Dich habe ich schon als Vierzeller gekannt.
Helena Angermaier
Nachdem der Literaturbetrieb erst kürzliche eine Sau durch das Dorf getrieben hat, folgt der nächste Skandal auf dem Fuß. Am vergangenen Sonntag ließ Sibylle Lewitscharoff in einer Rede ihre Abscheu vor künstlicher Befruchtung freien Lauf. Hier findet sich die Rede zum Nachhören. Das Schauspielhaus hat sich inzwischen in einem Offenen Brief von Lewitscharoff distanziert. KUNO dokumentiert die Reaktionen, weil sie einen Einblick in die Geisteswelt einer selbsternannten Elite geben, die über Kultur befindet und richtet.
Das Echo folgte erst unter der Woche, als Dirk Knipphals in der taz geplättet von der Rede war, die Sibylle Lewitscharoff im Dresdener Schauspielhaus über „Geburt und Tod“ hielt. Sie plädierte für ein Onanieverbot, fand die Samenspende „abscheulich“ und „grotesk“ und jede Form von künstlicher Befruchtung „derart widerwärtig…, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinem Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“. Dagegen kämen ihr „die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor“, zitiert Knipphals die Büchner-Preisträgerin und fragt: „Sind solche Abwertungen von Kinderwünschen, von elterliche Liebe und von Kindern eigentlich christlich? Wie religiöser Fundamentalismus ins Menschenfeindliche umschlagen kann, das kann man an dieser Rede jedenfalls gut studieren.“
Stefan Niggemeier ist entsetzt, und nicht nur über Lewitscharoffs Rede: „Ungeheuerlich ist auch, was danach passierte: fast nichts. Es gab keinen Aufschrei, keine bestürzten Reaktionen im Literaturbetrieb, der Sibylle Lewitscharoff seit Jahren mit Preis um Preis auszeichnet“.
Im Feuilleton der FAZ erhält die mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Autorin in Form eines Gesprächs viel Raum, um ihre Thesen zu relativieren, aber auch zu bekräftigen: Sie beruft sich im wesentlichen darauf, dass die Rede bloß einen Gedankengang protokolliere, nicht aber ohne weiteres als verbindliche Aussage zu verstehen sei. Den Ausdruck „Halbwesen“ etwa will sie nicht zurücknehmen, aber ganz so gemeint war es auch nicht: „Ja, der Gedanke durchfährt mich, fast wie ein Blitz, das wird man doch sagen dürfen. Aber natürlich hat das für den Umgang mit einem solchen Kind keinerlei Folgen. Das Kind kann nichts dafür, das habe ich in meiner Rede gesagt. Man wird doch einmal einen schwarzen Gedanken äußern dürfen, oder nicht? Wie oft sagt einer ‚Ich bringe meinen Nachbarn um‘ und tut es nicht.“
Im ZDF-Morgenmagazin hat sie sich mittlerweile etwas deutlicher ausgedrückt: „Ich würde diesen Satz [zu den ‚Halbwesen‘] sehr gerne zurücknehmen. Es tut mir wirklich leid, der ist zu scharf ausgefallen.“
Der Welt verrät sie unterdessen: „Meine Polemik richtete sich dagegen, die Männer bei der Erziehung von Kindern nicht zu beteiligen, in ihnen nur Samenspender zu sehen und nichts weiter.“
„Willkommen zurück im Mittelalter“, meint da nur Richard Kämmerlings in der Welt. Lewitscharoffs Rede hält er für menschenverachtend an der Grenze zur Volksverhetzung. Und er spannt die Perspektive weiter auf: „Es mehren sich die Anzeichen für einen neuen Kulturkampf … Während Matussek auf der unbezweifelbaren Tatsache besteht, dass Schwule nun mal – auf ’natürliche Weise‘ – keine Kinder kriegen können, sekundiert Sibylle Lewitscharoff jetzt damit, dass auch die Lesben, die sich eine befruchtete Eizelle einpflanzen lassen, wider die (gottgegebene?) Natur des Menschen handeln. Die einen können nicht, die anderen sollen nicht.“
Ihr Berufskollege John von Düffel erhebt in einem Brief in der Welt schwere Vorwürfe: „Genauso wie die Herkunft, das Geschlecht oder die Rasse eines Menschen nicht zu seiner Abwertung oder Diskriminierung führen darf, darf auch nicht die Art und Weise der Erzeugung und Entstehung menschlichen Lebens zu seiner Diskriminierung missbraucht werden. … [Du] überschreitest in Deiner Widerwärtigkeitspolemik tatsächlich die Grenze des Respekts vor allem menschlichen Leben, die den zweifellos vorhandenen medizinischen Machbarkeitswahn als einzige im Zaum hält, und demontierst so die Werte, auf die Du Dich in Deiner ‚Abscheu‘ berufst.“
In ihrer Zusammenfassung der Rede für die Berliner Zeitung konstatiert Sabine Vogel: „Was ihre schräg verzwirbelten Romane mit religiöser Spinnerei und fantastischem literarischem Wahnsinn auflud, driftete in Lewitscharoffs Dredner Sonntagsrede (…) plötzlich in christlichen Fundamentalismus ab.“
In der taz ist Jan Feddersen fassungslos darüber, dass Lewitscharoff ihre Rede in Dresden ohne Widerspruch halten konnte und erst gestern ein online veröffentlicher taz-Artikel von Dirk Knipphals den Skandal ins Rollen gebracht hatte.
Sehr fassungslos auch Georg Diez auf Spiegel Online: Für ihn ist Lewitscharoffs Auftritt symptomatisch für die „demokratiefeindliche Muppetshow unserer Tage, die immer mehr bevölkert wird von reaktionären Knallchargen.“ Konkret spricht er alle an, die die Autorin bislang mit Stipendien und Auszeichnungen versehen haben: „Wie stehen sie zu einer Schriftstellerin, die bestimmte Menschen als ‚Halbwesen‘ bezeichnet?“
Sehr enttäuscht ist auch Lewitscharoffs englische Übersetzerin Katy Derbyshire. In ihrem Blog Love German Books schreibt sie:
„Of course, every right-minded reader in Germany is up in arms that an award-winning writer could push such a fundamentalist agenda, and the kindest conclusion is that the writer herself is not in her right mind. Perhaps the only consolation, for me, is that said writer is one of the few of those I’ve translated who probably doesn’t even remember my name.“
In der FAZ meint Sandra Kegel, dass Lewitscharoff „tatsächlich Grenzen überschritten hat, die man in unserer Gesellschaft seit Gründung der Bundesrepublik für unüberschreitbar gehalten hatte: Zumindest darüber, was einen Menschen ausmacht, glaubte man nicht mehr diskutieren zu müssen, auch nicht darüber, wer ganz zu uns gehört und wer nur ‚Halbwesen‘ ist, mit welchen Konsequenzen auch immer.“ Und in der SZ erinnert Andreas Bernard die Schriftstellerin daran, dass die Nazis künstliche Befruchtung „schroff ablehnten“: „Es gehört zum Verhängnisvollen solcher Polemiken, dass ihre Verfasser oft nicht wissen, in welchen historischen Allianzen sie sich bewegen.“
Den bösten Artikel schrieb selbstverständlich Sibylle Berg über ihre Co-Sibylle in SPON:
„Aus welchen Gründen drehen eigentlich alle gerade durch? Es geht um die Schriftstellerin L., die vermutlich nicht hervorragend vom Verkauf ihrer Bücher, dennoch aber prächtig von Preisen leben kann. Die sie, einmal in den Preisverteiler geraten, jährlich mehrfach bekommt. Och, nehmen wir doch die L., die haben Dings und Bums auch genommen, kann ja nicht schlecht sein.“
Dirk Knipphals dankt Lewitscharoff in der taz zwar dafür, dass sie sich für den Ausdruck „Halbmenschen“ entschuldigt hat, er insistiert aber weiter darauf, dass es „keineswegs eine linke, spinnerte oder perverse Forderung [ist], Sexualität so auszuleben, wie man es kann und möchte – im Rahmen der Verhandlungsmoral unter sexuellen Subjekten (…). Das ist schlicht die Normalität in einem liberalen Rechtsstaat.“ Und Ingo Arend sieht Lewitscharoffs Rede als Bestandteil eines „längst nicht beendeten Kulturkampfs. Den die Verfechter des Normalen, Natürlichen gegen die Abweichler und Unreinen führen.“
In der Welt plädiert Ulf Poschardt ungelassen für Gelassenheit, beziehungsweise hysterisch für weniger Hysterie: „Die jakobinische Galligkeit jüngst gegen Sibylle Lewitscharoff, der dahinter schimmernde Intoleranzismus, hat eine klerikale Facette erhalten, die zunehmend enthemmt eine Diktatur des Mainstreams für sich entwirft. Tabus, Sprechverbote, Denksperrgebiete entstehen und werden abgezäunt.“
In der SZ sieht Jens Bisky in der Rede einen „Beitrag zur Vulgarisierung des Landes mittels lustvoll zelebrierter Diffamierung“. Und er betont: „Die Aufnahme der Rede endet mit Beifall, Buh-Rufe sind nicht zu hören.“
Über einige der Thesen von Lewitscharoff könne man durchaus reden, meint Angela Leinen in ihrem Blog. Empörend findet sie aber, mit welcher Respektlosigkeit Lewitscharoff die Fragen auf die Tagesordnung bringt: „Es ist ein Unterschied, ob man diesen Eltern und Kindern ins Gesicht spuckt oder ob man berechtigte Fragen zu den Grenzen des Machbaren stellt.“
In der Zeit verspricht David Hugendick unterdessen gehorsam, „die Hände über der Bettdecke“ zu lassen, während in der gleichen Zeitung Jo Lendle mit seiner christlichen Kollegin zu Gericht geht.
Es besteht kein Anlass aus allen Wolken zu fallen, Lewitscharoff bewege sich mit ihrer Dresdner Rede durchaus auf Höhe ihrer literarischen Werke, meint Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. In der Berliner Zeitung versucht Dirk Pilz, die Autorin mit noch größerer Gottesfurcht matt zu setzen: Sie positioniert sich so „als vermöge sie, was christlich gedacht einzig Gott vorbehalten ist, nämlich festzusetzen, was den Mensch zum Menschen macht.
Zur Versachlichung empfiehlt KUNO einen Artikel des SZ-Magazin dort berichtet die Embryologin Helena Angermaier, die das Verfahren der „Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion“ (ICSI) mitentwickelt und auf diesem Weg rund 10 000 Kinder gezeugt hat, in einem Interview mit Andreas Bernard von ihrer Arbeit. Dabei bekennt Angermaier, daß sie die fehlende Langzeiterfahrung durchaus beunruhigt:
„Ich bin ja kein Befruchtungsautomat, sondern ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen, und ich frage mich immer noch oft: Was passiert eigentlich wirklich in der Eizelle, wenn ich in sie hineinsteche? Ich mische doch das ganze Zytoplasma durcheinander!“ Trotzdem ist sie mit ihrer Lebensleistung im Reinen: „Tausende von Kindern im Labor zu zeugen ist mir einfach lieber, als ein einziges eigenes zu haben. Ich sage das zuweilen auch ganz offen: dass mir Kinder am sympathischsten vor dem fünften Lebenstag sind. Da kann ich sie in den Brutschrank stellen, und sie sind still. Wenn meine Patienten dann später mit ihren Neugeborenen in der Praxis vorbeischauen, freue ich mich natürlich schon, weil ich meinen beruflichen Erfolg in dem Moment ganz anschaulich vor mir sehe. Dann sage ich meinen Standardspruch: ‚Dich habe ich schon als Vierzeller gekannt‘, und diese Tatsache wird ihre Faszination nie verlieren.“
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.