Mit der These, dass wir immer schon in Zitaten reden, wenn wir den Mund aufmachen, operiert die ganze postmoderne Intertextualitäts-Theorie.
Neue Zürcher Zeitung
Nehmen wir einfach ein bisschen Roche, weil es mir gerade so kommt, in den Kopf – nicht die Hämorrhoidengeschichte, dergleichen wird bei Bukowski besser emotionalisiert – sampeln wir mit Nuancen aus Sex und Vulgärsprache, das verkauft sich immer: Ich schreibe Essays, das ist neben Ficken mein einziges Hobby. Am Anfang waren weder Muschi- noch Arschsachen, keine Kackprobleme, keinerlei Schwanzangelegenheiten, keine Avocadobäume – sondern das Wort. Am Ende ist die Collage. Schwanzangelegenheiten ist von mir, behaupte ich.
Für eine deftige Collage sollten wir nun eine zweite Autorin wählen. Nämlich – nein, Sie wären nie darauf gekommen – Helene Hegemann. Selbstredend dürfen wir hier nicht Auberginen und Möhren zusammenwerfen, und müssen Missverständnissen vorbeugen. Roche hat nicht abgeschrieben. Ich lasse mich von ihr inspirieren, weil sie den Blätterwald so nachhaltig rauschen lies, damals; ihre „gärenden Urintropfen“ von heute sind dagegen ein kommerzialisierter Abklatsch. Charlotte Roche verfolgt seit ihrem Erstlingsroman wahrscheinlich die ebenso simple wie alte Strategie der Libertinage, die religiöse Dogmen schlagen möchte: Atheistenkrankenzimmer sagt mehr aus als immer wieder Muschi.
Hegemann hat sich mehr als inspirieren lassen, ohne darauf hinzuweisen. Obgleich Geklautes mit Eigenem verklebt wurde, ist das Resultat noch lange keine Collage, wie sie und andere Akrobaten des Literaturzirkus meinen, sondern in Teilen ein Plagiat. Und Plagiatoren, das sind „Seelenverkäufer“, so der spanisch-römische Dichter Martial, die „Verse ihrer Freiheit berauben“.
Nach Gérard Genette soll Intertextualität nur noch linguistisch nachweisbare Spuren bezeichnen, darunter fällt das Plagiat. Unscharf das. Wo hört die Anspielung auf und wo beginnt das Plagiat?
Helene Hegemann wollte sich partout weder Asche aufs Haupt streuen noch streuen lassen, und seitens der sogenannten Internetgemeinde kam ein konzedierendes Achselzucken, womit die Tendenz zu Copy & Paste als Normalzustand deutlich wurde. Man müsse einfach akzeptieren, dass der Roman in seiner Entstehung die Methoden des Jahrzehnts widerspiegele, entgegnete die junge Autorin forsch ihren Kritikern. Sie habe ein Montagewerk verfasst. „Originalität“, – einst von Julio Cortázar substanziell brillant gefordert („Originalität zugunsten der Natürlichkeit“) – so Hegemann weiter, „gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit“.
Seit der Literaturrevolution in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Montage eine legitime Technik. Die Begriffe Montage, Collage und Cut-up werden seit den 1960er Jahren nicht mehr synonym benutzt, dies soll uns aber im Augenblick nicht stören – mashen wir’s up im stylischen Shaker namens Cut & Paste, die Mainstream-Medien machen es vor.
„Lies diese Zeilen und vergiss sie wieder.
Der Text hier ist nur ein Fertiggericht aus Fragmenten, gut angereichert mit Dingen, die du nicht lesen willst, verfeinert mit Anspielungen, die du nicht verstehst, und das Endprodukt ist nur Wortwichse, die dir ins Gesicht spritzt.
Du musst es wegwischen.“
Soweit der ungekrönte König des deutschen Poetry Slam: Johannes Floehr. Nicht als solche geschrieben, wirken seine Zeilen wie eine vortreffliche Definition der Textmontage.
Das World Wide Web: Galaxie der besonderen Art, gelebter Cyberpunk und alles durchdringende Matrix des Kapitalismus. Es sei an allem schuld, insbesondere an einer neuen Copy-&-Paste-Kultur.
Seit die ersten Plagiatsvorwürfe gegen Helene Hegemann laut wurden, erreicht eine Feuilletondebatte vielleicht ihren bisherigen Höhepunkt in der alarmierenden Frage: Erleben wir das Ende der Literatur?
