Mittelachsenlyrik

Es ist sozusagen ein negativer Parnass, den er aufstellt und den er dann auch füllt. Er hat einen großen Entwurf gemacht, der Risse hat, der aber da als ein großartiger Entwurf immer noch steht und immer noch nicht wahrgenommen wird.

Helmut Heißenbüttel

Erstausgabe: Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. 2., Auflage von 1892.

In diesem Jahr jährte sich der 150. Geburtstag von Arno Holz. KUNO läßt daher unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen. Dieser Lyriker ist ein Sprachspieler, der mit der Kraft eines Berserkers den alten Kanon verwarf. Ihm ging es um nichts weniger, als die Er­neue­rung der deutsche Lyrik. Über­kommene For­men, Reim, überhöhte Dichter­sprache, all das wollte Holz durch sein Wirken zum Ver­schwinden bringen und durch eine neue Art zu dichten ersetzen, in freien Versen, schlich­ter Alltagsprache, in Gedich­ten, deren Zeilen nicht mehr links­bündig sondern als Mittelachsenlyrik gedruckt werden sollen. Nichts mehr von Romantisch-Erhabenem, stattdessen Blicke auf Alltägliches, beschrieben in einer Sprache, die zum Beispiel in der Lyrik alles in einen Reim gepresste Preziöse mied und einen gewöhnlichen inneren Rhythmus des Sprechenden hervorkehrte. Sein freier Umgang mit Wörtern zeigte sich oft schon in der Titelwahl: Er klagt, daß der Frühling so kortz blüht nannte er ein von Alban Berg kongenial vertontes Gedicht. Mit  Johannes Schlaf entwickelte er in der programmatischen Schrift Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze die Theorie eines konsequenten Naturalismus, der auf exakte Milieuschilderung unter Einbeziehung umgangssprachlicher Elemente abzielte. Zugleich wollten sie jegliche Subjektivität eliminieren und möglichst wissenschaftlich sein.

Kunst = Natur – x.“

X

Die vorgenannte Gleichung stand für den Autor, der sich gefälligst klein zu machen habe, damit die Formel Kunst = Natur zur Geltung kommen könne. Dies postuliert jemand, der selbst in einem als Autobiographie einer Seele konzipierten, 50.000 Verse langen Lyrikband Phantasus in der Nachfolge Walt Whitmans den hymnischen Gesang seiner selbstanstimmte; zugleich fanden sich in den Gedichten aber auch kritische Bewusstseinsporträts. Dieses Auswuchernde, Verquere und deshalb auch Unbotmäßige seiner Texte hat ihn aber gerade zu einem der „Väter der Moderne“ werden lassen.

Lyrisches Exer­zieren

Der verdienstvolle Lyrik- und Graphikverleger Robert Wohlleben legt im Verlag Reinecke und Voß eine sorgfältig edierte Ausgabe vor. Er scheint, als sei der Herausgeber in der Wahrnehmung der Dichtkunst dem Erfinderin in einem durchaus emphatischen Sinne verwandt. Wir verdanken diesem Fachmann, der uns die Texte noch durch einen knappen Kommentar und ein kenntnisreiches und erhel­lendes Nachwort erschließt, die Gelegen­heit, uns selbst ein Bild davon zu machen, welche Rolle diese Dichter in der Entwicklung der modernen Lyrik spielen.

Aus: Befreite Flügel

Die freien Flügel
wollen sie mir absägen.

Glauben soll ich an ihre Wunder und Dogmen.

Was mein Herz schlägt, ist eitel. Was mein Gewissen schreit, ist Blendwerk.

Nur ihr Knecht sein!

Mit dem Kreuz
segnen sie Mordwaffen.

Der Staat concessioniert sie.

Du Gott von Golgatha!
Liebe war Deine Lehre, Liebe Dein Leben — wo bist Du?

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Wenn wir über die Spielplätze gehn,
und Du die Kinder siehst,
verstummst Du.

Blickst vor Dich hin und lächelst — innig!

Ich verstehe.

Nein!

Raub ihm nicht seine Fühllosigkeit! Laß es ungeboren sein!

Ich sehe nur ein Folterbett
und auf ihm,
mit zerrissenen Gliedern,
unser Kind!

