Gedichte heute?

 

Die Überschrift klingt nach Volkshochschule oder Provinzfeuilleton; aber schon der erste Vergleich irritiert solche Erwartung. Wie Stauchung? Dieses Wort fehlt in den meisten Wörterbüchern. Der Grimm verzeichnet es mit der Einschränkung „in gewöhnlicher sprache nicht gebräuchlich. technisch knick- oder stauchungs-elasticität, widerstand eines axial belasteten stabes gegen das zerknicken oder zusammendrücken“. Also nicht Volkshochschule. Das technische Wort verspricht Irritation. In die gleiche Kerbe hauen andere auffällige Merkmale, Kleinschreibung (offenbar nicht konsequent), ein englischsprachiger Einschub; sodann harte Zeilenbrechung, sogar mitten im Wort, unbekannte Wörter (endig), Einmalkomposita: Magerlyrik, Speicherdecker, Wortwart und das seltsame Verb schockgenügen, Verfremdung bekannter Worte – endig kann man als solche auffassen, weiter unabhänger und diebstählern, ebenso „ahme durch“, wo „ahme nach“ erwartet wird. Der geneigte Leser versteht, unsere Vorstellungen werden düpiert, das Gedicht will nach Art „moderner“ Lyrik automatisierte Folien – der Grammatik, Interpunktion, Orthographie – ebenso durchbrechen wie solche der schulmäßigen Gedichtlehre. Das moderne Gedicht „heimelt nicht an, es erlaubt nicht, sich´s in einem Vers gemütlich zu machen, es nimmt den Leser nicht in ein Bewußtsein der Kommunikation, der Gemeinschaft mit dem Dichter auf.“ (Der ungeneigte Leser hört sowieso nicht zu, er liest lieber Eichendorff oder Rilke oder Eva Strittmatter und denkt sich sein Teil.)

Aber hat er nicht ein wenig recht? Zumindest auf einer Metaebene. „Das moderne Gedicht hat so´n Bart“, sagen viele – Enzensberger sagts doch auch. Schon in seinem „Museum der modernen Poesie“ steht, daß sich der „Kodex der modernen Poesie bereits derart verfestigt hat, daß sie geringeren Geistern erlernbar scheint, also ein epigonales Fortleben zeitigt“. (Wird man der anscheinend selbstverständlichen Hierarchisierung in große und kleine Geister kritisch nachgehen?) Einige Jahre später schreibt der eilige kluge Kopf seine jedem Germanistikstudenten vertrauten und meist einleuchtenden „Aporien der Avantgarde“ und bringt das Spottwort „Arrièregarde“ in Stellung. Die moderne Poesie ist über 100 Jahre alt und geringeren Geistern bis zum Erbrechen durchschaubar. Wahrlich, in Lyrik und anderen modernen Kunstformen wurde Walter Ulbrichts Slogan aus den sechziger Jahren vom „Überholen ohne einzuholen“ verwirklicht. 1960 macht Enzensberger die moderne Weltlyrik bekannt von Ungaretti, Jiménez und Przyboś über van Ostaijen, Desnos, Wolker bis Ekelöf, Seferis und Attila József.

Fragt sich der Germanistikstudent, von wievielen dieser Dichter er Texte gelesen, von wievielen wenigstens den Namen gehört hat? Fragt sich der Literaturwissenschaftler, wieweit sich sein Fach Enzensbergers 50 Jahre alter konjunktivischer Forderung stellte: „Wäre die Wissenschaft von der Literatur weniger an die Grenzen der Nationalsprachen gebunden, so fände sie hier eine ideale Spielwiese für ihre Forschungen“? Kennen Germanisten, die nach einem alten Bonmot „mager nisten“, die Namen und Texte von Nezval und Césaire?