Wer oder was auch immer ein Exossöldner ist, ein eben solcher schlägt auf zeit.de eine schnelle und rabiate Lösung zur Beendigung der Copy-&-Paste-Debatte vor: „Schmeißt den Dreck in den Mülleimer.“
Soweit möchte ich nicht gehen, zumal zahlreiche Textprofis, seien es Autoren, Journalisten, Kritiker, Literaturwissenschaftler, zwei Dinge, die so verschieden sind wie … wie unsere weiter oben erwähnten Auberginen und Möhren, mitunter durcheinanderwerfen: Plagiat und Copy & Paste. Warum sollte Copy & Paste nicht ein eigenes Genre in der Literatur darstellen? Ja, zum Beispiel – um weiterhin bei den Solanaceae zu bleiben – man könnte einen Roman über das leben eines Gemüses zusammenrippen, womöglich auf Basis der unerschöpflichen Masse mehr oder weniger epochaler Kochbücher, das zunächst sinnfreie Patchwork mit einem erdichteten und wunderbar dada-mäßigen Handlungsstrang verweben, alles aus der Sicht einer stattlichen … Aubergine! Und das könnte ein Bestseller werden. „Du kannst nicht nur Auberginen in Arschlöcher versenken.“ Danke Frau Hegemann. Avocadokerne tun’s auch, gell Frau Roche.
Halt! Zurück zur Fragestellung: Copy & Paste für die Geschichten der Zukunft? Es geht hier weder um Bürgerschreckliteratur noch um unbewältigte Kindheitstraumata. Obschon Hegemanns Axolotl Roadkill eine literarische Copy-&-Paste-Mentalität in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gebracht hat, geht es in vorliegendem Essay um ein authentisches, im besten Fall kreatives Copy & Paste als Literaturform; so wie der Bastard Pop in der Musik seit Mitte der Neunziger Jahre? It’s time for mix rip n‘ print! Oder gleich rauf auf den eReader, für alle, die partout noch einen Akku pflegen möchten.
Jüngstes Exempel für ein einwandfreies Cut-&-Paste-Meisterwerk, das ein Minimum an öffentlicher Aufmerksamkeit erfahren hat, ist das Buch O.T. der Autorin U.D. Bauer. Es war „das originellste Buch auf der Leipziger Buchmesse dieses Jahres“, schwärmt die Süddeutsche Zeitung. Ein Buch ausgerechnet, das auf Originalität konsequent verzichtet. 2857 Zitate aus der Weltliteratur, sowie Reklametexte und alles mögliche hier und dort Aufgezeichnete füllen die Seiten der bibliophilen ersten Auflage (mit schöner Haptik und einem dicken Quellennachweis). Paradox oder genial: O.T. (Ohne Titel) entwickelt auf gespenstische Weise eine eigene Handlung im Kopf des Lesers.
„Sieht so der virtuos wie originell gefügte Endpunkt der Literatur aus?“, fragt der Verlag, und rudert stante pede zurück: Nein! Stattdessen werde O.T. en passant zum Manifest für die Freiheit und Grenzenlosigkeit der Kunst. Auch von mir kommt ein klares Nein – und hoffentlich ebenso von ein paar weiteren Leseratten und ähnlich exotischem Getier. Nein: manches scheint so unvorstellbar wie ein Gangbang mit Alice Schwarzer.
Die Erfindung des Cut-up ist alles andere als aktuell. Laut Wikipedia kam der Maler und Schriftsteller John Clifford Brian Gysin 1959 durch Zufall der Möglichkeit eines Text-Mashup auf die Spur. Telegrammstil genügt hier: Gysin schneidet Passepartout, zerfranst Unterlage aus Zeitungspapier, sein Freund William S. Burroughs (Beat Generation) sieht das – voilà! – Textcollage. Bitte eventuell noch einmal googeln: nach William S. Burroughs.
Doch bereits in den Zwanziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts experimentierte der vom Dadaismus infizierte Franzose Tristan Tzara auf der Bühne mit Textschnipseln, die er anstelle des gewohnten Kaninchens aus einem Hut hervorzauberte, um aus ihnen spontane Gedichte zu formen. Dadaismus ist keine Krankheit, und so unterhielt Tzara sein Publikum auf das Vortrefflichste.
Caleb Whitefoord führte gar das Cross-Reading im 18. Jahrhundert in die Literatur ein.
Indes reichen Vorstufen der Textcollage, etwa die Cento-Dichtung, tatsächlich bis in die Antike zurück.
