Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man hat, und wenn es krumm und knorrig wäre.
Theodor Storm
Das Holz, aus dem Francisca Ricinski ihr Leben formt, ist aus Sprache, aus Wörtern gemacht. Die Lebenslinien dieses Holzes sind in Rumänien und in Deutschland gewachsen. Linien ganz unterschiedlicher Dichte und Breite, die für ein wechselvolles Dasein und die Wucht der Erfahrung stehen, die Mutter(brust)sprache etwa vier Jahrzehnte nach der Geburt als Zentrum verloren zu haben, um die zweite Hälfte des Lebens in einem fremden Sprach- und Kulturraum zu verbringen.
Der Verlust der Heimat, besonders jener der Kinder- und Jugendjahre, ist immer eine Erschütterung. Wieviel irritierender und schmerzhafter muss sich der Verlust aber noch anfühlen, wenn mit der Heimat auch die Sprache abhanden kommt, besonders dann, wenn sie nicht nur der zwischenmenschlichen Kommunikation oder der Zeitungslektüre dient. Wer auf intellektueller und künstlerischer Ebene so tief in Buchstaben, Wörtern und Sätzen wurzelt wie Francisca Ricinski, verliert viel mehr. 1980 nach Deutschland verpflanzt, ist sie am Ufer des Mittelrheins zwar angewachsen und heimisch geworden, im Inneren aber gleichzeitig doch fremd und unruhig geblieben in dem Bewusstsein, dass ihre Existenz seitdem ohne scharfe Konturen zwischen Her- und Ankunft verschwimmt. Ein Leben, das von politischen und persönlichen Miseren geprägt wurde, die sie dazu zwangen, immer wieder zu improvisieren, statt auf einem soliden Fundament ihre Lebensphasen zu planen und aufeinander aufzubauen. Ein Leben auch, in dem die Wörter, selbst die deutschen, weitaus mehr Bleibe waren und sie davor bewahrten eine Niemandsnomadin zu sein, als der Ort, an dem sie, zufällig oder schicksalhaft, die Wirklichkeit lebte.
In den Texten und Erzählcollagen dieses Buches ist viel von alledem spürbar. Francisca Ricinski setzt ihre Prosa aus den Stummfilmen ihrer Erinnerungen und einem überschäumenden Imaginationsvermögen zusammen. Sie schafft surrealistische Welten, in denen sie Fiktion und Erfahrung in betörenden und verstörenden Farben übereinander schichtet. Ihre Arbeiten kreisen um Identität, um Grenzen, auch denen des eigenen Körpers. Sie destilliert sie aus dem Widerhall ihres Lebens, ohne sich zur Mitte ihrer Texte zu machen. Persönliche Erfahrungen, Sichtweisen und Erlebnisse sind lediglich die Grundierung, die sie mit ihren Stücken übermalt, in denen sie abgerissene Fäden mit neuen verknüpft und dadurch andeutet, dass alles miteinander verbunden ist, voneinander abhängt oder aufeinander Bezug nimmt.
Melancholisch erzählt sie von Verlorenheit, Trauer, Verlust. Verlust als dem wohl treuesten Begleiter des Menschen und der verlässlichsten Konstante der Existenz, in der die Rückschau mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Aufgeladen mit dem Leben der Gesterntage, wird die Zahl der Morgentage kleiner und kleiner. Man reflektiert, zieht Bilanz, stellt sich Fragen, auf die es keine Antworten gibt, weil es ist, wie es ist. Niemand weiß, ob die Philosophie des Zufalls an einer der vielen Gabelungen (auch denen der Eltern und Großeltern) auf einem anderen Weg vielleicht zu dem Leben geführt hätte, das den eigenen Vorstellungen mehr entsprechen würde. Das Dasein ist, nach Francisca Ricinski, eine Bühne, die schräg in die Erde rutscht.
Die Autorin schafft komplexe, bisweilen rätselhafte Texte, in denen Erdachtes, Erlebtes und Erlesenes symbiotisch ineinandergreifen. Texte, die Geschichte haben und sich entwickeln, ohne strengen Handlungsströmen zu folgen. Ricinskis Prosa ist hochprozentig. Lässt man sie in sich aufgehen, kann es geschehen, dass man sich in Sätzen wie Dieser Körper ist mein Land, und die Stirn mein Himmelsgewölbe, diese winzige, unausgeschlafene Welt bin ich oder Warum wäscht dich der Regen nicht auch von innen, mein Kopf? plötzlich wiedererkennt und dabei feststellt, dass Ricinskis Fragen oft auch die eigenen Fragen sind, auf die man Antworten oder wenigstens einen Standpunkt sucht, von dem aus man sein Da- und Sosein betrachten und reflektieren kann.
Francisca Ricinski mag ihren Lebensweg als krumm und knorrig empfinden, aber er hat sie zu einer bemerkenswerten Sprachkünstlerin gemacht. Gerade Schriftsteller mit ungeradem, verwachsenem, widerspenstigem und bedrohtem Weg haben etwas zu sagen, das über Geschichten weit hinausgeht. Sie sind Geschichte. Sie wissen um die die Zerbrechlichkeit des Seins, um das winzige Rückgrat des Friedens. Francisca Ricinski ist eine von ihnen. Wörter klopfen ihr so lange von innen gegen die Schläfen, bis sie frei- und auf Papier kommen dürfen. Sie gibt ihnen in ihren Texten eine Bleibe. Mehr lässt sich nicht retten.
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Nachwort aus: Als käme noch jemand. Lyrische Prosa und Erzählcollagen von Francisca Ricinski, 168 Seiten, Pop Verlag, Ludwigsburg 2013. 15,50 EUR, ISBN 978-3-86356-074-4