Nach meiner Kenntnis trifft wenig davon zu. Ich will hier nicht leugnen, daß die Wissenschaft(en) von der Literatur sich von der konservativen geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der damaligen Germanistik weit entfernt haben. Auch weiß ich, daß sie seit Jahrzehnten Texte französischer und rumänischer, amerikanischer, karibischer und jeglicher anderer Autoren studieren. Allerdings nur Theorietexte – die poetische Weltliteratur ist uns ein Wort aus der Dichtungsgeschichte oder wir überlassen es den Komparatisten. Nein, wir haben es überholt ohne es durchzuarbeiten, mit Enzenbergers einige Jahre später erteilter Lizenz.

Was hat das mit diesem Text zu tun? Wir waren bei der Frage, ob er nicht zu berechenbar-„modern“ wirkt, Beispiel für Einführungskurse, Thema Verfremdungstechniken. (Äh, wieviele genau haben ihn schon mal gelesen?) Das Zitat über das nicht anheimelnde Gedicht stammt von Johannes Bobrowski, aus einem Vortrag von 1960, mitten in Ulbrichts DDR sprach er vor der Evangelischen Akademie über moderne Lyrik, die es damals dort kaum gab. Sein Publikum, Pfarrer, Studien-, Kirchenräte, hatten großteils kaum weniger Skepsis als der sächsische Parteichef. Ihnen wird es in aller Regel nicht anders gegangen sein als Hugo Friedrich, der in seiner „Struktur der modernen Lyrik“ freimütig bekennt, daß auch ihm bei Goethe wohler ist. Bobrowski versichert ihnen, eine so hartnäckige Erscheinung wie die moderne Lyrik werde sich kaum als Fehlentwicklung deklarieren lassen. Auch Enzensberger sprach im gleichen Jahr von der Irreversibilität eines Vorgangs.

Bobrowskis Text ging so weiter:

„Es ist beunruhigend, manchmal beängstigend, bedrohlich. Man kann an ihm das persönliche Ich des Dichters nur schwer, oft überhaupt nicht ablesen. Selbst wenn der Dichter sich selber im Gedicht einführt, wird er nicht faßbar.“

Lezteres mag uns weniger schrecken als das Publikum der Ulbricht- und Adenauerjahre. Wir fragen, wie es mit dem Beängstigungspotential des Textes aussieht. Ist das vielleicht eine Spur zu beschreib- und erwartbar?

Dieser Text ist eine Mystifikation. Ich habe den Wortlaut so genau wie möglich von einer visuellen Realisation abgeschrieben, einem Fragmentgedicht der aus dem Rheinland stammenden Angelika Janz, die es vor 20 Jahren ins Vorpommersche verschlug. Ich entnahm es dem vorm Jahr im Greifswalder freiraum-verlag erschienenen Band 1 einer auf drei Bände geplanten Werkauswahl: tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und Essays.

 

In der Mitte ein etwa 8 Buchstaben breiter Textausschnitt aus irgendeinem Szeneblatt. Die Wörter „Lyrik, unabhängig, Texten“ stechen hervor und besonders die Überschrift, die abweichend von der meist angewandten Arbeitsweise vollständig aus der Quelle übernommen wurde. Überschrift plus flüchtig ausgewählter, ohne Rücksicht auf Wortgrenzen ausgeschnittener Textstreifen wurden auf ein Blatt Papier geklebt. Dieser Textkern, Fragment eines Fremdtextes, wird jetzt zum Ausgangspunkt eines eigenen Gebildes. Mit Schreibmaschine oder Stempelset wird das Fragment zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Wichtig für die Arbeitsweise der Autorin Angelika Janz, die auch Bildkünstlerin und Performerin ist, daß die Grenzen zwischen Fremd- und Eigentext nicht kaschiert werden. „Das Fragmentgewordene zeigt seine Wunden, konzentriert um seine Verletzungen alle Energien, die aus seinem Kern schießen, um neue Haut bilden zu können.“ Zwei verschiedene Sprach- und Bewußtseinsschichten stoßen, prallen aufeinander, das neue Ganze prahlt nicht mit seiner Ganzheit. Verletzlichkeit statt Aura.