Alte und junge Lateiner wissen: Cento bedeutet so viel wie Flickwerk. Den negativen Unterton des Wortes bilde ich mir möglicherweise ein.
Copy & Paste als legitimes mashup verschleiert nicht seine Identität als Textrecycling. Dennoch sei die Frage erlaubt: Was soll das? Ist das wirklich originell?
Genau der Mangel an Originalität könnte eine der dramatischen Schwächen der Patchwork-Literatur sein.
Eine Geschichte per Copy & Paste basteln, das ist wie Musik komponieren ohne das Notensystem zu beherrschen. Das klappt schon, irgendwie, aber das Ergebnis wird zum überwiegenden Teil Wegwerfkultur sein.
Wie heißt es doch so treffend auf der Website der 42er Autoren: „schreiben kann jeder“ (außer geschätzten 7,5 Millionen Menschen in Deutschland) – „aber mag’s jemand lesen?“
Wann wird das Geschriebene überhaupt zu Literatur?
Die aktuelle Literaturwissenschaft fordert für Literatur (im Sinne von Dichtung) Fiktionalität und Entpragmatisierung, wenngleich sie mimetisch sein darf. Je nun.
Haben wir Lust darauf, Texte zu lesen, die uns von einem Textjockey Wordhunter oder einer Tjane Verseripper vor die Augen gesampelt wurden? Ein TJ Mastermind Goethe II. Godfather of mashup wäre richtungsweisend. Übrigens Goethe: der West-östliche Divan besteht aus einem Geflecht an Zitaten.
Georg Büchner übernahm aus den Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin.
Auch Klassiker der Moderne montierten eifrig: Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, alles TJs? Letzterer ein Grandmaster der Collage. Berlin Alexanderplatz … ein mashup?
Für Elfriede Jelinek sind ungekennzeichnete Fremdtexte sogar ein Stilprinzip, obzwar aus „Urekel an allem Schriftlichen“, wie es Peter Kümmel in der Zeit vom 18. Februar 2010 unterstellt.
Der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn betont in seiner unoriginellen Literaturgeschichte, dass Literatur oft über Aneignung und Transformation von Fremdtexten funktioniere. Was heißt oft? Ist das nicht immer so?
Ohne Aristoteles keine Poetik. Ohne belles lettres keine Belletristik. Ohne Gestern kein Heute. Oder anders ausgedrückt: was ich gesehen, gelesen, wozu ich getanzt und was ich getrunken habe, macht mich aus.
All jenen, die Schriftsteller werden möchten, wird häufig von den längst etablierten Kollegen empfohlen, so viel wie möglich zu lesen. Ohne input kein output.
Autoren haben üblicherweise Vorbilder, Idole, einige überdies einen Lehrmeister. Vorbilder üben Einfluss aus und werden einfließen, ob man das zugeben möchte oder nicht.
Gleichwohl: Literatur ist mehr als eine Summe vermanschter Sätze. Literatur ist ein Organismus. Ein unaufhörliches und ausschließliches mashup, also die Re-Kombination der Vergangenheit in Musik, Literatur und bildender Kunst, könnte idealerweise mit der Rückschau während einer Nahtoderfahrung verglichen werden: Die gesamte Literatur (Kunst) wird in ihren wichtigsten Momenten nochmals aufgegriffen (durchlebt – und obendrein bewertet, nämlich von uns, den Teilnehmern an der Debatte über diese Art des Schaffens kultureller Inhalte) – läge also im Sterben? Wenn es eine Nahtoderfahrung ist, haben wir die Chance auf Rückkehr. Zu einer Wortkunst, die ein Kopieren gar nicht nötig hat: Literatur als „Ballungszone des menschlichen Geistes“. Noch einmal Cortázar. „Wir brauchen heute mehr denn je die Che Guevaras der Sprache, die Revolutionäre der Literatur anstatt die Revolutionsliteraten.“
Wenn wir hier nicht vom Sterben reden möchten, dann mindestens von der Dekadenz, in der Bildende Kunst und Literatur sich unzweifelhaft befinden. Der Komponist Karlheinz Stockhausen klagte 1959 in einem Brief an seinen Kollegen Friedrich Goldmann: „Dekadent will doch wohl heißen, dass eine Menschheit keine Courage mehr zur Gegenwart, zum Neuen hat und akademisch, trocken, ganz rückwärts gewandt ist und kulturelle Leichenschau betreibt.“ Wobei wir wieder beim Tod wären. Wir müssten Leichenfledderei sagen.
