Das war toll! Und die Betonung auf das Wort „das“, dreistelliges Wort mit wenig Lebenserfahrung, fiel müder als sonst.
Ich reimte die Tassen mit den Gassen und fotografierte meine Fingerspitzen mit einer ausgedachten Kamera aus Luft und aus Wünschen. Die Luft legte sich weich auf meine Schulter, die Wünsche klopften an meine Schläfen, doch meine haarigen Schläfen machten nicht auf. Eine undankbare Lücke in der Wand saugte an den Fingern der Zeitbegrenzung. Die verspannten Schattengebilde tunkten das Zimmer in eine marmorierte, delikate Oberfläche. Der Schimmer lebloser Gegenstände verstärkte sich durch das Heranziehen eines schmalen Tisches, auf dem eine letzte Cognacpraline wie ein Klunker funkelte. Ich wollte zurück ins Leben.
Aber nein, das Leben an sich war unmodich, schal auf meiner Zunge sein Geschmack und bitter seine Kuchen, die verschimmelte Mandeln, die abgelaufene Sahne, der Pudding-Geruch und wackelige Mauern, die asketische Neigung, alles zu ertragen. Ich hätte gern einen Weg gefunden. Einen Weg durch einen Wald, den ich sowieso fürchtete, weil sie – die Bäume – in Überzahl waren, ich in Unterzahl. Die Zahlen waren der ausschlaggebende Grund, wieso ich zu denken aufgehört habe. Jedes Mal, wenn ich einen Gedanke an die Leine nehmen wollte, trug er auf der Stirn eine Zahl: der erste Gedanke, oder der fünfte Gedanke… Diese Gedanken drehten sich um einen festen Punkt herum, bewegten die Hüften, zeichneten Quadrate, deren Kanten sie brachen, Vierecke, deren Kanten sie brachen, winzige Tupfen, die sie ertranken im Speck. Ich brachte diese Zahlen durcheinander und wusste nicht mehr, welchen Gedanke ich noch nicht aufgegeben habe. Bei dem Einblick fallender Blätter kam es mir so vor, als wären meinen Armen Zweige entrissen worden, die diffusen Nuancereflexe der freizügigen Sonne unterstrichen meine Befürchtungen – ja, ich verlor an Gewicht, jedoch nicht durch den Einbruch des Herbstes, sondern durch das Ablegen, aufgrund des Verfallsdatums, jener monströsen Sorgen – das Ende der Welt war nicht eingetroffen, wie ich es vermutet hatte. Ich habe eine Entrümpelung der Gedankenräume gewagt, dennoch abgebrochen. Es waren diese scharfen Kanten der Luftlosigkeit, die mein Durchkommen verhindert hatten. Die abstrusen und gepaarten Merkmale meiner Unsicherheit. Ich stand vor Gebirgen mit unerforschten Gipfeln, Vulkane der Wut, Verzweiflung, der Sinnlosigkeit. Hinter dieser Kette – meine Gedankenräume. Der Weg zu sich selbst ist manchmal die größte Herausforderung im Leben. Ich habe schließlich die Luft zum Atmen zweigeteilt. Eine Hälfte rutschte aus Versehen über das Eigenfleisch, entlang meines Unterarms verdichtete sich die Spur des Blutes, das nun ungenießbar sich in die Länge zog. Es stank und es tat weh.
Die Wahrnehmung des körperlichen Schmerzes befreite mich von Träumen, bewahrte mich vor Hoffnungen und Lieben. Die Lieben in meinem Leben galten als verscheuchte Straßenköter, als unbesiegbare Gegner und namenlose Kreuzungen eines Gerüsts. Ich liebte das Chaos in seiner Vielfältigkeit. Die Größe des Abgrunds und die Last der abgelegenen guten Manieren harmonierten gut zusammen. Ergreifend der Untertitel eines Erinnerungsbuch: „Die Gabe, die jegliche Zweifel beseitigt“. „Gabe“ – ein Wort aus einzelnen aneinander gereihten Buchstaben, „Zweifel“ – meine Religion. „Die“ und „jegliche“, die Lückenfüller, blieben beim Aussprechen zwischen den Zähnen stecken. Meine Zähne haben schon immer nach Zwiebel geschmeckt. Ich stach meinen Blick mit einem Taschenlampenlicht. Die Lichtströmen drangen durch meinen Schädel durch. Meine Augenäpfel hatten keinen Schatten.
Ich schloss das Erinnerungsbuch mit einer Hand in der Hose. Es juckte mich nicht, doch ich wollte dafür sorgen, dass die Ablenkung einer draufgängerischen Heldentat – der Unzucht – glich. Ich kratze mich in fahrigem Tempo, die gähnende Leere in meinem Magen drückte meinen Bauch gegen die Wirbelsäule. Der Brechreiz wurde unerträglich. Ich rieb Körperteile an Körperteilen ohne Vernunft. Es sei nicht zwingend, meinte eine Stelle entnommen aus einem geführten Gespräch – es sei nicht zwingend erforderlich, der Sinn des Lebens zu begreifen um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht zu verlieren. Diesen Satz empfand ich als eine stumpfsinnige Reiberei der Wortorgane an Wortorganen.
Die Zukunft enthält keine Ballaststoffe, die Darmtätigkeit würde bei dem Umgang mit der Zukunft nicht angeregt werden. Ohne die Möglichkeit, einen Teil dieses Daseins auszuscheiden, entfällt das Bedürfnis, Informationen, Sichtweisen aufzunehmen. Von mir aus, soll es keine schnelle und häufige Ausscheidung von dünnflüssigem Stuhl sein. Es reicht wenn es regelmäßig passiert. Die poröse Haut dieser Existenz braucht die Entgiftung. Der Fluss der kontinuierlichen Ereignisse braucht einen standardisierten, leistungsstarken Abwassersystem. Sonst verstauen sich die Elemente und die Einflüsse der täglichen Lappalien wachsen zu Diktatoren, die den eigenen Willen zu unterdrücken versuchen. Wie an vielen Orten dieser Welt.
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Nicoleta Craita Ten’o ist eine deutsch-rumänische Schriftstellerin. Sie besuchte die Schule von 1989 bis 1996 in ihre Heimatstadt Galați. Im Alter von 13 Jahren beendete sie abrupt ihre Ausbildung, und es wurde bei ihr Schizophrenie und Autismus diagnostiziert. Ihre Ausbildung blieb bei den ersten 7 Grundschuljahren. Im Jahr 2000 erschien Nicoletas erster rumänischsprachiger Gedichtband Durerea în durere piere. 2001 zog Nicoleta Craita Ten’o mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihr Gesundheitszustand blieb unverändert.
2002 erschien im Verlag Editura Pro Transilvania aus Bukarest, Rumänien, Nicoletas Debüt-Roman Pe urmele Fefelegei… Im Oktober 2002 erschien der Gedichtband Cântece la moara timpului. Im Februar 2003 erschien Nicoletas viertes Buch, und zweiter Roman Rebel. Für Rebel erhielt Nicoleta Craita Ten’o 2003 den ersten Preis der jungen Autoren Prima Verba vom Verein der Rumänischen Schriftsteller. Im April 2010 veröffentlichte sie ihren ersten deutschsprachigen Lyrikband Haruka…, im August 2011 erschien der Gedichtband Drei Köpfe.