Janz‘ so entstandener Text ähnelt, wen wunderts, ihren „normalen“ Gedichten, die erstmals in größerem Umfang 1995 von Franzobel herausgegeben wurden. Ähnelt, nicht gleicht. In den Gedichten waltet Literarizität, Assoziationen, Figuren, Verfremdungen, oft arbeiten sie mit kaschierten Reimen. In den Fragmenttexten entsteht Literarizität aus dem Zusammenprall verschiedener Sprach- und Denkwelten, die visuelle Ebene arbeitet mit am Text, am „Wortwerk“. Für mich sind ihre Gedichte und ihre Fragment-„Texte“ zwei unterschiedliche literarische Gattungen. Zwar sagt sie zweifelnd in einem Fragmenttext: „Spätestens seit der Renaissance ist der Erfinder jeder literarischen Gattung entwachsen“ (Fettdruck steht hier für den Fremdtext), aber wenn man statt des globalen, anthropologischen, ahistorisch-systematischen Gattungsbegriffs den ursprünglichen Sinn wiederherstellt, nach dem Gattung als Gebrauchsform älter ist als „Literatur“ (Werner Kraus 1968), wird der Weg frei für Differenzierung. Angelika Janz arbeitet in Prosa, Bild, Hörstück und Aktion – wenn sie Gedichte macht, hat sie zwei Möglichkeiten. Die Gattung ist eine Weise der Produktion, Lebensweise, analog auch im Reproduzieren. Novalis – einmal als Beispiel genannt – konnte konventionelle Gedichte und Lieder, gereimt oder reimlos-nichtmetrisch, Prosa und Gedankenfragmente, in welch letzteren er andere Kunstformen erahnen konnte. Wir Neueren haben einen größeren Freiraum, die Chance, sich immer mal wieder neu erfinden zu können. Das ist ohne Emphase, Aura, Ideologie – Gattung als Produktionsform statt als Norm und Schublade. Steht aber seit ein paar Jahrzehnten unter Ideologieverdacht. Manchem tut sich die Schublade „Konkrete Poesie“ auf und wird schnell wieder zugeschoben. (Ich spreche jetzt vom zumindest potentiell wohlmeinenden Leser, der andre, der einfach-reflexhaft sagt „Alles schon mal dagewesen“ und nicht mitreflektiert, daß auch Denken, Sprache, Kunst und Literatur schon dagewesen sind, kann hier unberücksichtigt bleiben.) Statt in pauschalen Begriffen wie „Moderne“, „Avantgarde“, „Expressionismus“, „Surrealismus“ könnte man versuchen, genau zu werden. Unterscheiden, hinsehen, tun. Ihre künstlerischen Arbeiten und Essays tun das seit Jahrzehnten unbeirrt.

In Ausgabe 5 der Zeitschrift randnummer konnte man, kann man Arbeiten von 3 oder mehr Generationen von Schriftstellern vereint sehen, die Geburtsjahrgänge reichen von 1922 (Walter Höllerer) bis 1989. Fragmenttexte und andere visuelle Arbeiten von Angelika Janz stehen dort zwischen mit visuellen Mitteln arbeitenden unveröffentlichten Texten von Walter Höllerer aus den 60er Jahren und Texten von Norbert Lange, Niklas Lem Niskate, Jan Skudlarek und anderen, die verschiedene visuelle und andere Verfremdungstechniken einsetzen. Statt die Schublade „experimentell“ zu bemühen, wie es manche gelangweilte Kritiker, wohlwollend satte matte Verwalter eines Erbes taten, kann man hinsehen und unterscheiden. Ernst Jandl habe das letzte Wort:

Zerbrochen sind die harmonischen Krüge,
die Teller mit dem Griechengesicht,
die vergoldeten Köpfe der Klassiker …

aber der Ton und das Wasser drehen sich weiter
in den Hütten der Töpfer.

(„Zeichen“, 1953)

 

 

 

Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd