Mais Degas ce n’est pas avec des idées qu’on fait des vers c’est avec des mots
Stéphane Mallarmé
Fahl das Licht
im Raum der frühen Morgenstunde, das dennoch, vermein ich, den einen, andren Sonnenstrahl verspricht. Zum wiederholten Mal seit dem Vortag auf die zentral vor mir liegende, sich schmal übers Blatt ziehende ›Walbenachrichtigung‹ blickend, denke ich, unvermittelt, zum abertausendsten Mal, wie alles mit allem zusammenhängt: zahllos die unsichtbaren geheimnisvollen Fäden in dem Gewebe der Menschenwelt, die ich überall und so auch in Hermann Kurz’ Das freye Wort vorfinde und die all die ›Dinge‹ aus Natur und Kultur verflechten, verknoten, verknüpfen, die ich (Demokrits Zuruf im Ohr, nichts existiere als die Atome und der leere Raum; alles übrige sei Meinung), in ihrer Gesamtheit, mal gedankenlos, mal ›gut‹ gemeint, ›Leben‹ nenne. So sehe ich die ›Dinge‹, gleichsam, im unheimlichen Gral verschmelzen. (Der Vorstellung, die im Original wohl auf Heraklit zurückgeht – auf gut deutsch: Es hängt alles mit allem zusammen – steht, beispielsweise, Ezra Pounds Diktum I cannot make it cohere diametral gegenüber.)
Die Gedanken.
Die Wörter. Das Wort. Schwirre! schwirre! Wahllos schlage ich eine Seite im hinteren Teil des Buches mit den gesammelten Gedichten von Walter Helmut Fritz auf: Was führt uns fort, weiter, auch in die Irre? / Hans Erich Nossack fragte so. / Und blieb klaglos. / Das Wort kam ihm schwer von den Lippen. / Galasätze hat er gehaßt, / die Leere zwischen den Dingen gefürchtet. (Wenige Verse, und schon umklungen von durchsichtiger Diktion, ruhigem Rhythmus, klarem Klang, die das ausmachen, was ich (in Anlehnung an Peter Hacks’ »Sarah-Sound« – gemeint ist Sarah Kirsch) hier einmal salopp ›Fritz-Sound‹ nenne.) »Der Grat ist schmal«, argwöhnt während des mitternächtlichen Telefongesprächs Bernhard Bensch, langjähriger Gesprächspartner in Sachen Lyrik (Er las Gedichte. Es gab eine Gedichtzeit. Gedichte, Welle um Welle. Das Gedicht, das dem anderen folgt. Bewegung, in der alles je Geliebte zum Widerschein wird), als ich den Totalkahlschlag beim Kampf um Brasiliens letzte Wälder in den Ring werfe. —
Zwischen /
den Zeilen / steht nichts / geschrieben. // Jedes Wort / ist schwarz / auf weiß / nachprüfbar. Neben einer Reihe weiterer Assoziationen dominiert vorderhand der Gedanke an Rolf Dieter Brinkmanns (aus gerade mal dreizehn Wörtern gemachtes, unmißverständlich apodiktisch formuliertes) lakonisches Gedicht die Bilder, Empfindungen und Reflexionen, die sich am Vortag unmittelbar nach dem ersten Wiederlesen des Gedichts Der Wal scharenweise einstellen. Bestätigt nicht auch Der Wal, frage ich mich, wie nahezu jedes Gedicht gerade aus der Feder von Walter Helmut Fritz, den einfachen, klaren – trotzdem, naturgemäß, Widerspruch hervorrufen wollenden – Brinkmannschen Gedanken, zwischen den Versen stehe nichts geschrieben, jedes Wort sei schwarz auf weiß nachprüfbar, das Gedicht spreche, folglich, mit den jeweils gewählten konkreten Wörtern für sich, bedürfe keiner weiteren auslegenden, erläuternden, lehrhaften Worte? Lies mich, lies mich, hör ich’s rufen, nicht: Analysier mich, interpretier mich, nein: Lies mich – und zwar so oft du magst:
Der Wal Dieser graue, schwarze, glänzende Kessel mit seinem Dampfstrahl, welches Experiment des Lebens, sagst du, diese Walze, dieser Felsen in Bewegung und dann dieser Tanz, den er mit andern zusammen aufführt, ehe er wieder wandert, mit seinen Augen – blau – von Email, seinem Gehirn, größer als das aller anderen Wesen, seinem Gesang, ohne Stimmband, seinem Lachen, seinem Gebrüll. Du kennst seine Arglosigkeit gegenüber den Menschen, die ihn besinnungslos jagen. Dem Wasser verdankt er alles. Diese Hinfälligkeit, wenn er strandet und erstickt, weil seine Kräfte nicht reichen, den Brustkorb zu dehnen.Zumal
in diesen verdichteten Parlandosequenzen, leichte Sprach für schweren Stoff, lauter Wörter aus dem alltäglichen Leben vorzufinden sind, die jeder deutsch sprechende Mensch, naturgemäß, kennt: Nomen wie Augen, Brustkorb, Experiment, Felsen, Gesang, Kessel, Leben, Mensch, Wal, Wasser, (Farb-)Adjektive wie blau, grau, glänzend, schwarz, Verben wie dehnen, ersticken, jagen, kennen, sagen, stranden, verdanken, wandern. Hinzu kommt die – gleichsam im Direktmitschnitt per protokollarischem Notat vermittelte – Banalsituation mit zwei Menschen, mutmaßlich Frau und Mann, im leicht zu erfassenden Gespräch über den Zusammenprall von Natur und (Un?)-Kultur (hier zu verstehen in dem Sinne, daß der Mensch sich gegenüber der natürlichen Umwelt vielen Herausforderungen und Gefahren gegenübergestellt sieht und wie jedes Lebewesen darauf angewiesen ist, seine biologisch-physiologischen Bedürfnisse aus seiner natürlichen Umwelt heraus zu befriedigen. Kultur kann als Reaktion auf diese wechselnden Herausforderungen aufgefasst werden, wie ich am 22. September 2013 in Wikipedia lese) mit einem allerdings spektakulären Bild vor Augen (phänomenal die – im kollokativen Verbund mit Email noch einprägsamere – Metapher des gigantischen Kessels), eindringlich dargestellt durch das zeilengebrochene Asyndeton dieser graue, schwarze, / glänzende Kessel sowie der im unmittelbaren Anschluß an die, ([…] diese Walze / dieser Felsen / dieser Tanz […] seinem Gesang / seinem Lachen / seinem Gebrüll) anaphorisch gestaltete, herrliche Vorstellung mit dem hochvital wirkenden Wal assoziierten trauervollen Erscheinung des gestrandeten, mithin sterbenden Wals.
Hat also,
wer den Wal hat, die Qual, frage ich, und der eine reine Reim des, wie zumeist bei Fritz, freimetrisch strukturierten Gedichts springt ins Aug: Wal / Strahl (bzw. Dampfstrahl), als ein anderes, ganz anderes Gedicht spontan, unwillkürlich mir in den Sinn kommt, Paul Celans Todesfuge, in dem ebenfalls ein reiner Reim bloß zu finden ist: blau / genau. Merkwürdig, denke ich, daß ausgerechnet das Farbadjektiv blau im Wal-Gedicht hervorgehoben wird: Das ist jedenfalls, ohne wenn und aber, schwarz auf weiß nachprüfbar (im elften von dreiundzwanzig Versen).