Wohl kaum ein lyrischer Aufbruch wurde so stiefmütterlich behandelt wie der von Arno Holz und seinen Mitstreitern. Einzig er selbst fristet, verkürzt als Naturalist etikettiert, im germanistischen Kanon eine Randexistenz. Der Stil der Dichtergruppe wurde damals sofort von konservativen Geistern als Verirrung abgelehnt. Der Vorwurf wird bis heute ungeprüft tradiert, während sich andererseits ihre Verfahren langsam durchsetzten: Unpathetische Rede ohne metrischen Leierkasten ist heute fast Standard. Die durch Einfügung von Dingen aus entlegenen Kontexten und überraschende Metaphern erzielte Verfremdung zählt heute als surrealistischer Effekt ebenso zum Grundbestand dichterischer Verfahren wie der Umgang mit hyperbolischen und metonymischen Figuren, Bewusstseinsstrom, pointierte Raffung und profanisierter Symbolismus. Die Entstehungsweise der Texte im Gruppengespräch, in scharfem Gegensatz zur damaligen Verklärung des einsamen Dichtergenies, mutet uns seltsam vertraut an. Auch die weniger bekannten Vertreter sprechen teils mit einer Eigensinnigkeit und gediegenen Sorgfalt, die ihre Texte frischer aussehen lässt, als nach der Entstehung im piefigen Wilhelminismus zu vermuten. Diese Dichter sind aber mehr als nur Vorläufer der Heutigen. Insbesondere auch der Radikalität wegen, mit der sie den Wert eines Gedichts von der Gewichtigkeit seines Sujets schieden und einzig an die Prägnanz der sprachlichen Umsetzung banden. Selbst heute eine durchaus nicht immer eingelöste Utopie.
Es ist Zeit, diese auch politisch wachen Geister endlich zu lesen.

Rolf Wolfgang Martens

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Gedichte von Paul Victor Pan, 4. Jg., 1. H., 1898, S. 7 f.

I

Vor meinen Augen wächst ein Baum,
ein schwarzer Baum,
ein Totenbaum.

In meinen Ohren gellt ein Schrei —

Sternschnuppen sinken,

in meinen Nächten fliegt
der Totenvogel

dreimal um mein Haupt,
dreimal um meinen First,
dreimal um meinen Himmel.

II

Ich lag im Sarg,
ich war gestorben.

Ein Lügenprediger
hielt eine Leichenrede
und lobte mich.

Da sprang ich auf
und trat im weißen Leilach
vor ihn
zwischen Lorbeer und Blumen.

Ich sprach:

Mich sehrte Sehnsucht nach dem Höchsten
Mich quälte Qual des Nie-Vollbringens
Mich kreuzigte mein Selbstgericht.

Die Lyrikkonzeption von Arno Holz und seiner »Schule« bedeutet einen frühen Ansatz zur literarischen Methode des »stream of consciousness«. 1888 hatte in Frankreich Édouard Dujardin in seinem Roman Les lauriers sont coupés erstmals mit Bewußtseinsstrom als Algorithmus zur Texterzeugung experimentiert. 1901 erschien Arthur Schnitzlers Bewußtseinsstrom-Novelle Leutnant Gustl. Ein wichtiger Strang der Literatur des 20. Jahrhunderts – vertreten z. B. durch Alfred Döblin, James Joyce, Marcel Proust, Virginia Woolf, Arno Schmidt – kündigt sich auch in diesen frühen Versuchen der Holz-Schule an. Die Lyrik der Arno-Holz-Schule ist in labormäßiger Werkstattarbeit entstanden. Das war modellhafter Versuch, Produktionsweisen des Industriezeitalters in die literarische Produktion einzuführen. An der Schwelle zur literarischen Moderne krempelte die Gruppe einfach um, was es an gefestigten Vorverständnissen gab von subjektgebundener Inspiration und vom „stillen Kämmerlein“ als Ort des Schöpfungsaktes.

Robert Wohlleben

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Antreten zum Dichten!, Lyriker um Arno Holz
Rolf Wolfgang Martens | Reinhard Piper | Robert Ress | Georg Stolzenberg | Paul Victor
Mit Nachwort herausgegeben von Robert Wohlleben
Arno Holz zum 150. Geburtstag, Leipzig: Reinecke & Voß 2013