnung machen einen mit allem Befremdlichen vertraut; je mehr ich aber mit mir Umgang pflege und mich kennenlerne, desto mehr frappiert mich meine Ungestalt, desto weniger werde ich aus mir klug.

Montaigne formuliert die Lehre des guten Maßes. Moralische Nonchalance brachte ihm den Ruf des intellektuellen Verführers ein, die Skepsis provozierte die radikalen Denker der nächsten Generation. Fesselnd erzählt Bakewell, wie sich der zerknirschte Christ Pascal über Montaigne ereifert und wie sich der Wahrheitsfanatiker Descartes über das „Ich weiß nichts, und nicht einmal das ist sicher“, echauffiert. Geschickt gewinnt Bakewell aus diesen Konfrontationen die These der Aktualität Montaignes heute.

Die Essais als zentrales Werk der Weltliteratur

Titelbild der Original-Ausgabe

Mit guten Gründen zählt man die Essais zu den zentralen Werken der Weltliteratur. Die intellektuelle Komplexität ist faszinierend und kann durch eine erste Lektüre nicht annährend ausgeschöpft werden. Aus analytischen Gründen kann man zwei zentrale Themenbereiche unterscheiden: Die Essais als geistige Biographie eines faszinierenden Menschen der frühen Neuzeit und das Mosaik höchst unterschiedlicher Inhalte. Inwieweit Mosaik eine passende Metapher darstellt, darüber scheiden sich die Geister. Während Vertreter der Postmoderne ihre seltsame Denkschablone dahin gehend über den armen Montaigne stülpen, daß er angeblich ein inkomprehensibles Textsammelsurium hinterlassen hat, weisen Vertreter der traditionelleren Gelehrsamkeit auf die rekonstruierbare subtile Komposition der Essais hin. In ruhigen Zeiten mag Montaigne mit seiner Lehre des Mittelmaßes als Langweiler wirken. Aber in Zeiten von Fanatismus und Fundamentalismus ruhiges Maß in Denken und Politik zu bewahren ist mutige Haltung. Emblematisch ist eine Anekdote, die Bakewell berichtet: Als der König ihm einen dringlichen Brief schrieb, der ihn erneut in diplomatische Dienste beorderte, legte Montaigne den Schrieb einige Wochen auf den Kaminsims, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen. Als der König ein weiteres Mal schreibt, legt er den Brief erneut für sechs Wochen auf Halde, um in seiner Antwort schließlich Distanz zu wahren: „freimütig, unbeeindruckt von der Macht und entschlossen, sich seine Freiheit zu bewahren.“ Selten waren Denken und Leben so sehr eins wie bei Montaigne, und seine von Bakewell erzählte Biografie erinnert daran, daß Nachdenken helfen kann.

 

 

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Wie soll ich leben? Oder: Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten von Sarah Bakewell, aus dem Englischen von Rita Seuß,
 C.H. Beck, 2013

Weiterführend  Zur Einführung finden sich von Holger Benkel Gedanken über das Denken.

 Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.

In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.

→ In 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.