Den Gedichten
von Walter Helmut Fritz, Lakoniker (schlichter Verdichter / komplexer Hexer), wird generell gern ›Reimlosigkeit‹ unterstellt: Diese Behauptung wird nicht nur in diesem Gedicht widerlegt. (In den im ersten Absatz dieses Essays zitierten Versen aus Was führt uns fort finden sich in den Auftaktversen gleich drei: fort / Wort – – – frag- / klag – – – schwer / er / Leer-.) Keinen oder einen Reim zu verwenden, das ist gerade so ein Unterschied wie ›Tag‹ und ›Nacht‹. Der eine reine Reim (funktional in den Gedichtkontext eingebetteter, somit auch im strengen Loerkeschen Sinn nicht bei den Haaren herbeigezogener, sondern ›eigentlicher‹, echter, natürlicher Reim: Wladimir Majakowski hat bekanntermaßen mehr als 20 unterschiedliche Reimarten beschrieben; Walter Helmut Fritz bedient sich ihrer (nicht aller) auf subtile, spielerische, kaum auffällige, auch ironische Weise. Hier reimen sich der Augenblick und die Sehnsucht, lautet, beispielsweise, der Titel eines Gedichts, und in Wo findest du deine Sätze heißt es: zwischen den Reimen, / die es auch in der Architektur gibt), der eine reine Reim also ragt aus dem zunächst – dem riesengroßen Tier zum Trotz auf den ersten Blick eher unauffällig wirkenden – Gedicht heraus wie der Dampfstrahl, den der Wal in die Welt hinausposaunt: zwei Wörter, dank des sensiblen Mediators Fritz gleichsam beiläufig zum Paar zusammenfindend, im Reim einander zufallend. ›Dampfstrahl‹ – was für ein kraftvoll komponiertes, der Welt der Technik entlehntes Wort, das jäh Brutalbilder von Captain Ahab und dem weißen ›Kampfwal‹ Moby Dick aus der Erinnerung hervorzerrt –.)
Ausschließlich
im Titel taucht das Wort Wal auf: was für ein Bild, kolossal, monumental, von drei Buchstaben bloß hervorgerufen. So setzt das Gedicht geradewegs, unvermittelt, eindrucksvoll ein, und das sich – als Assonanz und reiner Reim – klanglich doppelt auf Wal beziehende Kompositum Dampfstrahl wird zum bekräftigenden, dynamischen Resonanzkörper innerhalb der Verse – wie die Metapher Walze, in der der Wal nicht bloß sichtbar wird, sondern ebenfalls deutlich nachklingt.
Notabene:
Daß das Sprachspiel mit Wal und Walze kein Zufall im landläufigen Sinn, sondern ebenfalls Zufall in bester altgriechischer Tradition ist, zeigt die Analogie mit dem Vokalreimpaar Ekstase / Katze in einem anderen, ebenfalls um ein Tier sich drehenden Gedicht von Walter Helmut Fritz: Die Katze // In der Ekstase ihrer Reglosigkeit / lauschte sie in den über / und über erblühten, / atmenden, summenden Garten, / sein aus vielen Spiegeln / bestehendes, glänzendes Blattwerk, / in dessen geringer Bewegung / sich die Beute verbarg. / Mit einem Hieb wies sie deine Hand / zurück und drehte dir schweigend / den Rücken zu. Hier verbirgt sich die ›Katze‹ in der ›Ekstase‹, die als Anagramm von ›Katze‹ buchstabiert werden kann: katssee.
Wie oft höre und lese ich das Wort ›Ekstase‹, gleichzeitig denkend, nun mal halblang, alles nicht so wild, und ›ekstatisch‹ ist das alles schon gar nicht. Ganz anders beim Untertreibungskünstler Fritz (gleichsam literarischer Antipode des Hyperbolartisten Thomas Bernhard): Die Ekstase der Reglosigkeit ist keine forsche Behauptung, sondern haargenau bedachte antinomische Setzung. Hier fließen fernöstliche Weisheit und Erfahrung in eine banale Alltagssituation in Germania, die mich dennoch fesselt, fesselt wegen der Wörter und Bilder, ich erlebe den atmenden, den summenden Garten, das glänzende Blattwerk, verspüre den Hieb (der erbarmungslos zerstört, was scheinbar bloß locus amoenus war). Schließlich die barbarische Degradierung eines Lebewesens zu Beute: In den Augen der Katze (auch der nachbarlichen, die eben wieder, zum Glück vergeblich, hier bei uns im Garten auf Vogeljagd ging) ist das bloß noch Beute, schon nicht mehr atmende Kreatur. Hier wird eine allzuvertraute, flüchtige, lautlose Begebenheit im Garten mit einfachen, sparsam eingesetzten formalen, rhetorischen, sprachlichen Mitteln (beispielsweise durchweg geläufigen Wörtern) in einen geradezu unerhörten, äußerst spannend wirkenden Vorfall verwandelt. Das lyrische Ich, ganz am Ende besonders deutlich in die Statistenrolle verwiesen, protokolliert präzise, Hauptdarsteller ist die Katze, alles nicht der Rede wert, aber wohl wert, ein klingendes Gedicht zu machen, das in sich geschlossen wirkt wie das Erlebnis, das es beschreibt oder besser: Sie waren auf der Suche nach den Bildern, in die sie eintreten konnten und in denen sie selbst an Deutlichkeit gewinnen würden. In Nicholas Christophers Roman Franklin Flyer lese ich: Our sole mission should be to eternalize the things of this world. Take them in and transform their substance into spirit. That is how we become spirit. —
Im Gedicht an sich
geht es vorderhand nicht um ›Faktum‹, ›Gegebenheit‹, ›Sachlage‹, ›Skandal‹, ›Tatbestand‹, ›Unglück‹, ›Realität‹ (die Artikel, Reportage, Zeitungsbericht usw. vorbehalten sind): Im Gedicht geht es in erster Linie um Klang, um Rhythmus, um Sprache, um Sound – und insbesondere ums doppelte Böden zimmernde, mehrdimensional schwingende Wort, das Vers für Vers gegen den Strich gebürstet sein will. Dieser Lyriklogik folgend, sind ›Wal‹, ›Walze‹, ›Katze‹, ›Ekstase‹ ausgesuchte Wörter, die nichts anderem als dem jeweiligen Gedicht dienen und, in Versen kombiniert, den poetischen, allegorisch, parabolisch, sinnbildlich aufgeladenen Mehrwert erlangen – phänomenal, wie die so eingesetzten Wörter im spezifischen Kontext der Gedichtwirklichkeit von einem Augenblick zum nächsten eigenständig, frisch, neu, unverfälscht klingen, eigens gemacht für diesen besonderen Moment im Gedicht, in dem sie zu Kieselwesen aufblühen (wovon sie im journalistischen Artikel zum Beispiel bloß träumen können), oder, lapidar, mit Fritz gesprochen: Sie bekamen die Zuverlässigkeit von Steinen. – Wenn ich das weiterdenke, gerate ich in die Nähe dessen, was das ›Geheimnis‹ – drum kaum Erklärbare – des Gedichtschöpfens in einer typischen Tonart ausmacht – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen (Paul Celan) –, von der wir im vorliegenden Fall sagen: Das ist der lakonische, fortlaufend Nägel auf Köpfe treffende Ton des Walter Helmut Fritz. —
Und weiter erregen Wörter Aufmerksamkeit:
Vom Experiment des Lebens ist die Rede (aufschlußreich erscheint auch der unmittelbare Nachsatz, der nicht bloß den dialogisch-kommunikativen Charakter des Gedichts verstärkt, auf diese so einfache Weise den Leser unmittelbar ins gleichsam filmisch vorgeführte Geschehen hineinziehend: welches Experiment des Lebens, / sagst du, […]; dem Ich wird unmittelbar das Du beigesellt, auch dies wohl ›Zufall‹ im besten Sinne, Walter Helmut Fritz kennt seinen Martin Buber, der, beispielsweise, im Prosagedicht Porträtaufnahmen auftaucht: Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden […] Ich sein und Ich sprechen sind eins) – und wie beschwingt diese Wendung daherkommt, verliert ›Experiment‹ auch für den auf dieses Wort eher besorgt reagierenden Menschen nicht nur jeden Schrecken (der abschätzig gemeinte Slogan »Keine Experimente!« wurde im bundesdeutschen Wahlkampfsaal von 1957 als bis heute nicht vergessenes Drohwort eingesetzt – und während des Kampfs um die Mandate zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 verwendete ein Kandidat der Piratenpartei den Slogan, ironisierend, für seine Wahlplakate), sondern gewinnt eine Bedeutung, die das Dichter und Wal zum Glück nicht klangsangsprachlos machende ›Wunder‹ des Daseins – Gesang, ohne Stimmband – vermittelt, und diese Botschaft wird mit dem gleichsam ins Hymnische gesteigerten Ton der ohne Punkt dahinfließenden Verse ausdrücklich verstärkt: welches Experiment des Lebens, / sagst du, diese Walze, / dieser Felsen in Bewegung / und dann dieser Tanz, / den er mit andern zusammen / aufführt, ehe er wieder wandert, / mit seinen Augen / – blau – von Email, / seinem Gehirn, größer / als das aller anderen Wesen, / seinem Gesang, ohne Stimmband, / seinem Lachen, seinem Gebrüll. Auch das onomatopoetische Gebrüll (ansonsten oft pejorativ konnotiert) erlebe ich – vor allem im Zusammenhang der alliterativ zueinander findenden Wörter Gehirn, größer und Gesang sowie der unmittelbaren Nachbarschaft zum Lachen – als beseeltes Jubel- und Triumphgeschrei, dessen Urheber, der Wal, offenbar (auf gleichsam ›naive‹ Weise, wie es dem Tier, im Gegensatz zur oft ›sentimentalischen‹ Menschenart nun einmal eignet) begeistert ist von Wasser, Wellen, Welt.
(Selbstredend ist der Tonalcharakter der Gedichte von Walter Helmut Fritz in keiner Weise ›hymnisch‹ oder ›elegisch‹ (Einstein sprach: Ob grad, ob schief – es ist doch alles relativ); es sind dies entsprechend der Atmosphäre / Lage / Situation / Thematik genutzte zarte Anklänge an diese lyrischen Tonarten innerhalb eines lakonischen Tons, dessen Grundelemente von aussparender, genügsamer, prunkloser, ungekünstelter, unauffälliger Art, kurz: formal frugal sind. Daß es hinter den Kulissen dieser zunächst oft – scheinbar – so unauffälligen, sparsam mit Wörtern umgehenden Wendungen immer wieder knallhart zugeht (Christoph Meckel fragt in der 1981 erschienenen Nachricht für Baratynski: Was soll ein Vers, der keine Zumutung ist?) und wiederkehrend ›Ungeheures‹ losbricht, scheint im Zusammenhang der durch und durch lyrischen Struktur der Texte, mit der wir es bei Fritz zu tun haben, zu erwähnen nahezu müßig, denke ich, und der Blick fällt beim Umwenden der wievielten Seite des Buches auf ein Gedicht, in dem ich die Wörter Nach diesen Massakern / sei das Land reich an Toten lese. Das ist ›Zynismus‹ in bester Tradition, den der feinfühlige Ironiker Fritz, der den lyrischen Mehrwert der Wörter zwischen den Fingerbeeren von Daumen und Zeigefinger erspürt, von den Kynikern gelernt hat.)