Rückwärts gewandt: das passt zu Cut & Paste, akademisch: das passt zu unserer Debatte.
In einer überschaubar definierten Literatur als Bereich aller sprachlich fixierten und entpragmatisierten Zeugnisse – also keine Einkaufszettel, Bild, Interviews mit Fußballprofis und andere Katastrophen – hat auch Cut & Paste eine Existenzberechtigung. Wenn jenes selbst fiktional genug ist um entpragmatisiert zu sein.
Trotz Bedenken wegen der Belanglosigkeit einer Mashup-Kultur, die bald ein sich selbst erhaltendes System wäre, sollte eine anspruchsvolle Copy-&-Paste-Literatur, die mehr ist als Wortwichse und die man nicht wegwischen muss, geschrieben ohne Epos aus der Konserve zu werden, profitierend von einer korrekt verstandenen Internet-Kultur, von frechen Kulturschockern und Eigenbrötlern, nach wiederholten Gehversuchen und Kinderkrankheiten, als feste Größe, als Genre innerhalb einer zeitgenössischen und zeitgemäßen Literatur durchaus ihre Existenzberechtigung haben und mit dieser korrelieren – ersetzen wird sie gar nichts. Sie wird nicht zum „zentralen Topos der literarischen Moderne“ werden, wie Peter Kümmel es in der Zeit postuliert.
Literatur aus Literatur, ist das nicht schrecklich trivial und kompliziert zugleich? Verschwinden des Individuums, Roland Barthes‘ Tod des Autors (des autoritären Autors), Echtheit gegen Originalität, Hypertextualität, Blog-Roman, The Appropriation Writer, Shareware und eBooks, Facebook und StudiVZ. Das ganze Leben ist eine Compilation – das Urheberrecht wird abgeschafft – Schriftsteller gibt es nicht mehr – die Welt ist ein Text. Aber, noch einmal die Frage von vorhin: Mag’s jemand lesen?
Und zum Schluss ein eventuell gar nicht so weit hergeholter Vergleich des Schreibens mit dem Fotografieren, dabei ein Zitat des unnachahmlichen Friedrich Dürrenmatt verwendend: „Jeder kann knipsen. Auch ein Automat. Aber nicht jeder kann beobachten. […] Beobachten ist ein elementar dichterischer Vorgang. Auch die Wirklichkeit muss geformt werden, will man sie zum Sprechen bringen.“
Fazit – mit Fragezeichen: ist die Copy-&-Paste–Debatte ein Hype um nichts?
Zu guter Letzt spiele ich mit dem Gedanken an ein Selbstexperiment: mein erstes Montagewerk! Die passenden Quellen habe ich mir schon zurechtgelegt: Ich harz dann mal ab von Robert Naumann, Zug der ungeilen Toten von Henry Schädelbach, Josefine Mutzenbacher von Felix Salten, mutmaßlich, Herzmassaker von Ina Brinkmann, Ficken Geld Drogen Nutten von Mushiflo (ohne c – ohne h auch, am Ende), Über naive und sentimentalistische Dichtung von Friedrich Schiller – und: Der Fall Jane Eyre von Jasper Fforde.
Beginnen werde ich meinen Collage-Roman mit einem Schlüsselsatz des Literaturwissenschaftlers Hans Meyer: Es war alles ganz anders!
Und spätestens wenn im Puff der Reitenden Leichen Hochwürden sich über die Duteln der Mutzenbacherin hermacht, delirierend vom antiken Menschen, der einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit sei, während an der Bar Herr Naumann der Dazzwjyn aus der Unzeit des dreizehnten Strudels – während die schon mal den Hodenbeamer klar macht – von seinen kuriosen Erfahrungen mit der Bundesagentur für Arbeit erzählt, bis der kollektive markerschütternde Schrei der drei Eroberer der Herzen des Bodensatzes der musikhörenden Unterschicht, Scher, Ikko Frisch und Mushiflo von der Parkplatzhecke ins Haus dringt, wo sie soeben den kaputten Patrick dabei überraschten, wie er gelangweilt das sterbende Ding in die Büsche warf, dann … ja dann würde ich gerne noch einmal über den möglichen Unterhaltungswert von Cut-&-Paste-Literatur diskutieren.
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Dieser Essay wurde beim KUNO-Essaypreis 2013 mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Die Begründung findet sich hier.
→ Die Gattung des Essays hält das freie Denken aufrecht, ohne, daß der literarische Anspruch verlorengeht