O Du geliebtes Bayreuth, in das ich wie in einen Himmel fuhr.
Wer Jean Paul (1763 – 1825), diesen ketzerisch-romantischen Überflieger für die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert „verständlich“ machen will, der sollte in der, wie stets im Lilienfeld Verlag anschaulich gestalteten Publikation mit dem als Nachwort abgedruckten Beitrag von Ulrich Holbein beginnen. Er titelt seinen provokanten Beitrag „Warum sein schleichend Volk noch immer nicht hinterherhumpelt“, in dem er den Kulturbeflissenen attestiert, sie würden, wenn man Ihnen etwas über Jean Paul erzählen möchte, irritiert zurückfragen: „Sartre?“ Woran liege es, dass der Störfaktor Jean Paul sich nicht in der deutschen Bildungspalette angesiedelt habe? Lag es etwa daran, wie Holbein provokant vermutet, dass sich weder die Klassiker noch die Romantiker über Milliardenlöcher, Welthunger oder Rettungsschirme geäußert hätten? Schlimmer noch: wenn die Literaten des 18. Jahrhunderts sich schon mit Multimedia, Dschungelcamps und SMS herumgeschlagen hätten, dann würden wir sie im 21. Jahrhundert kaum noch lesen. Gibt es, so Holbein weiter, vielleicht auch bildungsimmanente Gründe, die es verhindern, dass wir bei der Nennung: Jean Paul in Jubelrufe ausbrechen. Das Hauslehrersystem des späten 18. Jahrhundert sei zu allgemeiner Schulpflicht und damit zu Kaisertreue und Kadavergehorsam mutiert. Die allseitige Persönlichkeitsentfaltung sei in industrielles Fachidiotentum gemündet und die klassischen Satzperioden hätten dem Altmeister den Garaus gebracht. Man würde ihre Texte als verkopft empfinden und „ihre Sätze als zu lang und verschachtelt.“ (S. 297) Dass man überhaupt noch um die Romantiker kreise und sie da und dort immer noch verständlich finde, liege daran, dass sich „auch in Kunst und Kultur Betonblocks und Behindertenparkplätze …ausbreiten und seitdem Altstädte und Gemälde mit unverschandelten Landschaften noch zehnmal romantischer als zuvor“ wirkten.
Wie auch immer diese überraschenden Bewertungsmaßstäbe zustande kommen, ehemalige Antipoden wie Paul und Goethe seien zu Bundesbrüdern zusammengeschmolzen und eins geworden in ihrem rücksichtslosen Gebrauch von Fremdwörtern und irreparabel fortschreitender Schwerverständlichkeit. Gibt es noch eine Möglichkeit sie zu retten, bevor sie ultimativ als Moorleichen noch einmal aufleuchten und dann verschwinden?
Harter Tobak! Doch wenn ein Ketzer über die „Ungerechtigkeiten“ in der Rezeption seines Lieblingsautors Jean Paul, nicht Sartre (!), schreibt, dann geht es vegetarisch und geisteswissenschaftlich zu. Zuerst der Blick ins Treibhaus der deutschen Literaturgeschichte: „Paradox changiert Jean Paul zwischen Fisch und Fleisch und Pilz, ein in summa sehr janus- oder hydraköpfiger Mutant, stabiler gebaut als die leichtverderblichen frühromantischen Treibhaussämlinge, aber wieder nicht ganz so kaputtbar wie der erschröcklich langlebige Dichterfürst Goethe.“ (S. 300). Und dann fällt der philosophisch geschulte Blick auf die zeitgenössischen Geistesgrößen: „Jean Paul schaute sogar, wie Lichtenberg, den Denkkorsetten und spezifischen Defekten damaliger Systemphilosophen aufs ungenügende Haupt.“ (301). Und über die kognitive Begrenztheit der Philosophen hinaus konnte das Genie aus Wunsiedel noch viel mehr: „Er versuchte sich über das Erheben zu erheben, üblichen Transzendenztendenzen ein Schnippchen zu schlagen.“ Und dennoch blieb er, so Holbein, „im brodelnden Haifischbecken der Weltliteratur … ein Clownsfisch.“ Denn humorlose Instanzen hätten ihn zum größten Humoristen der Deutschen gekürt, eine Zuschreibung, die falsch sei. Welche Merkmale aber könnten seine Rezeption befördern? Sein exorbitanter Wortschatz, der weit über dem der anerkannten Vertreter der Weltliteratur liegt? Wohl kaum. Seine anspruchsvollen Romane, die den Leser nach vollzogener Lektüre nach einer gleichwertigen literarischen Speise lechzten? Eine Behauptung, die aufgrund der fehlenden linearen Erzählweise von Paul kaum nachvollziehbar ist. Bleibt also das Fazit: „Leider muß ernstlich damit gerechnet werden, dass Jean Pauls göttliche Unlesbarkeit … noch weiter ansteigt.“ (305)
