Die Sprache des Schriftstellers hat nicht die Aufgabe, das Reale darzustellen, sondern es zu bedeuten.
Roland Barthes
Seit Wochen herrscht Gegrummel in der Literaturbetriebskantine. Deutsche Schriftsteller suchen einen Weg durch die Multidimensionalität des Zeitgenössischen. Den Gemütszustand, das Leid der Überflußgesellschaft an sich selbst, packen dieser Schreiber so derart ergreifend in wortmöchtige Texte, daß jede erwachende Depression einen Abstecher in die Melancholie macht und dort vom Ausbruch absieht. Statt Kontrastfunken aus der Begegnung verschiedener Welten zu schlagen, unternehmen sie eine einvernehmliche Horizonterweiterung. Der Reihe nach:
„Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so brav und konformistisch?“ fragte sich Florian Kessler in der letzten Ausgabe der ZEIT. In der taz antwortet der Publizist Enno Stahl auf diese Polemik. Stahl geht das noch nicht weit genug. Die „Stromlinienförmigkeit der jungen deutschen Gegenwartsliteratur“ verdanke sich nicht nur einer Erfolgorientiertheit der Autoren. Mit Pierre Bourdieu argumentierend schreibt er:
„Sie ist Ergebnis ihres schichtenspezifischen Horizonts. Die Funktions- und Entscheidungsträger des literarischen Feldes, Autoren, Lektoren, Feuilletonisten, Angehörige von Preisjurys, Leiter von Literaturhäusern, sie bewegen sich alle in ein und demselben hermetisch abgeschlossenen gesellschaftlichen Teilsystem… Das ist keine Verschwörung, denn es gibt keine Verschwörer, sondern schlicht gemeinsame Interessenlagen, gemeinsame Wahrnehmungsweisen, ästhetische Vorlieben einer bestimmten Klasse.“
In der Jungle World meldet sich Jakob Hayner mit einem historisch geschliffenen Beitrag in der Debatte zur deutschen Gegenwartsliteratur zu Wort. Schon den Einstieg in die Debatte, Florian Kesslers Polemik in der Zeit, hält er für missglückt, da er sich nicht an einer Analyse, sondern an Identitäten klammert.
„Missglückt ist das, weil die Fragestellung verbindet, was in der Analyse unterschieden werden muss: Fragen der Ästhetik und der Soziologie. Wird diese Unterscheidung unterlassen, so wird Identität zum Ersatz der Analyse … Eine Analyse der Produktionsbedingungen der professionellen Autoren, das heißt derjenigen, die mit dem Schreiben das Geld zum Überleben und vielleicht noch zum Leben verdienen wollen, würde zeigen, dass – und zwar milieuunspezifisch – die Abhängigkeit vom Markt und den Verlagen enorm ist.“
In der FAZ ist Dietmar Dath sehr bestürzt nach Maxim Billers Ausbruch in der Zeit. Selbst ein typischer Vertreter der von Biller beschimpften „echten oder habituellen Christen, Kindern der Suhrkamp-Kultur und Enkeln von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten“, die „bestimmen, was gedruckt wird und wie“, möchte er ihm eigentlich recht geben und dann auch wieder nicht. Das Problem sei ja doch irgendwie größer, meint Dath und denkt an eigene Erfahrungen:
„Alles, was das fade, keinen unerwarteten nichtdeutschen Belastungen ausgesetzte Weißbrot an mir als Literatur herausfordert und in Frage stellt, kommt aus sozialen Begegnungen … Maxim Biller semmelt der Bewusstseinsindustrie eins rein, das ist seine Begabung, das kann und soll er. Aber die Zustände, die er ablehnt, reimen sich zu gut auf die Zustände in den Städten, an den Schulen, in den Parlamenten, als dass sie sich auf die Formate der Bewusstseinsindustrie werden stutzen lassen.“
Da 99 Prozent der Schriftsteller ständig darüber nachdenken, wie sie die Welt verbessern sollen und wie sie sich einschmeicheln sollen bei den sogenannten Lesern, schreiben´s alle schlechte Bücher, die kein Mensch interessieren.
Thomas Bernhard über Handke und Canetti
Nach den weißen, mitteleuropäischen Mittelalterlichen Männern bringt Anja Seeliger im Perlentaucher einen anderen Klang in die Debatte um die deutsche Gegenwartsliteratur ein.
„Die teilweise erstickende Uniformität und Leere im deutschen Kulturbetrieb ist genau den Bürgerkindern geschuldet, die sich jetzt die Stellen und öffentlichen Gelder teilen“, schreibt Seeliger und verweist auf jene Generation von Autoren, die in den fetten Jahren des Jahrtausendwechsels auf ihre Posten kamen und dann von der Zeitungskrise verschreckt wurden:
„Freie Autoren, und das heißt auch: Autoren, die nicht aus Milieus stammen, die einem lange Zeit quasi automatisch Redakteursstellen sicherten, wurden mehr und mehr verdrängt. Wenn es jetzt eine Debatte gab, schrieb nicht mehr der freie Publizist, sondern der Herr Redakteur, der so der Geschäftsleitung seine Unentbehrlichkeit beweisen konnte. Die Feuilletons sind inzwischen fast so gleichförmig wie die Meinungsseiten, wo auch immer nur die selben vier Redakteure schreiben. Müssen diese Autoren wirklich noch einmal den alten Graben zwischen Realismus und Formalismus, zwischen angeblicher Authentizität und angeblich weltfremdem Schreiben wieder aufreißen?
Totholzfeuilleton
All diese Auszüge aus dem Totholzfeuilleton dokumentieren: nie war die deutsche Literatur so selbstreflexiv wie heute. Das ästhetische und moralische Problem wird zu einem kulturellen und ideologischen Problem. Zugespitzt läßt sich sagen: Diese Literatur ist die dem Kapitalismus gegenüber opportunistischste Kunstform überhaupt. Seine Protagonisten wollen mitnichten eine andere Welt, sie wollen ihren Teil von dieser, und zwar einen möglichst großen. Auf dem Weg dahin nehmen diese Autoren die Merkmale der beiden wesentlichen massenbewußtseinsprägenden gesellschaftlichen Sphären der Gegenwart ernst: aus der Kunst die Selbstverständlichkeit, sich keinen Regeln fügen zu müssen, und aus dem Sport den Behauptungswillen um beinahe jeden Preis. Der Literaturstar des 21. Jahrhunderts ist ein gläserner Autor, blickt man durch den Stream in ihn hinein, erkennt man die gleichen ungeschönten Zweifel, Ängste und Hemmungen wie bei allen anderen auch.
Die Solidarität der Solitäre
Die Gründer der Edition Das Labor haben daraus vor fünf Jahren die Konsequenzen gezogen, sie interessieren sich für Kunst, die nicht illustriert, sondern anders politisch relevant ist, es sind Künstler, die sich für Lebensentwürfe und das Zusammenleben interessieren und nicht für standardisierte Wege. Bei diesem Netzwerk sind grundlegende Werte die Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Demokratie, Gleichheit und Solidarität. Die beteiligten Artisten sollten auf die ethischen Werte Ehrlichkeit, Offenheit, Sozialverantwortlichkeit und Interesse an anderen Menschen vertrauen. Der Sinn der Edition Das Labor liegt darin, dass sich Künstlergruppen aus unterschiedlichen Regionen zusammenschließen und dem herrschenden Kulturbetrieb etwas Eigenes entgegensetzen. Diese Art zu arbeiten befreit die Gründer der Edition Das Labor von der Massenidentität, die in der globalisierten Gesellschaft entsteht.
Im diesem Versuchs-Labor entstehen Arbeiten, die keinem Kalkül und keiner Mode gehorchen, keiner Preislogik folgen und auch nicht den Wünschen von Lektoren oder den Plänen von Kuratoren. Diese Artisten machen keine Kunst, um Antihelden einer Subkultur zu sein, sondern vor allem, um die Sinngebung durch Kunst zu retten, um als Individuen zu überleben.
Ausführliches über das Konzept der Edition Das Labor.