Fatal:
Mit dem ersten Punkt – hinter dem ambivalent oszillierenden Gebrüll – kippt das vordergründig vorwiegend im Matter-of-Fact-Stil verfaßte Gedicht (abrupt wie klammheimlich, radikal wie nebenher gesprochen) ins Nachdenkliche, fast Elegische (hier kommt, noch zweimal, Heraklit ins Spiel: ταὐτὸ ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα: Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um, heißt es in der Übertragung von Hans-Georg Gadamer, dem Fritz eins seiner letzten Gedichte widmet: Vergessen Sie nicht Heraklits Wort, / daß die Natur gewohnt ist, / sich zu verbergen): Du kennst seine Arglosigkeit / gegenüber den Menschen, / die ihn besinnungslos jagen. Schauderhaft die Vorstellung jener kleinhirnigen Jäger, katastrophal das Ende (nach letztem lyrischen Aufschäumen: Dem Wasser verdankt er alles) – wenn er strandetund erstickt, / weil seine Kräfte nicht reichen, / den Brustkorb zu dehnen –, an dem der steht, der dem Gedicht Der Wal den, mit ebenfalls drei Buchstaben analogen, unseligen Schattentitel gibt: Der Tod. (Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird. // Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden. / Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen. (Christoph Meckel, Rede vom Gedicht) —
Da
schleicht sich, unversehens, die paradoxe Dialektik (oxymoronische Aporie?) des Erdentreibens ins hübschhäßliche Spiel: To live is to die, to be awake is to sleep, to be young is to be old, for the one flows into the other, and the process is capable of being reversed, lese ich ein drittes Mal, nun in der englischen Version, in Heraklits Fragment 113. ¡Viva la muerte! rufen die Falangisten im spanischen Bürgerkrieg von 1936. Und Martin Luther dichtet im Kirchenlied Der Lobsanck (abgeleitet vom Notker I. zugeschriebenen Wechselgesang Media vita in morte sumus): Mytten wir ym leben synd / mit dem todt vmbfangen. In Walter Helmut Fritz’ Gedicht Der Wal pulsiert Lebenssaft (mitten im Tod behaupten sich im letzten Vers die beiden ›atmenden‹ Wörter Brustkorb und dehnen), Da-Sein wird – ob in Gesellschaft oder allein – gefeiert, einsetzend mit einer für Fritz so typischen antinomischen Wortkombination: dieser Felsen in Bewegung / und dann dieser Tanz, / den er mit andern zusammen / aufführt, ehe er wieder wandert, und aus wenigen Wörtern entwickelt sich eine hochdramatische Story, deren bitteren Ausgang das in Kombination mit dem Verb jagen sowie der Vorsilbe Arg– besonders bös wirkende Adverb besinnungslos unmißverständlich heraufbeschwört: Du kennst seine Arglosigkeit / gegenüber den Menschen, /die ihn besinnungslos jagen.
Klar
und unverblümt wie die Sprache ist auch die gute Botschaft des Gedichts (selbstredend wird der Botschaft kein Vorrang vor dem Formalen eingeräumt, sie schwingt, wie alle formalen, inhaltlichen, rhetorischen, sprachlichen, thematischen Elemente, die, ob augenfällig oder verborgen, die Struktur der Gedichtgestalt ausmachen, gleichsam als Zweitstimme in der musikalischen Grundierung des Gedichts mit): Hier wird, ohne direkte Anklage oder Moralansprache (beide sind im Gedicht fehl am Platz), mittels anschaulicher, bedachter, besonnener Darstellung an die menschliche Mitverantwortung im Hinblick auf Respekt vor dem ›experiment in progress‹ Leben, Wertschätzung aller in der Natur lebenden Wesen, behutsamen Umgang mit dem kreatürlichen Gewimmel im Füllhorn Welt appelliert. (Die Inuit Alaskas und Grönlands pflegen seit Jahrtausenden eine lebensnotwendige ›natürliche‹ Walfangtradition, die mit ›besinnungslosem‹ industrialisierten Jagen nichts zu tun hat.)
Es ist,
in der Tat, der traurig und wütend machenden Vorstellung vom jammerqualvoll verendenden Wal, der ohne das Element Wasser, dem er alles verdankt, nicht sein kann, zum Trotz, ein heller ›Waltag‹ geworden; zwischenzeitlich, gegen zehn Uhr, geht flatternder, singender Regen über der Wolfskaul nieder; tief einatmend, tief ausatmend, wandert der Blick durchs Fenster, dehnt sich in den Walnußbaum, dessen dunkelgrüne Fiederblättchen und schwarzschalige Nüsse in der Sonne glänzen. Fünf, sechs Hausrotschwänzchen hüpfen um den grauen Stamm herum. Sie könnten glatt Gedichten von Walter Helmut Fritz entsprungen sein, in denen – zwischen Meer und Sand, zwischen Baum und Borke, zwischen Licht und Schatten, zwischen Ruhe und Getöse, zwischen Kiesel und Kastanie, zwischen Paradies und Pandämonium, zwischen Tal und Berg, dem nachts Flügel wachsen, / weil er einige Stunden / woanders sein will – Aal ∙ Affe ∙ Amsel ∙ Antilope ∙ Biene ∙ Bitterling ∙ Borkenkäfer ∙ Büffel ∙ Chamäleon ∙ Chimäre ∙ Dachs ∙ Distelfalter ∙ Dohle ∙ Eichhorn ∙ Eidechse ∙ Eisbär ∙ Elefant ∙ Elster ∙ Ente ∙ Esel ∙ Fasan ∙ Fliege ∙ Floh ∙ Frosch ∙ Geier ∙ Girrvogel ∙ Glücksvogel ∙ Grille ∙ Hase ∙ Haubentaucher ∙ Hengst ∙ Huhn ∙ Hummel ∙ Hund ∙ Igel ∙ Insekt ∙ Käfer ∙ Kamel ∙ Katze ∙ Krähe ∙ Krebs ∙ Krokodil ∙ Lerche ∙ Libelle ∙ Lungenfisch ∙ Maultier ∙ Möwe ∙ Murmeltier ∙ Muschel ∙ Nachtfalter ∙ Natter ∙ Ochse ∙ Papagei ∙ Pavian ∙ Pechvogel ∙ Pferd ∙ Phönix ∙ Pleitegeier ∙ Purpurschnecke ∙ Qualle ∙ Rädertier ∙ Ratte ∙ Raubtier ∙ Raubvogel ∙ Regenpfeifer ∙ Salamander ∙ Schaf ∙ Schildkröte ∙ Schlange ∙ Schmetterling ∙ Schnecke ∙ Schwalbe (Heute noch denken wir: Schwalbe, / und schon beginnt sie zu fliegen) ∙ Schwan ∙ Seeschwalbe ∙ Seestern ∙ Skarabäus ∙ Skorpion ∙ Spaßvogel ∙ Spatz/Sperling ∙ Spinne ∙ Star ∙ Steckenpferd ∙ Steinkrebs ∙ Storch ∙ Taube ∙ Traumtier (beobachtet das langsame Vergehen der Steine) ∙ Unglücksrabe ∙ Vogelschwarm ∙ Wal ∙ Wasseramsel ∙ Wasservogel ∙ Wespe ∙ Zeitvogel ∙ Ziege sich tummeln. – – – Die Menschen / sprachen nur wenig. // Ein Schweigen gab das andere.
In memoriam Walter Helmut Fritz
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Walter Helmut Fritz (* 26. August 1929 in Karlsruhe; † 20. November 2010 in Heidelberg) studierte Philosophie, Literatur und neuere Sprachen an der Universität Heidelberg und war anschließend – von 1955 bis 1964 – als Lehrer für Französisch, Englisch und Deutsch an Karlsruher Gymnasien tätig. 1956 debütierte Fritz mit dem Gedichtbuch Achtsam sein. Bis 2008, der Neuausgabe von Herzschlag. Die Liebesgedichte veröffentlichte er eine große Zahl von Lyrik- und Prosatiteln (Gedichte, Prosagedichte, Prosa, Romane, Aufzeichnungen, Erzählungen, Essays, Theaterstück, Hörspiele) sowie Lyrik-Übertragungen aus dem Französischen. (Lese-)Reisen führten ihn u.a. nach Frankreich, Portugal, Spanien und in die USA. Für sein Werk erhielt Fritz seit 1960 mehrere Literaturpreise, so den Georg-Trakl-Preis (Salzburg 1992) oder den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (München 1995).
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Walter Helmut Fritz, Werke in drei Bänden, hrsg. von Matthias Kußmann, 2.400 Seiten, 3 Bände im Schuber, Leinen mit Schutzumschlag, Hoffmann und Campe, Hamburg 2009.
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.