Und Rolf Simon, Mitherausgeber der Jahrbücher der Jean-Paul-Gesellschaft? Sein „Vortrab“ setzt mit einer Beschreibung der Figuren in Jean- Pauls Roman „Die unsichtbare Loge“ ein, ohne allerdings dem Leser vermitteln zu können, ob dies denn eine komische Geschichte sei. Er kommt zu dem vorläufigen Ergebnis, dass diesen Autor lesen zu können, eine besondere Kunst sei. Um diese Kunst zu vermitteln, gibt er eine Reihe von Hinweisen und Empfehlungen. Am Ende des 18. Jahrhunderts seien seine Romane sogar „für eine gewisse Zeit Bestseller“ gewesen. Da gab es „Anthologien mit seinen schönsten empfindsamen Stellen“ (S. 11). Und dann diese Fülle an skurrilen Figuren, Wutz, Fixlein, Fibel. Mehr noch: die vielfachen Stilmöglichkeiten. Doch wie dies in einer Anthologie umsetzen? Nach Ansicht von Simon in einer „Art von Überredungskunst: Man lese jetzt, um dann noch mehr zu lesen.“ (S. 12) Und diese Überredung sei in der vorliegenden Anthologie umgesetzt. Denn der humoristische Paul stehe hier im Zentrum. Und die Beispiele? „Extrablättchen: Sind die Weiber Päpstinnen?“ wie auch „Leben nach dem Scheintod“ (Beide aus: „Die unsichtbare Loge“, 1793). Dort gehe es um die Verdoppelung des Selbstbewusstseins oder ob man von einer Hypnose satt werden könne. Doch auch hier wieder die Einschränkung des Herausgebers: „Es sind dies alles nur im oberflächlichen Sinne Witze.“ Also geht es um tiefgründige Witze, um eine Art von Lebenskunst, wie sie Jean Paul in „Flegeljahre“ (1804/05) an den Figuren Walt und Vult entwickelt hat? Vielleicht ist es auch diese lebensweltliche Mischung aus Schlauigkeit und ein wenig Blödheit, wie sie der Apotheker Nikolaus in „Der Komet“ entwickelt. Er erzeugt künstliche Diamanten und kauft sich einen Hofstaat, bleibt aber ein „Fall für fürsorgliche Betreuung“. Auf jeden Fall ziemlich sophisticated. Und die Sache mit der fehlenden Linearität des Erzählens, wie sie auch die gängige Jean-Paul-Forschung behauptet? Simon setzt mit dem Blick auf diese Anthologie dagegen: „Jean Paul ist ein Meister der literarischen Szene ebenso wie der erzählerischen Durchführung. Allerdings: Sein narrativer Atem hält vielleicht fünf bis sechs Seiten durch, dann ist ein Wechsel der Register notwendig.“ (S. 20) Eine solche Passage habe ich in „Letzte Fahrt“ (S. 173ff.) entdeckt, eine skurrile Reise durch die Innenwelt einer Schweizer Außenwelt. Doch fesselt eine solche kurze Passage aus „Komischer Anhang aus dem Titan“ die arg strapazierte narrative Geduld des Lesers? Ein Vorschlag zur Güte: Wie wäre es mit einer Hinführung auf das narrative Werk? Zwei oder drei exemplarische Texte, die mit Hinweisen auf die Textstrategien des Autors und Verweisen auf die Rezeptionsschübe ausgestattet sind. Eine Art von Propädeutikum also für Leser mit humoristischen Neigungen und narrativer Geduld. Und wie wäre es mit Hörbüchern, die in der Zwischenzeit ein stattliches Angebot an Titeln bereithalten („Dr. Katzenbergers Badereise“, „Literatur(ver)führer“, „Hesperus“, „Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz“)? Auf jeden Fall ein verlockendes Angebot, das ergänzend zu der so liebevoll zusammengestellten Anthologie „Weltall im Krähwinkel“ dem Jean-Paul-Leser viele Anregungen geben könnte!
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Weltall im Krähwinkel. Ein Jean-Paul-Lesebuch. Herausgegeben von Ulrich Holbein und Ralf Simon. Düsseldorf (Lilienfeld Verlag) 2013
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